Der Zerfall des deutschen Europa

Bild: Norbert Aepli/CC BY 2.5

Wie die Systemkrise in Wechselwirkung mit der deutschen Krisenpolitik die gerade erst errungene europäische Dominanz Berlins unterminiert. Aufstieg und Zerfall des "deutschen Europa", Teil 2

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War es Zufall, Fügung, Schicksal - oder eine Folge skrupelloser Großmachtpolitik, dass Deutschland zur dominierenden europäischen Großmacht aufstieg? Das European Council on Foreign Relations ist der Ansicht, die "hegemoniale" Rolle Berlins sei Folge eines "Zufalls", da die Bundesrepublik im Kontext eines "Vakuums" und durch zufällige "Umstände" an die "Spitze der EU" gerückt sei. Deutschland habe zwar eine "Schlüsselrolle" während der Eurokrise gespielt und über allen Entscheidungen in Finanzfragen "emporgeragt", doch sei Berlin zugleich vor den "Verantwortlichkeiten" in anderen Politikbereichen zurückgewichen und habe die "Kosten der Führung" gescheut.

Berlin formte die ökonomische Krisenpolitik in Europa nahezu im Alleingang, in anderen Fragen - wie denen der Geopolitik - hielt man sich, vorerst, zurück. Dieser hierdurch entstehende Eindruck eines "widerwilligen Führers" (wörtlich: reluctant Leader) der EU, wie es der Thinktank European Council on Foreign Realtions formulierte, ergibt sich somit aus der sozioökonomischen Strategie, die Deutschlands Funktionseliten einschlugen (genaueres siehe Teil 1 Der Aufstieg des deutschen Europa). Der deutsche Neo-Merkantilismus beruhte auf der - durch Agenda 2010 und Steuererdumping ins Extrem getriebenen - Erzielung möglichst hoher Außenhandelsüberschüsse gegenüber der Eurozone, die zu Deindustrialisierung und Verschuldung in den gegenwärtigen "Krisenländern" führten.

Hiernach wurde diesen niederkonkurrierten Volkswirtschaften der südlichen Peripherie einseitig die Schuld für die Schuldenkrise zugewiesen und - nachdem die drohenden Verluste der Banken des nördlichen Zentrums sozialisiert wurden - diese einem drakonischen Sparregime unterworfen sowie in eine Art Schuldknechtschaft getrieben. Und hier hat Berlin tatsächlich seine ökonomisch dominante Machtstellung voll ausgenutzt und ist keine Kompromisse bei der Durchsetzung seines Spardiktats eingegangen, obwohl Merkel von einer breiten internationalen Koalition unter Einschluss der USA dazu massiv gedrängt wurde.

Die Anwendung anderer als sozioökonomischer Instrumente bei dieser machtpolitischen Strategie, der deutschen Beggar-thy-neighbour-Politik, war schlichtweg nicht notwendig. Und dennoch hat, einem blinden Huhn gleich, die oben genannte europäische "Denkfabrik" bei ihrer Einschätzung der neuen europäischen Machtlandschaft versehentlich ein Körnchen Wahrheit ergattert - denn die Wucht der Krisendynamik, die Deutschlands europäische Konkurrenz hinwegfegte, muss auch die Berliner Eliten verblüfft haben. Merkel und Schäuble waren hierauf, auf diesen die europäische Konkurrenz hinwegfegenden Krisenschub, offensichtlich nicht vorbereitet. Die gegenwärtige Dominanz der Bundesrepublik in Europa ist letztendlich Folge eines Wechselspiels zwischen der besagten "subjektiven" deutschen neo-merkantilistischen Machtstrategie und der "objektiven" Entfaltung des Krisenprozesses der spätkapitalistischen Produktionsweise, der sich in der EU in Form der Eurokrise manifestierte.

Von subjektiver Politik und objektiven Sachzwängen

Dies bedeutet aber letztendlich: Deutschland hat eigentlich nicht "gesiegt" im binneneuropäischen Machtkampf, es ist nur übrig geblieben nach dem jüngsten Krisenschub. Die Brisanz und Labilität des gegenwärtigen Machtgefüges im Euroraum kann nur unter Berücksichtigung dieser beiden Ebenen oder Dimensionen kapitalistischer Krisenentfaltung, der subjektiv-politischen und der objektiv-systemischen, voll begriffen werden. Der von Berlin eingeschlagene "subjektive" Kurs aggressiver Exportausrichtung, bei dem immer mehr Volkswirtschaften buchstäblich in den Ruin getrieben werden, enthüllt sich somit als eine Reaktion auf eben diesen "objektiven" Krisenprozess.

Der Krisenprozess, der durch eskalierende innere Widersprüche des an Widersprüchen und Absurditäten nun wahrlich nicht armen Kapitalverhältnisses angefeuert wird, äußert sich den einzelnen Akteuren, seien es nun Unternehmen oder Staaten, in Form zunehmender und sich zuspitzender "Sachzwänge", also in Form von Zwängen, die von "Sachen" ausgehen. Allein schon in dieser Formulierung kommt der fetischistische, durch Vermittlungsebenen konstituierte Charakter kapitalistischer Vergesellschaftung voll zum Ausdruck, da die Sachen über die Menschen zu herrschen scheinen, diese den Wechselfällen und Erschütterungen der "Märkte" und Krisen ohnmächtig ausgesetzt sind, als ob es sich um Naturgesetze handelte.

