Die Raumsonde Gaia - beispiellos und beispielhaft

Ab 2016 wird das vielleicht wichtigste Teleskop im Weltraum Daten hoher Qualität liefern

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Das vielleicht wichtigste Teleskop im Weltraum wird bald erste Ergebnisse liefern. Die Menge und Qualität von Sternpositionen bis weit in die Milchstraße, aber auch darüber hinaus, verspricht einzigartig zu sein. Aber auch methodisch könnte die Raumsonde zeigen, wie gute Wissenschaft funktioniert.

Auch in der Astronomie ist das Einfachste oft das Beste. Das Beobachten der Sternparallaxe, eine kleine Winkelverschiebung der Position durch Änderung des Beobachterstandpunkts, ist die verlässlichste Entfernungsmessung der Astronomie. Was das menschliche Auge intuitiv beim Stereosehen verarbeitet, hat die Raumsonde Gaia (Ursprung: Globales Astrometrisches Interferometer für die Astrophysik) zu technischer Perfektion gebracht - wobei sie als "Augenabstand" den Durchmesser der Erdbahn verwendet.

Die Raumsonde Gaia, derzeit im Lagrange-Punkt 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt. Bild: Esa

Natürlich muss man für große Distanzen im Kosmos auf andere Methoden zurückgreifen, zum Beispiel um uns die typischerweise Milliarden Lichtjahre Entfernung der Galaxien erkennen zu lassen. Jedoch sind alle anderen Methoden von Annahmen abhängig, die sich in der Geschichte der Astronomie oft schon als dramatisch falsch herausgestellt haben - so unterschätzte Edwin Hubble, der Pionier der Kosmologie, die Größe des Universums fast um den Faktor zehn.

Zudem müssen sich alle anderen indirekten Entfernungsmessungen auf die Qualität dieses allerersten Blicks ins Universum durch die Parallaxenmessung verlassen - Astronomen nennen sie daher die "erste Sprosse" der "Entfernungsleiter". Die Idee, von einer Raumsonde aus die Sterne präzise zu vermessen ist nicht neu - schon vor zwanzig Jahren hatte der Satellit Hipparcos bedeutende Erkenntnisse geliefert. Benannt war er zu Ehren des griechischen Astronomen Hipparch von Nikaia, der auf die gleiche Weise schon die Entfernung zum Mond bestimmt hatte.

Eine Haaresbreite auf die Distanz München - Hamburg

Im Vergleich zu den Gaia-Daten wirkt der Satellit Hipparcos aber fast wie ein Spielzeug. Die Genauigkeit hat sich nochmals dramatisch verbessert, bis auf zwanzig Mikrobogensekunden, das entspricht etwa einer Haaresbreite auf die Distanz München-Hamburg. Das hat zur Folge, dass man etwa hundertmal so weit in die Tiefen des Weltalls sieht und die phantastische Zahl von einer Milliarde Sterne kartieren will - erstmals ein signifikanter, ja repräsentativer Teil unserer Milchstraße.

Was nach Rekordjagd klingt, birgt jedoch auch neue Qualitäten: Erstmals kann man sich neben den Positionen auch ein genaues Bild der Bewegungen von Sternen machen - ein ganz entscheidendes Element, um die Dynamik von Galaxien zu verstehen, die seit Jahrzehnten Rätsel aufwirft, die unter dem Namen "Dunkle Materie" bekannt sind. Schließlich wird die Genauigkeit ausreichen, um die Positionsveränderungen von Galaxien außerhalb unserer eigenen zu beobachten. Und auch Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie wird sich einer neuen Überprüfung stellen müssen.

Gaia-Kalibrationsaufnahme von NGC1818. Bild: ESA/DPAC/Airbus DS

Bringt das was? Ja.

