Zwischen Athen und Brüssel herrscht Funkstille

Stinkefinger-Fake hin und her, den Menschen in Griechenland geht es dreckig

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Auf einem Krisengipfel soll geklärt werden wie es weitergeht. Auf der Strecke bleibt mal wieder die Bevölkerung. Es folgt eine aus Sicht eines Bewohners Athens geschriebene Sammlung der Eindrücke der letzten Tage.

Athen hat nach Ansicht der Kreditgeber mit einem hinsichtlich der Einzelartikel erst nach Mitternacht der Nacht von Mittwoch auf den heutigen Donnerstag abgesegneten sozialen Notprogramm) gegen die Sparauflagen verstoßen (Alexis Tsipras: "Wir errichten eine Mauer der Souveränität!"). In der Folge protestierte die früher Troika genannte Vereinigung der Institutionen und zog je nach Lesart ab oder wurde vor die Tür gesetzt.

Bild: W. Aswestopoulos

In einem Siebenertreffen soll nun die Kommunikation wieder hergestellt werden. In Brüssel werden heute der Präsident des EU-Rats Donald Tusk, EU Kommissionspräsident Jean Claude Juncker, Eurogruppenchef Jereon Dijsselbloem, EZB-Chef Mario Draghi, Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Staatspräsident Francois Hollande auf Premierminister Alexis Tsipras einreden.

Die sechs Führungspolitiker der EU möchten dem widerspenstigen griechischen Premier offensichtlich die Leviten lesen. Sie alle sehen in den Sozialmaßnahmen, mit welchen Tsipras den absolut einkommenslosen Bewohnern des Landes etwas die Not lindern möchte, "einseitige Maßnahmen, welche den Haushalt belasten." Wie gering die Kosten der kurzfristigen Sozialhilfe sind, zeigt die Rechnung der Opposition. Jeder der vollkommen Mittellosen, also nicht nur die Griechen, sondern auch Immigranten, hat eine Chance, 200 Euro pro Jahr zu erhalten. Die insgesamt 200 Millionen Kosten für das Ganze sind knapp 0,1 Prozent des BIP. Es ist jedoch unklar, ob es überhaupt zur Auszahlung kommt.

Fakt ist, Griechenland geht innerhalb der nächsten Tage das Geld aus. Giannis Dragasakis, der griechische Vizepremier, betonte, dass Griechenland seit dem vergangenen August sämtliche Verbindlichkeiten erfüllt, aber im Gegenzug weder die zugesicherte Kreditrate noch die Dividende der EZB erhält. Der frühere Premier Griechenlands, Antonis Samaras wittert daher Oberwasser und spielt sich als mahnender Prophet auf, "die Zeit geht aus", sagt er.

Fakt ist aber auch, dass Antonis Samaras ebenso wie er es als Premier hielt, auch als Oppositionsführer nicht den Weg zum Parlament findet. Bereits jetzt, nach knapp 54 gewerteten Tagen hatte Alexis Tsipras mehr Präsenz im Parlament gesammelt als Antonis Samaras vom Sommer 2012 bis Ende Dezember 2014.

Alexis Tsipras wird unter diesen Vorzeichen jedoch nicht als Bettler nach Brüssel kommen. Er kündigte zumindest an, dass er das absolute Gegenteil vorhat. "Keinen Schritt zurück", versprach Tsipras im Parlament. Der Premier beschwert sich, dass EZB-Chef Mario Draghi einseitig die Vereinbarung vom 20. Februar 2015 gebrochen habe. Die EZB versorgt Griechenland nur tröpfchenweise mit Liquidität. Tsipras hat angekündigt, dass er in Brüssel offensiv auftreten möchte. In Griechenland wurde bekannt, dass die Bundeskanzlerin als Plan hat, das Problem erst einmal auszusitzen. Es wird, wenn die Gerüchte stimmen, weder heute noch am Freitag und erst recht nicht am kommenden Montag, wenn Tsipras in Berlin ist, eine Lösung geben.

Die Folgen vor Ort aus empirischer Sicht

Durch eine "griechische Brille betrachtet" trifft diese Maßnahme konkret nicht unbedingt die Regierung. Die ernsten Folgen dieser Kapitalrationierung zahlen zunächst die Arbeitnehmer, denen die Chefs die Auszahlung des Gehalts verweigern. Mittelständische Unternehmer können auch bei guter Auftragslage kaum etwas wirklich "unternehmen". Die Politik des knappen Geldes bedeutet auch, dass eine griechische Firma, wenn sie denn an einen Bankkredit kommt, einen mehrfachen Zinssatz des deutschen aber auch des bulgarischen Kollegen zu zahlen hat.

