Adulte Stammzellen heilen Blinde

Eine neu zugelassene Therapie nutzt körpereigene Stammzellen, um seltene Formen der Blindheit zu heilen

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Stammzellen aus dem Auge sollen Eintrübungen der Hornhaut beseitigen und die Sehkraft wieder herstellen. Damit hat die europäische Gesundheitsbehörde erstmals eine Stammzelltherapie zugelassen, die von einem kommerziellen Anbieter entwickelt wurde. Vorerst ist die Therapie nur für eine kleine Zahl von Menschen gedacht, die ihr Augenlicht durch Verbrennungen oder Verätzungen verloren haben. Grundsätzlich könnten Stammzellen erheblich mehr Blinden helfen - doch hohe Kosten werden dem wohl vorerst im Wege stehen.

Epithel der Hornhaut aus Stammzellen. Bild:Holostem

Dieser Erfolg hätte weltweit Schlagzeilen gemacht - wenn er einem amerikanischen Biotech-Unternehmen geglückt wäre. Doch die erste kommerzielle Stammzelltherapie Europas wurde von einer kleinen italienischen Firma entwickelt, und deren Pressemitteilung zeugte von europäischer Zurückhaltung. Die Meldung wurde folglich weitgehend ignoriert. Dabei könnte die Behandlung von Blinden - zumindest langfristig - zur nächsten großen Erfolgsgeschichte der adulten Stammzelltherapie werden.

Die Entwicklung dauerte fast 25 Jahre. Bereits 1990 begannen italienische Forscher um Graziella Pellegrini und Michele de Luca, sich für Stammzellen im Auge zu interessieren. Eine geringe Zahl dieser Zellen findet sich im sogenannten Limbus, einem kleinen Areal zwischen der durchsichtigen Hornhaut und dem umgebenden Bindegewebe. Die Forscher fanden einen Weg, diese limbalen Stammzellen im Labor zu vermehren - und dann aus ihnen eine neue Hornhaut zu züchten.

In der Medizin besteht dafür dringender Bedarf: Verbrennungen am Auge können dazu führen, dass sich die Hornhaut eintrübt und die Sehkraft fast vollständig verloren geht. Bislang bestand für die Betroffenen nur wenig Aussicht auf Heilung. Die Stammzelltherapie der italienischen Forscher konnte das ändern: 81 von 106 behandelten Patienten erhielten ihre volle Sehkraft zurück, der Erfolg blieb über Jahre stabil (Rama et al., New England Journal of Medicine, 2010: Limbal Stem-Cell Therapy and Long-Term Corneal Regeneration.

Schon vor dieser Studie hatte die europäische Gesundheitsbehörde die Bedeutung dieser Stammzelltherapie erkannt und ihr eine bevorzugte Behandlung zugesagt. Und so gründeten die Forscher im Jahr 2008 eine kleine Firma mit dem Namen Holostem, um die Markteinführung vorzubereiten. Doch die erwies sich als schwierig: Die Gesundheitsbehörde baute große Hürden auf, welche die Einführung um Jahre verzögerten. Erst im Februar 2015 war es soweit: Europas erste kommerzielle Stammzelltherapie - getauft auf den Namen Holoclar - erhielt die endgültige Zulassung. Weltweit war nur Kanada schneller als Europa, wo man bereits 2012 ein Stammzellpräparat zugelassen hatte (das seltene Komplikationen bei Transplantationen mildert).

In Europa gibt es jedoch nicht viele Menschen, die von Holoclar profitieren werden - geschätzt sind es wenige Tausend pro Jahr. Die Zulassung ist beschränkt auf Erblindungen, die Folge von Verbrennungen oder Verätzungen sind. Zudem muss ein Auge des Betroffenen noch gesund sein oder zumindest einen intakten Limbus aufweisen, da dieser als Quelle für die Stammzellen unverzichtbar ist. Wenn man die Patientenzahlen als Maßstab setzt, wird Holoclar also kaum Auswirkungen haben.

Dabei ist der mögliche Patientenkreis um ein Vielfaches größer. Infektionen, Erbkrankheiten, mechanische Verletzungen und Komplikationen mit Kontaktlinsen lassen jährlich eine Vielzahl von Leuten erblinden. Doch für diese Fälle gibt es eine etablierte Alternative: die Transplantation von Hornhäuten, die von verstorbenen Organspendern stammen. Allein in Deutschland werden etwa 5000 dieser Operationen im Jahr durchgeführt. Sie ist allerdings nicht problemlos, da bei jedem fünften Patienten das Immunsystem das fremde Gewebe abstößt. Bei Holoclar - das auf körpereigenen Zellen aufbaut - wäre dieses Problem weitgehend ausgeschlossen.

Aber vor allem in ärmeren Ländern könnte eine Stammzelltherapie - zumindest in der Theorie - vielen Blinden helfen. Aufgrund der schlechten medizinischen Versorgung kann dort eine Infektion des Augenlids schlimme Folgen haben: Das Lid dreht sich nach innen und die Wimpern reiben über die Hornhaut. Die Hornhaut vernarbt und trübt vollständig ein; geschätzte 5 Millionen Menschen haben so ihr Augenlicht verloren. Holoclar könnte die Sicht wieder herstellen, doch aufgrund der zu erwartenden Kosten ist das kaum finanzierbar. Ein Trachom kann mit wenigen Euro für Antibiotika vermieden werden - Vorbeugung wäre hier wesentlich sinnvoller als eine teure Stammzelltherapie.

Doch auch für europäische Verhältnisse werden die Kosten vermutlich beträchtlich sein. Genaue Zahlen sind noch nicht bekannt, aber die Vermarktung der Therapie übernimmt der italienischen Pharmakonzern Chiesi, der offenkundig vor hohen Forderungen nicht zurückschreckt. Chiesi vermarktet auch die jüngst zugelassene Gentherapie Glybera - und verlangt erst einmal über eine Millionen Euro pro Behandlung. Holoclar wird wohl nicht annähernd so teuer werden - aber auch nicht so günstig, dass sie eine finanzierbare Alternative zu gespendeten Hornhäuten darstellt.

Bei der Begeisterung über neue Stammzelltherapien - egal ob mit adulten oder embryonalen Zellen - wird der Kostenfaktor in der Regel ignoriert. Dabei zeigt das Beispiel Holoclar deutlich: Viele denkbare Anwendungen werden daran scheitern, dass sie kaum zu finanzieren sind. Da bleibt nur die Hoffnung, dass sich im Laufe der Zeit neue Verfahren entwickelt werden, welche die Kosten der Stammzelltherapien drastisch verringern. Das Potential ist zumindest groß: Langfristig könnten die Stammzellen aus dem Auge - nach denen der Haut und des Knochenmarks - die dritte große Erfolgsgeschichte der adulten Stammzelltherapie werden.