Als Skeptiker darf man in der modernen Wissenschaft durchaus fragen, was denn von dem Genauigkeitsgewinn als reale Erkenntnis übrig bleibt. Auch die Teilchenphysik ging mit dem Large Hadron Collider am CERN ja an beeindruckende technologische Grenzen und behauptete, mit dem Higgs-Teilchen das Rätsel der Masse gelüftet zu haben (mehr dazu: Quo vadis, Teilchenphysik?).

Gute Wissenschaft ist aber nicht zielgerichtete Suche nach etwas theoretisch Erwünschtem, sondern die unvoreingenommene Analyse des Beobachteten. Gaia zeichnet sich gerade dadurch aus, dass wenig vollmundige Versprechungen gemacht werden, was die Mission konkret entdecken wird. Das ist vernünftig, denn bedeutende wissenschaftliche Fortschritte, ja Revolutionen waren vor allem immer eines: unerwartet und unangekündigt.

Es lohnt sich, noch etwas weiter zu vergleichen. Letztlich bestand die experimentelle Idee der Hochenergiephysik am CERN auch nur darin, immer mehr Ereignisse mit höherer Energie aufzuzeichnen (auch wenn das kaum so zugegeben wurde). Dabei wurden aber so viele Daten produziert, dass ein unglaublicher Anteil von über 99,99 Prozent weggeworfen werden muss. Man richtet den Blick durch dieses "Triggern" nur auf das, was das Modell als vermeintlich interessant vorgibt - vielleicht sind aber auch die eigentlichen Sensationen als Datenmüll entsorgt worden.

Glücklicherweise ist die Astrophysik nicht in dieser misslichen Lage - die Datenmengen gehen zwar an die Grenze des sinnvoll zu Verarbeitenden, aber nicht darüber hinaus. Denn gerade die Darstellung der Ergebnisse unabhängig von einem theoretischen Modell ist ein großer Schatz, der Gaia zu einem unvergleichlich wertvollen Projekt macht. Nur halb im Scherz bemerkte der Astronom David Hogg aus New York, man solle nun die anderen Teleskope schließen und sich auf die Auswertung von Gaia konzentrieren. Es wird eine einmalige Chance für kreative Geister sein, ihre Ideen zu testen.

Modellunabhängig und transparent

Das Beste an Gaia ist jedoch die öffentliche Zugänglichkeit der Daten - jedenfalls verspricht dies der Leiter des Heidelberger Gaia-Teams, Dr. Ulrich Bastian. Natürlich ist eine immense Vorverarbeitung der Rohdaten notwendig, um die Aufnahmen des rotierenden Teleskops in eine Himmelskarte zu übersetzen, die die Sternpositionen mit ihrer Eigenbewegung schließlich anzeigt. Wenn dies aber in der gleichen Weise gelingt, wie etwa bei Projekt SDSS ( Sloan Digital Sky Survey), wird der Nutzen immens sein.

SDSS, das ebenfalls nur eine komplette Kartierung des Himmels ohne besonderen Zweck lieferte, hatte eine ungeahnte Anzahl von Entdeckungen und Fachartikeln zur Folge, in der auch unabhängige Forscher die Daten auswerten konnten. Auch hier unterscheidet sich die Astrophysik wohltuend von der Teilchenphysik, in der immer betont wird, die Rohdaten könnten nicht veröffentlicht werden, weil nur die Fachleute sie verstünden.

So wird Gaia trotz kleinerer technischer Probleme ab 2016 nicht nur Daten hoher Qualität liefern, sondern vielleicht auch neue Standards für die Überprüfbarkeit setzen - ein unabdingbares Merkmal von Wissenschaft, auf das keinesfalls immer genug Augenmerk gelenkt wird.

Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Sein Buch "Vom Urknall zum Durchknall" wurde 2010 von "Bild der Wissenschaft" als Wissenschaftsbuch des Jahres ausgezeichnet, zwei seiner Bücher sind auch auf Englisch erschienen. In seiner Kolumne "Hinterfragt" bei Telepolis greift er mit einem kritischen Blick Themen rund um die Physik auf.