Die absolute Geldknappheit zeigt sich auch wortwörtlich "auf der Straße". Es ist zum Beispiel nicht möglich, die knapp 800 m vom Omonia-Platz zum Syntagma-Platz per pedes zurückzulegen, ohne ein Dutzend verarmter, obdachloser Personen am Straßenrand zu sehen. Die Menschen betteln schon seit Monaten nicht mehr. Sie liegen oder dämmern nur, in Decken gegen die Kälte geschützt, auf Pappkartons vor sich hin.

Das Betteln ist mittlerweile eher unter den Arbeitnehmern verbreitet. Im Kollegenkreis gibt es zahlreiche Mitstreiter, die nicht einmal mehr das Geld fürs U-Bahnticket haben. Ohne Gehaltsauszahlung mangelt es überall an Liquidität. Die Menschen werden unter dem finanziellen Druck radikaler. Das äußert sich in immer öfter wahrnehmbaren Äußerungen, wie "Lass uns endlich raus aus dem Euro", "Dann sollen sie uns endlich rausschmeißen" oder "Ist dies das Europa des Friedens und Wohlstands?"

Selbst die Mitmenschen, die bislang als Anhänger von PASOK und Nea Dimokratia auftraten, wechseln nun die Seite: "Wie lange noch sollen pauschal alle Griechen bestraft werden?", fragen sie sich. Die Radikalität zeigt sich aber auch in der gesunkenen Toleranzschwelle. Bereits kleine Missverständnisse führen zu extremen verbalen Ausfällen. Die Bereitschaft zur Anwendung körperlicher Gewalt ist bei nahezu allen Mitmenschen spürbar gestiegen.

Die linke Opposition innerhalb des SYRIZA muckt auf

Innerhalb der Regierungspartei SYRIZA gibt es ebenfalls wieder Oberwasser für radikalere Strömungen. Die Internationalistische Kämpferische Linke, eine der Strömungen der Partei, verlangt offen den Zahlungstopp gegenüber den Kreditgebern, die Verstaatlichung der Banken, Zwangsanleihe bei Konten reicher Bürger, Kapitalverkehrskontrolle und Rückkehr zur Drachme.

Einer der linken Wortführer innerhalb SYRIZAs, Giannis Milios, wurde derweil entmachtet. Nach seinem Ausscheiden aus dem Zentralkomitee der Partei musste der überzeugte Marxist konsequent den Posten des Finanzplaners niederlegen. Milios hatte seit den Europawahlen 2014 mehrere persönliche Niederlagen erlitten. Mit Verantwortung der Parteiführung, wie er selbst beklagte, entging Milios ein Posten im Europaparlament. Sollte jedoch einer der aktuellen Parlamentarier ausscheiden, dann ist Milios nach dem amtierenden Staatssekretär im Außenministerium Nikos Chountis der erste Nachrücker. Bei den Parlamentswahlen im Januar in Griechenland trat er nicht an.

Milios hat die Einigung Athens mit der Eurogruppe vom 20.2.2015 scharf kritisiert. Milios betonte über Twitter, dass er ohne Groll aus dem Amt scheiden würde. Gegenüber Telepolis teilte er mit, dass er momentan keine weiteren Interviews geben oder öffentliche Aussagen zum Thema machen möchte.

Die Personalie Varoufakis

Milios ist innerhalb der Linken als eine Art Anti-Varoufakis bekannt. Allerdings ist Milios im Gegensatz zum SYRIZA-Abgeordneten Costas Lapavitsas eher ein Mann der leisen Töne. Lapavitsas, der lautstark nach einem Ausstieg aus dem Euro verlangt, attackiert den Finanzminister offen wegen dessen Bekenntnisses zu Europa.

Die Tatsache, dass Varoufakis innerhalb der Regierung zu den gemäßigten Politikern gehört, scheint noch nicht in Europa angekommen zu sein. Wie sonst ist zu erklären, dass gemäß der konservativen Presse Diplomaten hinter verborgener Hand sagen, " keiner dieser Herrschaften ist je einer handfesten Arbeit nachgegangen. Sie wissen schlicht und ergreifend nicht, was sie tun sollen. Es reicht nicht aus, zu kiffen und von der Weltrevolution zu träumen." Dabei sind Varoufakis und Tsipras militante Nichtraucher.