Dabei sind es ja gerade die Marktsubjekte, die diese Dynamik - die einem Verhängnis gleich über sie zu herrschen scheint - alltäglich buchstäblich erarbeiten. Dieser Zwiespalt zwischen subjektiven Akteuren auf Markt- oder Politikebene und den objektiven Sachzwängen kapitalistischer Vergesellschaftung ergibt sich aus der blinden Marktvermittlung des gesamten Reproduktionsprozesses im Kapitalismus. Jeder Marktteilnehmer produziert, obwohl die marktvermittelte Arbeitsteilung immer komplexer wird, isoliert und in Konkurrenz zu allen anderen Marktteilnehmern zum Selbstzweck möglichst hoher Renditen für den anonymen Markt.

Deswegen konstituiert sich, angetrieben von dieser Maxime höchstmöglicher Profiterzielung, auf gesamtgesellschaftlicher Ebene "hinter dem Rücken der Produzenten" (Marx) eine Eigendynamik dieses Verwertungsprozesses des Kapitals, die einem "automatischen Subjekt" (Marx) gleich eben diesen Marktsubjekten all eine fremde, "naturwüchsige" Macht entgegentritt, die sie selber - unbewusst, da marktvermittelt - hervorbringen.

Um den Krisenverlauf - und die Position Deutschlands als "Krisengewinner" - in Europa vollauf zu verstehen, muss deswegen der "objektive" Charakter des gegenwärtigen Krisenprozesses auf globaler Ebene eingehend beleuchtet werden. Die Krise manifestiert sich vor allem als eine Schuldenkrise. Es gilt folglich, die Genese dieser gigantischen Schuldenberge zu ermitteln, unter deren Last ja nicht nur Europa zusammenzubrechen droht. Statt fieberhaft nach "Schuldigen" für die Schuldenkrise zu suchen, müssen die systemischen und gewissermaßen "objektiven" Ursachen der Verschuldungsdynamik geklärt werden.

Es gilt hierbei schlicht historisch zu fragen, wann die Verschuldungslawine einsetzte, unter der viele Staaten und Volkswirtschaften derzeit verschüttet werden. Die aktuellen Krisentendenzen sollen in einen historischen Krisenkontext eingeordnet werden, in dessen Rahmen die Krisenursachen bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhundert zurückverfolgt werden können. Im Folgenden soll somit ausgeführt werden, dass die Zerwürfnisse in der Euro-Zone nur den gegenwärtigen Brennpunkt einer langfristigen, fundamentalen Krise des gesamten kapitalistischen Weltsystems bilden, das in einem dekadenlangen Krisenprozess an die innere Schranke seiner Reproduktionsfähigkeit stößt.

Kurze Geschichte der Systemkrise

Letztendlich muss historische Perspektive auf das Krisengeschehen entwickelt werden. Erst hiernach wird offensichtlich, wieso das "Deutsche Europa" ein höchst instabiles Machtgebilde darstellt, das gerade durch das Spardiktat zerrüttet wird, das Berlin dem geschundenen Kontinent oktroyierte. Wie ist also das Verhältnis zwischen Eurokrise und dem globalen Krisenprozess gelagert?

Leistungsbilanzen global

Im ersten Teil (Der Aufstieg des deutschen Europa) wurden die Ungleichgewichte und die sich daraus ergebenden Defizitkreisläufe innerhalb der Europäischen Union diskutiert. An der obigen Grafik ist zu erkennen, dass sich global ähnliche Ungleichgewichte herausgebildet haben. Das eskalierende Wechselspiel von Handelsüberschüssen und Defiziten in Europa ist somit keine Ausnahme, es spiegelt vielmehr eine globale Dynamik wieder.

Auf globaler Ebene haben sich die USA verschuldet - und somit die Weltwirtschaft maßgeblich angetrieben. Oben sind die Leistungsbilanzüberschüsse Chinas, Deutschlands und Japans - als Länder mit starken Überschüssen in der Leistungsbilanz - bis zum Krisenausbruch 2009 dargestellt. Der rote Graf unten illustriert das gigantische Leistungsbilanzdefizit der Vereinigten Staaten von Amerika. Dieses Defizit in der Leistungsbilanz besteht vor allem aus einem Handelsdefizit.

Handelsbilanz USA

Ähnlich dem schuldenfinanzierten Boom in Europas Defizitkonjunkturen, wirkte auch die amerikanische Verschuldungsdynamik belebend auf die Weltwirtschaft: Auf dem Höhepunkt ihrer Defizitkonjunktur verzeichneten die Vereinigten Staaten ein Handelsdefizit von nahezu 800 Milliarden US-Dollar - jährlich, wohlgemerkt! Die USA glichen somit einem schwarzen Loch der Weltwirtschaft, das durch sein Handelsdefizit einen Großteil der Überschussproduktion der Welt aufnahm und somit stabilisierend auf das gesamte kapitalistische Weltsystem wirkte.

2009 brach das amerikanische Handelsdefizit ein, doch inzwischen steigt es wieder steil an. Bei der obigen Grafik ist sehr gut zu erkennen, wie die monatlichen Handelsdefizite der Vereinigten Staaten seit 2010 wieder anwachsen. Von einem Abbau der "globalen Ungleichgewichte" kann also keine Rede sein! Ein Großteil dieses amerikanischen Defizits in der Handelsbilanz entfällt auf China, das längst zum größten Auslandschuldner der Vereinigten Staaten avancierte. Es entwickelte sich zwischen beiden Großmächten ein Defizitkreislauf, der auch in der Eurozone zwischen Deutschland und der südlichen Peripherie besteht.

Es dürfte somit klar sein, dass Chinas Wachstum immer noch im hohen Ausmaß von den Exporten in die Vereinigten Staaten abhängig ist. Die USA spielen immer noch eine zentrale Rolle als Konjunkturstütze des kapitalistischen Weltsystems. 2012 betrug das Defizit der USA immerhin 727 Milliarden US-Dollar. Seit 1987 haben die Vereinigten Staaten die Weltwirtschaft insgesamt - vermittels der kumulierten Handelsdefizite - mit einer kreditfinanzierten zusätzlichen Nachfrage 10,7 Billionen US-Dollar gestützt.

