Türkei: Liken als Straftat

27 Monate Gefängnis auf Bewährung, weil ein Journalist einen angeblich Erdogan beleidigenden Kommentar geliked hat

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Wie Hürriyet berichtet, tobt seit 3. April auf Twitter eine politische Schlacht zwischen regierungsfreundlichen und -kritischen Trollen. Die türkische Regierung hatte nach den Gezi-Protesten an die 6.000 Trolle beauftragt, für die richtige politische Stimmung zu sorgen und Kritiker mundtot zu machen. Um diese Zeit beschuldigte der damalige Regierungschef Erdogan auch die Anhänger von Gülen, über falsche Accounts in Twitter die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Nun sollen Gülen-Anhänger, denen sich andere Regierungskritiker angeschlossen haben, viele Accounts der offenbar zahlenmäßig unterlegenen "AK Trolle" in einem "spamming war" lahmgelegt haben.

Nato-Partner Türkei nimmt unter Präsident Erdogan im Vorlauf zu den Wahlen im Juni immer autoritärere Strukturen an (Erdoğan hat sein persönliches nationales Überwachungszentrum). Eben hat der Präsident das neue Polizeigesetz unterschrieben, das die Befugnisse der Sicherheitskräfte erweitert, um so etwaige Demonstrationen wie die Gezi-Proteste zu verhindern oder schnell zu unterbinden. Die Polizei kann ohne richterliche Genehmigung Verdächtige länger festhalten, sie ist ermächtigt, auch bei Demos Schusswaffen gegen diejenigen einzusetzen, die Molotowcocktails oder Ähnliches verwenden, die Strafen wurden deutlich verschärft, auch wer nur teilweise vermummt ist, kann mit bis zu 5 Jahren Gefängnis bestraft werden. Zudem darf die Polizei weitgehend nach eigener Willkür ohne richterliche Genehmigung abhören.

Der Gang in ein autoritäres System lässt sich auch daran sehen, dass immer mehr Menschen, die es nur wagen, Erdogan zu kritisieren, strafrechtlich verfolgt und bestraft werden (Der türkische Präsident sieht sich immer öfter beleidigt). Zuletzt hat es einen Journalisten in der Provinz Gaziantep erwischt, der auf Facebook unter eine Kritik ein Like gesetzt hatte. Zwar habe er es nach einer halben Stunde wieder gelöscht, sagte er, doch die Polizei war trotzdem gekommen.

Das Gericht verurteilte den Journalist wegen des Liking, das als "Beleidigung eines Staatsdieners" verstanden wird, zu einer Gefängnisstrafe von 23 Monaten, die dann auf Bewährung gegeben wurde. Zuerst hatte man eine Strafe von 28 Monaten erwogen. Der Journalist sagte, er habe nicht gewusst, dass auch das Liken eines Kommentars ein Verbrechen sei. Nach seiner Anwältin Dilber Demirel berief sich das Gericht auf ein einzelnes Wort, das es als Beleidigung betrachtete, ohne dies näher zu begründen. Sie sieht in dem Urteil, gegen das vermutlich Widerspruch eingelegt wird, eine Schwelle überschrieten, da nun auch das Teilen von Postings auf Sozialen Netzwerken kriminalisiert wird.

Normalerweise wird, so berichtet Hürriyet, eine Beleidigung mit drei Monaten Gefängnis bestraft. Wenn ein Staatsdiener betroffen ist, erhöht sich die Strafe auf ein Jahr. Wenn die Beleidigung öffentlich erfolgt, etwa in Medien, erhöht sich die Strafe nochmals. Doch das diensteifrige Gericht, das alles andere als die Unabhängigkeit der Rechtsprechung demonstrierte, überzog selbst den schon überzogenen Strafrahmen noch einmal. In Deutschland kann zum Vergleich Beleidigung mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe belangt werden. Das Strafmaß erhöht sich bei Staatsdienern nicht, nur die Verunglimpfung des Präsidenten kann mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis fünf Jahren bestraft werden. Die Verfolgung von Kritikern durch den Beleidigungsparagrafen ist allerdings in der Türkei systematisch.

Schon vor der Wahl Erdogans zum Präsidenten im August des letzten Jahrs verfolgte die Justiz Majestätsbeleidigungen, seitdem wurden 70 Menschen angeklagt und teilweise bestraft, die es gewagt haben, Erdogan oder den Regierungschef zu kritisieren oder sich über diese lustig zu machen. Reporter ohne Grenzen kritisieren den "zunehmend autoritären und repressiven Kurs" der türkischen Regierung. Die Medienfreiheit und Medienpluralität würden zunehmend eingeschränkt, während Internetzensur und Überwachung ausgebaut würden. Immer mehr Journalisten würden strafrechtlich verfolgt. Mehr als 70 Journalisten wurden angeklagt, über die Korruptionsvorwürfe gegen Mitglieder der türkischen Regierung und Erdogan selbst berichtet zu haben.

Straftat Beleidigung: Einladung zum Missbrauch

Das International Press Institute (IPI) kritisiert in ihrem im März veröffentlicht Bericht die türkische Regierung scharf, die die Medien unter ihre Kontrolle bringen will. Der Druck auf die Medien sei in den letzten Jahren gewachsen und Teil eines Trends zu einem autoritären System, "das zu einem Klima der Selbstzensur und zu einer der beunruhigendsten Situationen der Pressefreiheit in Europa geführt hat". Die Türkei sei liege weltweit mit an der Spitze im Hinblick auf die Zahl der zu Gefängnisstrafen verurteilten Journalisten. Mit den sich nähernden Wahlen im Juni 2015 wird eine "Erosion bei der Beachtung der Menschenrechte" beobachtet. Das betreffe insbesondere die Meinungs- und Pressefreit.

Vorgeworfen wird der türkischen Regierung auch, nach den Gezi-Protesten 6.000 Trolle ("AK-Trolls") angestellt zu haben, die anonyme Accounts auf Sozialen Netzwerken angelegt haben und imstande seien, die öffentliche Meinung zu manipulieren oder Internetnutzer einzuschüchtern. Das passe zur allgemeinen "antimedialen Rhetorik" und der realen Einschüchterung von Journalisten durch AKP-Mitglieder und dem Verbot, über bestimmte Ereignisse zu berichten.

Die Verfolgung von "Beleidigungen" wird ebenfalls scharf kritisiert. Eine Beleidigung des Präsidenten könne bis zu vier Jahren Freiheitstrafe nach sich ziehen. Das erhöhte Strafmaß für Staatspersonal verletze Prinzipien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und von anderen internationalen Institutionen, nach denen Regierungsaangehörige schärfere Kritik akzeptieren müssten. Der türkische Präsident lasse auch schwache Kritik gegen sich oder seine Familie verfolgen. Das stelle eine Gefahr für die Demokratie dar: "Die Leichtigkeit mit der strafrechtliche Beleidigungsgesetze verwendet werden können, um Kritik zu unterdrücken, stellt eine offene Einladung zum Missbrauch dar, und führende AKP-Politiker haben regelmäßig auf die Gesetze zurückgegriffen, um gegen ihre Kritiker vorzugehen."