Ob die anonym bleibenden Diplomaten eine ähnlich steile und ertragreiche Karriere hinlegen konnten wie der von ihnen gescholtene Varoufakis, der es immerhin in drei Kontinenten zum Uni-Professor brachte, bleibt fraglich. Der Minister selbst reist nicht mit nach Brüssel. Alexis Tsipras ließ ihn zunächst zurück. Es wird aber seitens der Regierung betont, dass dies nichts mit den immer wieder hoch kochenden Gerüchten um die Ablösung Varoufakis zu tun habe.

Yanis Varoufakis beklagte sich derweil im heimischen Parlament über seine Vorgänger. Im Finanzministerium gab es keine Kopie des Kreditvertrags mit der Troika. Warum die Regierung Samaras die Dokumente entweder verschwinden ließ oder gleich durch den Reißwolf geschickt hat, lässt sich nur spekulativ beantworten. Die Konservativen haben sich noch nicht dazu geäußert.

Ebenso verlustig ist der Antrag der Regierung Samaras, den Kreditvertrag vom 31.12.2014 auf 28.2.2015 zu verlängern. Hier wissen wir zumindest, wo das Papier ist. Der frühere Finanzminister Gikas Chardouvelis nahm die Originaldokumente mit nach Hause. Nach den geltenden Gesetzen ist dies sogar legal, weil "der Minister berechtigt ist, den mit ihm geführten Schriftverkehr seines Amts im privaten Archiv aufzubewahren".

Screenshot aus dem Video, das die Deutschen erregt.

Warum hacken die Griechen selbst auf Varoufakis ein?

Die Tatsache, dass der griechische Finanzminister Varoufakis zwei Jahre vor seinem eventuell nur verbal "…and stick the finger to Germany" gesagt haben soll, hatte die Griechen eher amüsiert und erfreut als verärgert.

Drei Wochen vor der ominösen Sendung von Günther Jauch war das Video über den Youtube-Kanal Skripta TV verbreitet worden. Der Perfektionist Varoufakis (Varoufakis: Hat er oder hat er nicht?) ließ sich jedoch auf ein Hickhack um die Geste ein. Zumindest war er zunächst vorsichtig genug, Jan Böhmermanns mittlerweile als Satire dargestellte Version eines angeblich gefakten Videos mit einem zweideutigen Kommentar zu begrüßen. Danach wagte er sich wieder offensiver voran und verlangte eine Entschuldigung von Jauch.

Das ZDF bezeichnet Böhmermanns Version für das Neo Magazin Royale des manipulierten Videos nun als Satire. Böhmermann selbst legt noch einen drauf: "Böhmermann wiederum hatte - so krude, wie das klingt - in einer Videobotschaft die Echtheit seiner Fälschung unterstrichen: "Unser Video ist zu 100 Prozent echt. Wer das Gegenteil behauptet, ist ein Lügner. Als Entschuldigung und Zeichen des guten Willens gegenüber unseren europäischen Freunden sollten Günther Jauch und die Redaktion der 'Bild'-Zeitung umgehend die Eurozone freiwillig verlassen. Die Unterstellung, dass das Video ein von uns manipulierter Fakefake-Fakefakefake sei, ist absolut haltlos."

Varoufakis stimmeninhaltlich gesehen jedenfalls die meisten Griechen zu. Sie möchten, um es aus Sicht des in Griechenland die Situation beobachtenden Chronisten ein für allemal klarzustellen, nicht den Deutschen als Nation, sondern der in Griechenland wegen der erschreckenden Auswirkungen als irrsinnig empfundenen Sparpolitik den Stinkefinger zeigen. Mit dieser Sparpolitik wird über die deutsche Bundeskanzlerin in populistischer Vereinfachung deren Heimatland verbunden.

Merke: Wenn in den Medien Griechenlands über "die Deutschen" geschimpft wird, dann sind damit keineswegs die Bürger des Landes, sondern vielmehr die Wortführer der aktuellen politischen Führung gemeint. Umgekehrt bleibt aus Athener Sicht zu hoffen, dass es in Deutschland ähnlich gehalten wird.