Handelsbilanz BRD - USA

Von dem anhaltenden amerikanischen Handelsdefizit profitiert in letzter Zeit auch Deutschland. Neben China erwirtschaftet vor allem die Bundesrepublik ernorme Handelsüberschüsse mit den Vereinigten Staaten, die sich 2013 auf den Rekordbetrag von 67,2 Milliarden US-Dollar summierten (2012 waren es 59,9 Milliarden, 2011 49,5 Milliarden). Diese ernormen Handelsüberschüsse, deren wirtschaftliche Bedeutung aufgrund des Nachfrageeinbruchs in der Eurozone für die BRD zunimmt, ermöglichen erst das Fortbestehen des exportfixierten deutschen Wirtschaftsmodells, das ja - wie dargelegt - auf der Erzielung möglichst hoher Ausfuhrüberschüsse beruht.

Zum Vergleich sei hier angemerkt, dass die Bundesrepublik 2013 Waren im Wert von nur 38 Milliarden Euro nach Russland exportierte. Der deutsche Handelsüberschuss gegenüber den USA ist somit nahezu doppelt so hoch wie die deutschen Gesamtausfuhren nach Russland! In diesen harten ökonomischen Fakten ist wohl einer der wichtigsten Gründe dafür zu finden, dass sich Berlin im Vorfeld der Ukraine-Krise in die westliche Allianz einreihte, auch wenn weiterhin hierüber Meinungsverschiedenheiten innerhalb der deutschen Funktionseliten bestehen.

Die Umrisse der globalen Handelsstruktur dürften sich nun abzeichnen, die tatsächlich von Defizitkreisläufen gekennzeichnet war und ist - die Ungleichgewichte in der Eurozone sind somit keine ordinär europäische Fehlentwicklung, sie spiegeln vielmehr eine globale Entwicklung wieder. Exportorientierte Volkswirtschaften führen ihre Produktionsüberschüsse in sich immer weiter verschuldende Zielländer aus.

Zudem wird hier nun klar, wie bei den Ungleichgewichten in Europa objektive Krisenprozesse und subjektive Staatspolitik - unbewusst - ineinandergriffen. Das spätkapitalistische Weltsystem ist durch die Ausbildung zunehmender Ungleichgewichte in den Handels- und Leistungsbilanzen charakterisiert. Berlin hat sich subjektiv dafür entschieden, seine Volkswirtschaft innerhalb dieser objektiv-systemischen Krisendynamik ganz auf die Rolle des Exporteurs zuzurichten. Und selbstverständlich wurde diese deutsche Entscheidung, die Krisenverwerfungen buchstäblich zu exportieren, unter dem Eindruck der sich zuspitzenden Krise in der Bundesrepublik Ende der 1990er Jahre gefällt, als die Arbeitslosenquote immer neue Rekordwerte erreichte und Deutschland als der "Kranke Mann Europas" galt.

Dabei sind diese Ungleichgewichte in Europa wie auf globaler Ebene nur Ausdruck der ihnen zugrunde liegenden Verschuldungsprozesse. Wie bereits hier ausgeführt, kann es keine Überschüsse in den Leistungsbilanzen ohne die korrespondierenden Defizite geben. Der Spätkapitalismus ist durch eine ungebrochene Verschuldungsdynamik geprägt. Die globalen "Ungleichgewichte" ergeben sich nur aus der simplen Tatsache, dass nicht alle Volkswirtschaften sich gleichmäßig verschulden - und dennoch sind die exportorientierten Länder nicht weniger von diesen Verschuldungsprozessen abhängig.

Der ungebrochene globale Schuldentrumbau ist eine empirische Tatsache: Allein zwischen 2008 und 2013 ist der globale Schuldenberg, allen Sparbemühungen Schäubles zum Trotz, von 180 Prozent auf 212 Prozent der Weltwirtschaftsleistung geklettert. Hierin äußert sich gerade die gegenwärtige kapitalistische Systemkrise. Der Spätkapitalismus kann ohne diese Schuldenberge - und die daraus erwachsenen Handelsungleichgewichte - nicht mehr funktionieren, weil er an seiner eigenen industriellen Produktivität erstickt. Das System als Gesamtheit wird defizitär, es scheitert an seinen eigenen Ansprüchen der "Rentabilität". Nur noch vermittels kreditgenerierter Nachfrage kann der Anschein der Funktionsfähigkeit aufrecht erhalten.

Gesamtverschuldung in Relation zum BIP

Wann setzte nun diese Verschuldung nun historisch ein? Diese Grafik stellt die langfristige Entwicklung der Gesamtverschuldung der USA in Relation zur Bruttoinlandsprodukt zwischen 1920 und 2008 dar. Es ist eindeutig zu erkennen, dass der derzeitige Schuldenstand weitaus höher ist als bei der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre. Dies hier ist also ein historisch einmaliges Verschuldungsniveau der USA. Diese Schuldenexplosion setzte offensichtlich in den 80er Jahren ein, zeitgleich mit der Durchsetzung des Neoliberalismus. Der Neoliberalismus, dessen Vertreter für gewöhnlich dem gnadenlosen Sparfetischismus frönen, hat somit diese historisch einmalige Verschuldungswelle ausgelöst.

