Eine Million dopt regelmäßig am Arbeitsplatz

Vom DAK-Gesundheitsreport aufgedeckte Muster des Medikamentenkonsums widersprechen verbreiteten Klischees

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Führende Ethiker und Rechtswissenschaftler setzen sich international gegen zusätzliche Regulierung des Neuroenhancements ein. Neuere Studien deuten jedoch daraufhin, dass die Konsumenten in der Arbeitswelt vor allem auf Anpassungsdruck reagieren oder Stresskompensation betreiben. Der Nutzen der Mittel ist dabei umstritten. Die seit mehr als zehn Jahren anhaltende Diskussion um das Gehirndoping könnte stattdessen eine Reaktion auf zunehmenden Leistungsdruck darstellen. Da Lösungen vor allem im Individuum gesucht werden, verschwinden gesellschaftliche Alternativen aus dem Blick.

Nach dem DAK-Gesundheitsreport 2009 (PDF), befasst sich Deutschlands drittgrößte Krankenkasse erneut mit dem Phänomen Doping am Arbeitsplatz. Für den am 17. März erschienenen Gesundheitsreport 2015 (PDF) wertete die DAK ihre Verordnungsdaten für Medikamente aus, befragte rund 5000 Erwerbstätige sowie eine Expertengruppe.

Im Fokus der Untersuchung stand das sogenannte pharmakologische Neuroenhancement. Dabei geht es vor allem um den Gebrauch verschreibungspflichtiger Medikamente, um besser am Arbeitsplatz zu funktionieren. Laut der DAK-Studie erhoffen sich Konsumenten durch die Stimulanzien Methylphenidat und Modafinil eine Verbesserung der Gedächtnisleistung und Wachheit; die Antidementiva Piracetam und Memantin würden ebenfalls für ein besseres Gedächtnis genommen; bei Antidepressiva, vor allem mit dem Wirkstoff Fluoxetin, stehe hingegen die Stimmungsaufhellung aber auch ein verträglicheres Sozialverhalten im Vordergrund; Betablocker schließlich würden zum Abbau von Stress, Nervosität und Lampenfieber genommen.

Wunschdenken und pharmakologische Ernüchterung

Dieser Wunschzettel des Neuroenhancements könnte jedoch wenig mit der psychopharmakologischen Realität zu tun haben. Bereits 2010 wurde etwa in der tonangebenden Wissenschaftszeitschrift Science berichtet, dass sich stets mehr Unternehmen aufgrund schlechter Erfolgsaussichten und hoher Kosten aus der Medikamentenentwicklung zurückziehen. Selbst führende Forscher klagten über Schwierigkeiten, ihre psychopharmakologischen Experimente finanziert zu bekommen. Die Versprechen im Zusammenhang mit neuen Technologien der Neurowissenschaften oder der Genetik, neue Mittel zur Behandlung von Depressionen, Schizophrenie oder Alzheimer seien zum Greifen nah, bewahrheiteten sich in der Regel nicht (Demenz: Keine Medikamente in Aussicht).

Entsprechend nüchtern äußerten sich auch die von der DAK befragten Expertinnen und Experten: Die untersuchten Medikamente zeigten, wenn überhaupt, nur kurzfristige und minimale Effekte auf die geistige Leistungsfähigkeit; demgegenüber stünden hohe gesundheitliche Risiken. Erst vor kurzem habe ich hier selbst neue Forschungsergebnisse zusammengefasst, denen zufolge auch Stimulanzien wie Methylphenidat und Amphetamin eher die Antriebskraft und Motivation zur Leistung steigern (Kapitalismus und psychische Gesundheit). Damit verschwimmt die häufig gezogene Grenze zwischen Stimmungsaufhellung und geistiger Leistungssteigerung.

Häufigkeiten - und ihre Interpretation

Der eher geringe Nutzen könnte erklären, dass mehr als zwei Drittel der Befragten, die in ihrem Leben schon einmal pharmakologisches Neuroenhancement betrieben haben, dies nicht mehr oder nicht regelmäßig tun: Von den rund 5.000 Erwerbstätigen im Alter von 20 bis 50 Jahren gaben 6,7% an, es mindestens einmal im Leben ausprobiert zu haben; 3,2% berichteten mindestens einen Versuch innerhalb der letzten zwölf Monate; 1,9% gaben an, mindestens zweimal im Monat zu den Pillen zu greifen. Dieser Konsum wird im DAK-Bericht dann als "regelmäßig" bezeichnet, was in der Praxis freilich noch einen großen Interpretationsspielraum übrig lässt.