Nochmals: Diese beispiellose Defizitkonjunktur in den Vereinigten Staaten fungierte, ähnlich den Verschuldungsprozessen in der Eurozone, als die zentrale globale Konjunkturlokomotive der vergangenen Jahre. Die gesamte Weltkonjunktur läuft, in zunehmendem Ausmaß, auf Kredit. Der Kapitalismus läuft nur noch auf Pump. Ob nun die Schuldenmacherei staatlich oder privat betrieben wird, ist in dieser Hinsicht einerlei.

Dow Jones, Langfristchart

Der Prozess der Schuldenexplosion setzte somit zeitgleich mit der Durchsetzung des Neoliberalismus und der Epoche des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus ein. Als ein Beispiel von vielen für diese finanzielle Explosion seit den achtziger Jahren, hier die langfristige Entwicklung des amerikanischen Aktienindex Dow Jones, an dessen Verlauf die großen Finanzblasen der letzten Jahrzehnte nachvollzogen werden können.

Es ist eindeutig erkennbar, wie ab den achtziger Jahren der Index immer stärker ansteigt. Dieser Börsenaufschwung nimmt ab den neunziger Jahren exzessive Züge an. Erkennbar sind auch die Zusammenbrüche im Gefolge der geplatzten Spekulationsblase mit Hightech-Aktien im Jahr 2000 und der erneute Aufstieg im Verlauf der Immobilien-Spekulation. Diese Blase bricht dann ab 2008 zusammen. Inzwischen kann von einer erneuten Blasenbildung gesprochen werden, die durch die Niedrigzinspolitik der Notenbanken befördert wird. Hierbei spricht man von einer Liquiditätsblase, die durch ein Übermaß von "billigem Geld" befördert wird.

Wir befinden uns also seit gut drei Dekaden in einer Finanzblasen-Ökonomie - und die Kosten zur Stabilisierung der Weltwirtschaftssystems schwellen nach dem Platzen einer jeden Finanzblase immer stärker an. Historisch betrachtet ist dies ein absolut einmaliger Vorgang in der fünfhundertjährigen Geschichte des kapitalistischen Weltsystems. Der parallele Anstieg der Schuldenberge und der Finanzmärkte ist logisch, da ja die Finanzmärkte diese Verschuldung finanzierten - der Kredit bildet ja die wichtigste "Ware" der Finanzbranche.

Die Preisfrage lautet nun: Wieso kann das spätkapitalistische Wirtschaftssystem sich ohne Verschuldung nicht mehr reproduzieren? Was änderte sich in den 70er oder 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, dass diese neoliberale Schuldenlawine in Gang gesetzt wurde? Sobald die - private oder staatliche - schuldengenerierte Nachfrage wegbricht, setzt ja eine sich selbst verstärkende Abwärtsspirale ein, in der Überproduktion zu Massenentlassungen führt, die wiederum die Nachfrage senken und weitere Entlassungswellen nach sich ziehen. Die derzeit in Europa einsetzende Deflation ist gerade darauf zurückzuführen, dass in der Eurozone die Verschuldungsdynamik nicht mehr aufrechterhalten wird. Auf Druck Berlins sind ja europaweit Sparpakete und Schuldenbremsen eingeführt worden. In den USA wird hingegen das System weiter per Gelddruckerei und anhaltende Schuldenaufnahme stabilisiert.

Wieso konnten also die neoliberalen "Chicago Boys" seit den 80ern triumphieren? Der neoliberale, finanzmarktgetriebene Kapitalismus konnte sich in den 80ern nur deswegen global durchsetzen, weil er einen scheinbaren Ausweg aus der fundamentalen Wirtschaftskrise in den 70er Jahren zu bieten schien. Der Neoliberalismus setzte sich durch, weil der Keynesianismus mit seinem Latein am Ende war. Diese Krisenperiode in den 70er Jahren wird als Stagflationbezeichnet, da sie mit Inflation, zunehmender Arbeitslosigkeit und stagnierendem Wirtschaftswachstum einherging.

Diese Krise der 70er Jahre hatte ihre Ursachen in der Erschöpfung des Wachstumspotenzials der damals vorherrschenden Wirtschaftsstruktur. Diese beruhte auf massenhafter und hocheffizienter Anwendung von Arbeitskraft in der Industrie (Taylor-System) und dem Fahrzeugbau als ökonomischem Leitsektor. Dieses Akkumulationsregime, das von den 50er Jahren bis in die 70er dem Kapitalismus relative Stabilität bescherte, wird gemeinhin als Fordismus bezeichnet. Der Fahrzeugfabrikant Henry Ford hat dieses System als erster zur Anwendung gebracht.

Was passierte nun ab den 70ern, sodass der Fordismus in die Krise geriet? Zum einen erfuhren die damaligen, größtenteils erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen, Märkte erstmals eine gewisse Sättigung, sodass die Konkurrenz zwischen den einzelnen Unternehmen sich verschärfte. Andererseits führte beständig zunehmende Automatisierung in der Produktion erstmals dazu, dass neue Produktionszweige nicht mehr die durch Rationalisierung überflüssig gewordenen Arbeitskräfte wieder aufnehmen konnten. Die Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft setzte ein, ab den 80er Jahren kehrt die in der Nachkriegszeit fast vergessene Massenarbeitslosigkeit in die kapitalistischen Kernländer zurück.

Zudem führte die zunehmende Konkurrenz auf den "enger" werdenden Märkten dazu, das die zuvor sehr hohen Renditen rasch einbrachen. Für das Kapital stellte dies den Super-Gau dar. Bekanntlich bildet nicht die Befriedigung von Bedürfnissen den letzten Zweck der kapitalistischen Wirtschaftsweise, sondern eine möglichst hohe "Verzinsung" des investierten Kapitals. Solange die Erwirtschaftung von Profiten auf einem hohen Niveau verbleibt, reproduziert sich das System auch bei zunehmender Verelendung oder steigender Massenarbeitslosigkeit stabil. Erst aufgrund der in den USA fallenden Profitrate konnte sich der Neoliberalismus ab den 80ern überhaupt durchsetzen. Und dies tat er, weil er das Problem schlicht durch eine Stagnation des Lohnniveaus löste:

Lohnentwicklung und Produktivität, USA

Seit den siebziger Jahren stagnieren die realen Löhne in den USA, was zu der Erholung der Profitraten ab den achtziger Jahren maßgeblich beitrug. In der obigen Grafik wird ersichtlich, wie das Lohnniveau (rosa) in den 80ern von der stürmischen Entwicklung der Produktivität (blau) abgekoppelt wird. Für gewöhnlich würde dies ja bedeuten, dass hierdurch eine Überproduktionskrise ausgelöst würde: Die Arbeiter wurden zwar immer produktiver, aber zugleich haben sie nicht mehr Geld zur Verfügung, um die immer größer werdende Menge an Waren zu konsumieren, die sie selber produzieren. Trotz stagnierender Löhne, höherer Produktivität und erneut steigender Profitraten fand genau dies nicht statt. Des Rätsels Lösung findet sich in den Finanzmärkten und der schuldenfinanzierten Defizitkonjunktur, die sie befeuerten:

Gesamtverschuldung und BIP, USA

Diese Grafik stell die Entwicklung der amerikanischen Gesamtverschuldung (rot) und des Bruttoinlandsprodukt (blau) in Billionen US-Dollar dar. Es ist offensichtlich, dass zeitgleich mit der Entkopplung der Produktivität vom Lohnniveau auch eine Entkopplung des Schuldenniveaus vom Wirtschaftswachstum in den USA stattfand.

Der Neoliberalismus privatisierte letztendlich das staatliche "deficit spending" der Keynesianer. Die potenzielle Überproduktionskrise, die aufgrund der steigenden Produktivität bei stagnierenden Löhnen eigentlich ausbrechen müsste, wurde folglich einfach durch eine ausartende Verschuldung vertagt - bis 2008. Nach dieser langen Inkubationszeit gerät nun der jahrzehntelange Krisenprozess in ein manifestes Stadium.

Produktivität und Systemkrise

Letztendlich ist der Kapitalismus schlicht zu produktiv für sich selbst geworden. Die Produktivkräfte sprengen somit die Fesseln der Produktionsverhältnisse, wie es Marx formulierte. Dieses System stößt an eine innere Schranke seiner Entwicklung. Die immer schneller um sich greifende Rationalisierung und Automatisierung führt dazu, dass immer mehr Waren in immer kürzerer Zeit durch immer weniger Arbeitskräfte hergestellt werden können. Neue Industriezweige wie die Mikroelektronik und die Informationstechnik beschleunigten diese Tendenz noch weiter. Diese neuen Technologien schufen weitaus weniger Arbeitsplätze, als durch deren gesamtwirtschaftliche Anwendung wegrationalisiert wurden.

Diese Entwicklung kennzeichnet einen fundamentalen Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise. Die Lohnarbeit bildet die Substanz des Kapitals - doch zugleich ist das Kapital bemüht, durch Rationalisierungsmaßnahmen die Lohnarbeit aus dem Produktionsprozess zu verdrängen. Marx hat für diesen autodestruktiven Prozess die geniale Bezeichnung des "prozessierenden Widerspruchs" eingeführt. Dieser Widerspruch kapitalistischer Warenproduktion, bei dem das Kapital mit der Lohnarbeit seine eigene Substanz durch Rationalisierungsschübe minimiert, ist nur im "Prozessieren", in fortlaufender Expansion und Weiterentwicklung neuer Verwertungsfelder der Warenproduktion aufrechtzuerhalten. Derselbe wissenschaftlich-technische Fortschritt, der zum Abschmelzen der Masse verausgabter Lohnarbeit in etablierten Industriezweigen führt, ließ auch neue Industriezweige oder Fertigungsmethoden entstehen.

Die Ausbildung eines gigantischen Finanzsektors und des korrespondierenden riesigen Schuldenbergs im globalen Maßstab kann folglich als eine Systemreaktion auf einen nicht mehr erfolgreich stattfindenden Strukturwandel aufgefasst werden. Aus dem erläuterten "prozessierenden Widerspruch" der Warenproduktion resultiert ein industrieller Strukturwandel, bei dem alte Industrien verschwanden und neue hinzukamen, die wiederum Felder für Kapitalverwertung und Lohnarbeit eröffneten.

Über einen bestimmten Zeitraum hinweg besaßen bestimmte Industriesektoren und Fertigungsmethoden die Rolle eines Leitsektors, bevor diese durch andere, neue Industriezweige abgelöst wurden: So erfahren wir seit dem Beginn der Industrialisierung im 18. Jahrhundert einen Strukturwandel, bei dem die Textilbranche, die Schwerindustrie, die Chemiebranche, die Elektroindustrie der Fahrzeugbau, usw. als Leitsektoren dienten, die Massenhaft Lohnarbeit verwerteten. Doch genau dies funktioniert nicht mehr, nachdem die Lohnarbeit aufgrund der Rationalisierungsschübe der mikroelektronischen Revolution sich innerhalb der Warenproduktion verflüchtigt.

Erst jetzt wird deutlich erkennbar, wie subjektive Wirtschafts- und Geopolitk mit dem objektiven Krisenprozess verschmolzen sind: Die kapitalistischen Volkswirtschaften entwickelten sich in zwei verschiedene Richtungen, um dieser systemischen Überproduktionskrise - den hierdurch entstehenden "Sachzwängen" - zu begegnen: Sie verschuldeten sich, um die besagte Defizitkonjunktur auszubilden, wie Griechenland, Spanien, Irland oder die USA.