Die Mehrheit der Medien bauschte diese Zahlen übrigens zu einer Sensationsmeldung auf: Drei Millionen Beschäftigte nähmen leistungssteigernde oder stimmungsaufhellende Mittel. Verglichen mit dem Bericht von 2009 sei der Konsum stark angestiegen. Einschließlich einer Dunkelziffer ist stellenweise gar von fünf Millionen Konsumenten die Rede. So berichtete auch die Tagesschau: "Knapp drei Millionen eigentlich gesunde Beschäftigte greifen demnach zu Medikamenten." Und weiter: "Und so sind es schätzungsweise mindestens drei Millionen Arbeitnehmer, die sich mit Pillen für ihre Arbeit dopen."

Diese ausdrücklich von der Pressemitteilung der DAK suggerierte Darstellung unterschlägt, dass mehr als zwei Drittel derjenigen, die nur eine oder einige wenige Erfahrungen mit Gehirndopingmitteln machen, damit von selbst wieder aufhören. Die 2009 im Gesundheitsreport berichteten 1 bis 2% regelmäßigen Nutzer sind mit dem aktuellen Ergebnis vergleichbar. Der neue Bericht fügt jedoch interessante Erkenntnisse zu, beispielsweise zu Gruppenunterschieden.

Männer und Frauen, jung und alt

Während sich Männer (6,5%) und Frauen (6,9%) kaum bei der absoluten Häufigkeit unterscheiden, entsprechen die Präferenzen für Neuroenhancement-Mittel stereotypischen Rollenbildern: So überwog bei Männern der Konsum der vermeintlichen Leistungspillen (4,0% gegenüber 2,5%), bei Frauen hingegen derjenige der angeblichen Stimmungspillen (5,5% gegenüber 4,1%).

Auffällig ist ebenfalls ein Unterschied zwischen den Altersgruppen: Während die Angaben, nun bezogen auf die letzten zwölf Monate, zur Leistungssteigerungen über die Gruppen hinweg relativ konstant blieben (1,4% für 20- bis 29-Jährige zu 1,7% für 40- bis 50-Jährige), stieg bei den ältesten Befragten die Verwendung zur Stimmungsverbesserung deutlich an (1,3% für 20- bis 29-Jährige gegenüber 2,8% für 40- bis 50-jährige). Damit sind die 40- bis 50-Jährigen auch insgesamt die häufigsten Konsumenten pharmakologischem Neuroenhancements.

Stressbewältigung statt Selbstoptimierung

Diese und weitere Befunde deuten darauf hin, dass es sich beim Doping am Arbeitsplatz eher um Stressbewältigung als um freiwillige Selbstoptimierung handeln könnte: So nannten die 333 Erwerbstätigen, die jemals Neuroenhancement betrieben haben, vor allem Medikamente gegen Angst, Nervosität und Unruhe (60,6%) sowie Medikamente gegen Depressionen (34,0%; Mehrfachnennungen möglich) als verwendete Substanzen. Die zuvor genannten Betablocker (11,1%) und Stimulanzien (9,5%) wurden vergleichsweise selten erwähnt.

Ferner gab es auch einen Unterschied im Zusammenhang mit dem (Aus-)Bildungsniveau: So gaben 8,5% der an-/ungelernten Erwerbstätigen beziehungsweise derjenigen mit einfacher Tätigkeit an, schon einmal im Leben Neuroenhancement ausprobiert zu haben. Bei den gelernten/qualifizierten waren es 6,7%, bei den hochqualifiziert/gehobenen 5,1%. Als Risikofaktoren identifiziert der DAK-Bericht: Arbeit, bei der kleine Fehler große Folgen haben; Anforderungen an die Gefühlsregulation, insbesondere gegenüber Kunden; ein einfaches Tätigkeitsniveau; Arbeitsplatzunsicherheit; Arbeit an der Grenze der eigenen Leistungsfähigkeit.