Oder sie versuchen, die Widersprüche der spätkapitalistischen Produktionsweise zu "exportieren", wie es Deutschland, China, Südkorea oder Japan machen (oder machten). Deutschland derzeitige Dominanz ist somit Folge dieses Wechselspiels von Krisendynamik und neo-merkantilistischer Machtpolitik in der Eurozone, die nur durch deren spezifische, größtenteils durch Berlin geformten Strukturen ermöglicht wird. China bildet ja trotz gigantischer Handelsüberschüsse keine Position der Dominanz gegenüber den USA aus, da Washington - im Gegensatz zu Spanien, Portugal oder Griechenland - mit dem Dollar über die Weltleitwährung verfügt.

Es ist besonders wichtig zu verstehen, dass die aggressive deutsche Exportpolitik selber eine reaktionäre Reaktion auf diesen objektiven Krisenprozess ist. Statt nach "Schuldigen" der gegenwärtigen Systemkrise zu suchen, muss nach deren Ursachen gesucht werden. Deutschland hat die Krise nicht verursacht (genauso wenig wie die Südeuropäer!), sondern deren Widersprüche "exportiert" - zulasten der südlichen Peripherie der Eurozone. Nochmals: Es ist somit dieser objektive Krisenprozess der kapitalistischen Warenproduktion, der die "Klassenwidersprüche" in den einzelnen kapitalistischen Staaten zuspitzt - und auch die zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen in der Eurozone eskalieren lässt.

Die neoliberale Offensive gegen die sozialen Errungenschaften der Lohnabhängigen - die bisher in der BRD in der Hartz-Gesetzgebung gipfelte - resultierte gerade aus diesem Krisenprozess. Die Intensivierung der Ausbeutung der "Ware Arbeitskraft" und der Export der Widersprüche der kapitalistischen Warenproduktion bildeten die Antwort der deutschen Funktionseliten auf die Krise.

Eurozone, Deutschland und Systemkrise

Die Eurokrise, die im "Land der Dichter und Denker" zu einem Auswuchs der Flauheit und Korruptheit der "Südländer" verdinglicht wurde, stellt somit tatsächlich nur die jüngste Etappe eines historischen, langfristigen, von inneren Widersprüchen der Kapitalverwertung befeuerten Krisenprozesses dar.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die Krise ist nicht sieben Jahre, sondern 40 Jahre alt. Die Ursachen der Krise sind nicht in den Finanzmärkten, sondern in der warenproduzierenden, realen Wirtschaft zu suchen. Die wild wuchernden Finanzmärkte haben nicht die warenproduzierende Industrie in den Abgrund gerissen, sondern diese bis zum Zusammenbruch der spekulativen Blasenbildung durch kreditfinanzierte Nachfrage überhaupt am Leben erhalten.

Dem kapitalistischen System ist die Dynamik eigen, seine Produktion beständig zu revolutionieren und mit permanenten Produktivitätsfortschritten sein eigenes ökonomisches Fundament zu untergraben. Die gegenwärtige Krise ist letztendlich eine Krise der kapitalistischen Lohnarbeit, die dem Kapitalismus abhandenkommt. Nur die dargelegte, ungeheure Verschuldungsdynamik der letzten Dekaden hat den Ausbruch einer verehrenden Überproduktionskrise verhindert.

Dies ist, wie gezeigt wurde, ein globaler Krisenprozess, der die politische Klasse vor eine unlösbare Aufgabe stellt. Die bürgerliche Politikkaste befindet sich in einer Krisenfalle (Politik in der Krisenfalle), sie kann den vollen Krisendurchbruch nur durch weitere Gelddruckerei oder Konjunkturmaßnahmen verzögern, die aber letztendlich in den Staatsbankrott und die Hyperinflation müden müssen oder sie wählt die deutsche Kamikaze-Strategie.

Die Krisenpolitik befindet sich somit in einem unlösbaren Selbstwiderspruch, bei dem sie nur zwischen zwei unterschiedlichen Wegen in die Krise wählen kann: Sie kann nur zwischen weiterer Verschuldung wählen oder den Weg harter Sparprogramme einschlagen, die in Rezession mitsamt einsetzender Deflationsspirale führen. Deflation oder Inflation - dies sind die systemimmanenten Alternativen, die der Wirtschaftspolitik bleiben. Die bedeutet aber letztendlich auch, dass die Krise des Kapitals im Rahmen des Kapitalismus unlösbar ist. Weder das deutsche Spardiktat in Europa, noch die Gelddruckerei in den Vereinigten Staaten wird dazu beitragen, die Krise tatsächlich zu überwinden.

Und genau diese Aporie macht den seit Krisenausbruch tobenden, öden Streit zwischen neoliberalen Verfechtern harter Sparpolitik und sozialdemokratischen Keynesianern auch so deprimierend. Beide Seiten in diesem Streit um die Ausgestaltung der künftigen Krisenpolitik befinden sich mit ihrer Diagnose im Recht: Weitere Staatsverschuldung wird unweigerlich zum Staatsbanktrott oder zur Hyperinflation führen, ein Ende der staatlichen Verschuldung wird in die Rezession und/oder Deflation führen. Beide Parteien befinden sich aber auch auf dem Holzweg, wenn sie davon ausgehen, dass ihre "Therapien", ihre Politikkonzepte die fundamentale Krise der Weltwirtschaft lösen könnten.

Damit wird aber auch klar, dass der von Deutschland in der Eurozone durchgesetzte "Sparkurs" zu einer beschleunigten Zersetzung dieses Währungsraums beiträgt, da er den krisenbedingten sozioökonomischen Zerfall beschleunigt. Berlin ist für den Krisenausbruch genauso wenig verantwortlich, wie die Südeuropäer. Doch die Politische Klasse Deutschlands trägt alle Verantwortung und Schuld für den desaströsen Krisenverlauf in der Eurozone, der ursächlich ist für den Aufschwung des Rechtsextremismus in Europa.

Die folgenden Grafiken illustrieren das evidente Scheitern des deutschen Spardiktats im Euroraum. Berlins Kahlschlagskurs hat nicht nur das Leben von Millionen von Europäern ruiniert, er scheiterte auch an seiner eigenen Zielsetzung, dem Abbau der europäischen Schuldenberge.

Staatsschulden ausgewählte Länder Eurozone

Offensichtlich sind die Staatsschulden aller Krisenstaaten seit Krisenausbruch regelrecht explodiert. Dieser volkswirtschaftliche Effekt des "in die Pleite Sparens" ist seit Langem bekannt. Die Kahlschlagsprogramme lassen die Wirtschaftsleistung und den Binnenkonsum einbrechen, was zu fallenden Steuereinnahmen führt und abermalige Sparmaßnahmen notwendig macht, die einen weiteren Durchlauf in dieser deflationären Abwärtsspirale provozieren. Das sinkende BIP lässt zudem die Schuldenlast in Relation zur Wirtschaftszeitung noch weiter ansteigen.

Die in Europa nun einsetzende Deflation verstärkt den volkswirtschaftlichen Effekt des "in die Pleite Sparens" noch. Der allgemeine Rückgang des Preisniveaus führt - insbesondere in hoch verschuldeten Ländern - zu einer zusätzlichen Inflation der Schulden, die permanent an Wert gewinnen. Durch sinkende Preise gehen selbst bei einem stagnierenden Konsumniveau die Einnahmen aus den Konsumsteuern, insbesondere der Mehrwertsteuer, zurück. Denn selbstverständlich bildet die Erhöhung der Konsumsteuern den Kernpunkt nahezu aller Sparpakete - sowohl in Griechenland, Spanien als auch Portugal.

Jugendarbeitslosigkeit ausgewählte Länder Eurozone

Die Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, die Deutschlands Krisenpolitik einseitig auf Südeuropa abwälzte, kommt in den dramatischen Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit in den Krisenländern zum Ausdruck. Bei Arbeitslosenquoten von 40 bis 60 Prozent ist es keine Übertreibung, von einer verlorenen Generation zu sprechen, die das Spardiktat Berlins in den Krisenregionen der Eurozone hervorgebracht hat.

Autoproduktion BRD, Frankreich, Italien, Spanien

Die obige Grafik zur langfristigen Entwicklung der PKW-Produktion illustriert abermals, wie sehr sich Deutschlands Wirtschaft auf Kosten der Eurozone sanierte (Siehe Teil 1). In der gegenwärtigen Systemkrise, die mit einem gnadenlosen Verdrängungswettbewerb auf den "enger" werdenden Märkten einhergeht, kann "erfolgreiche" systemimmanente Wirtschaftspolitik tatsächlich nur in der erfolgreichen Marginalisierung der Konkurrenz bestehen. Die Wirtschaftspolitik ist zu einem Mittel des eskalierenden Wirtschaftskrieges mutiert.

Dass ein Ausscheiden Griechenlands die Eurozone zusätzlich destabilisieren würde, ist nahezu sicher, da die deutsche Sparpolitik, die letztendlich die Krisendynamik beschleunigt, inzwischen auch wirtschaftliche Schwergewichte wie Italien destabilisiert hat. Ein Ausscheiden der drittgrößten Volkswirtschaft aus dem Euro würde aber dessen Ende besiegeln. Und dies ist mittelfristig angesichts der jüngsten Entwicklung südlich der Alpen gar nicht so unwahrscheinlich:

In Italien wurden im vergangenen Oktober erstmals mehr als 3,4 Millionen Erwerbslose statistisch erfasst - ein Anstieg von 90 000 gegenüber dem Vormonat. Die entspricht einer offiziellen Arbeitslosenquote von 13,2 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit südlich der Alpen stieß nach rund vierjährigem Sparkurs in griechische Dimensionen vor, indem sie im Oktober auf den katastrophalen Wert von 43,3 Prozent kletterte.

Dabei weist Italien zusätzlich mit rund 14 Millionen eine besonders hohe Anzahl wirtschaftlich inaktiver Lohnabhängiger im erwerbsfähigen Alter auf, was sich auch in einer besonders niedrigen Rate der Beschäftigten an der erwerbsfähigen Bevölkerung manifestiert, die nur bei 55,6 Prozent liegt. Wie viele dieser "wirtschaftlich inaktiven" Menschen die Arbeitssuche längst resigniert aufgegeben haben und sich anderweitig, etwa innerhalb mafiöser Netzwerke oder im informellen Sektor, durchs Leben schlagen, will man wohl selbst in Rom so genau nicht wissen. Auch im Fall Italiens wird die Wucht der Krisendynamik erst mit einigem zeitlichen Abstand voll ersichtlich: Zu Krisenbeginn, Anfang 2008, lag die Arbeitslosenquote bei rund sechs Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei 20 Zählern.

Italien - Staatsverschuldung

Nahezu alle Charaktermerkmale einer einsetzenden, sich selbst verstärkenden deflationären Abwärtsspirale, die durch rigorose Sparpolitik während einer schweren systemischen Krise ausgelöst wird, lassen sich etwa in Italien ausmachen. Mittels einer Reihe von "Sparpaketen", die 2011 (Umfang: 54 Milliarden Euro), 2012 (26 Milliarden Euro) und 2013 (acht Milliarden) durchgesetzt wurden, ist die Binnenkonjunktur und Massennachfrage in Italien abgewürgt worden, was zur Verfestigung der langwierigen, seit 2008 andauernden Phase aus Rezession und Stagnation führte.

Nach einer kurzen konjunkturellen Erholung 2013 ist Italien im zweiten Quartal 2014 abermal in die Rezession abgerutscht. Dies ist der dritte Abschwung seit Krisenausbruch. Seit 2009 sind mit Ausnahme des Jahres 2011 die Konsumausgaben der Privathaushalte, die rund 60 Prozent des italienischen BIP umfassen, rückläufig. Dieser Einbruch des Binnenmarktes manifestiert sich beispielsweise in einem drastischen Einbruch des PKW-Absatzes in dem Krisenland, der gegenüber dem Vorkrisenhoch von 2007 um 47,8 Prozent auf 1,3 Millionen Neuzulassungen 2013 absackte!

Und selbstverständlich konnten all die Sparauflagen auch im Fall Italiens die Verschuldungsspirale nicht durchbrechen, da die fallende Massennachfrage und die Rezessionen zu einem Einbruch der Steuereinnahmen des Staates führen: Im vergangen Mai musste die italienische Zentralbank, die Banca d’Italia, einen neuen Schuldenrekord melden, der die Staatsverschuldung auf 138,2 Prozent des italienischen BIP trieb.

Seit August 2014 ist die europaweit drohende Deflation in Italien zur bitteren Realität geworden: Laut dem italienischen Statistikamt ISTAT sind die Verbraucherpreise in dem Mittelmeerland - erstmals seit der Erhebung dieser Datenreihe! - gegenüber dem Vorjahr um 0,1 Prozent geschrumpft. Eine Deflation, wie sie etwa Japan in der "verlorenen Dekade" der 90er Jahre heimsuchte, ist nicht nur wegen der mit geldpolitischen Mitteln kaum zu bekämpfenden Tendenz zur Stagnation oder Kontraktion der Binnennachfrage volkswirtschaftlich verhängnisvoll (da die Konsumenten in Erwartung niedrigerer Preise ihre Ausgaben tendenziell hinausschieben).

Der allgemeine Rückgang des Preisniveaus führt - insbesondere in hoch verschuldeten Ländern - zu einer Inflation der Schulden, die permanent an Wert gewinnen. Dies trägt zu dem Ansteig der "faulen Kredite" in Italien bei (siehe Grafik). Durch sinkende Preise gehen selbst bei einem stagnierenden Konsumniveau die Steuereinnahmen aus den Konsumsteuern, insbesondere der Mehrwertsteuer, zurück, was den europäischen Schuldenturmbau vollendest zum Einsturz bringen und den weiteren Bestand der Eurozone gefährden würde.

Diesen durch die eigene Sparpolitik forcierten Zerfall des "Deutschen Europa" könnte Berlin einerseits durch ein Ende eben dieses Spardiktats zumindest kurz- oder mittelfristig verzögern. Die oben erläuterte objektive Aporie der Krisenpolitik - die besagte systemische "Krisenfalle" - äußert sich für die deutschen Politeliten in der nun anstehenden Entscheidung, entweder an Griechenland "Exempel" zu statuieren und das Ausscheiden immer neuer Krisenstaaten aus der Eurozone zu riskieren, oder das Sparregime sukzessive aufzugeben und eine erneute Verschuldungsdynamik zwecks mittelfristiger Stabilisierung des Währungsraumes zuzulassen.

Andrerseits kann Berlin sich für die aggressive Option entscheiden und das europäischen Spardiktat dazu benutzen, um eine Sanierung der Eurozone auf Kosten des europäischen Auslands zu vollführen. Dieses Deutsche Europa wird das darauf abgerichtet, gegenüber dem außereuropäischen Wirtschaftsräumen ähnlich hohe Leistungsbilanzüberschüsse zu erzielen, wie die die BRD gegenüber der Eurozone bis zum Krisenausbruch erzielte. Und genau diese von Berlin orchestrierte, gesamteuropäische Beggar-thy-neighbour-Politik entfaltet sich derzeit mit voller Wucht.

Die Eurozone soll vermittels Lohnkahlschlag und Prekarisierung gigantischen Handelsüberschüsse erzielen. Hartz IV für alle Europäer - während die europäischen Exportüberschüsse, verstärkt durch die Geldschwemme der EZB und massive Abwertung des Euro, immer neue Rekordwerte erreichen, wie der Wirtschaftsblog Zero Hedge klagte.

Alles, was die Eurozone fertigbringe, bestehe darin, "Wachstum von anderen zu klauen," titelte das beliebte Nachrichtenportal in Anlehnung an die Analyse eines französischen Finanzhauses. Die Eurozone "klaut" anderen Weltregionen ihr Wachstum, wie es zuvor die BRD gegenüber der Eurozone tat. Der Versuch, mittels einer europaweiten Spar- und Kahlschlagsprogramms die deutsche Politik gegenüber der Eurozone auf globaler Ebene zu kopieren, muss aufgrund des weitaus größeren volkswirtschaftlichen Gewichts Europas relativ schnell scheitern.

Dabei ist es gerade das deutsche Spardiktat und die damit geforderte - sinnlose, da zum Scheitern verurteilte - Unterwerfung unter die Prämissen der kollabierenden spätkapitalistischen Wirtschaftsunordnung, die der extremen Rechten in Europa ihren gegenwärtigen Auftrieb verschafft, wie es im dritten Teil der Artikelserie dargelegt werden soll.

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