Deutsche Leserforen in der Hand von Putins Trollen?

Was ist dran an der These einer russischen Unterwanderung der Kommentarspalten von Spiegel Online, FAZ, Süddeutscher Zeitung und Co.?

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Seit Beginn der Ukrainekrise und der Zunahme kritischer Leserkommentare wird immer wieder über den Einfluss verdeckt arbeitender russischer Lohnschreiber berichtet, die als vermeintliche deutsche Leser im Sinne Moskaus hierzulande Propaganda verbreiten würden ("Putins Trolle" und der freie Fluss der Information). Soweit die These, vorgebracht nicht zuletzt von einigen der führenden Köpfe im deutschen Journalismus.

Zuletzt hatte etwa der stellvertretende Chefredakteur des ZDF, Elmar Theveßen, diesbezüglich von einer "Propagandamaschine im Internet" gesprochen (Medien: Der verdrängte Vertrauensverlust). Gleichen Sinnes vermutete Spiegel-Autor Christian Neef mit Blick auf die kritischen Leserkommentare unter seinen eigenen Ukraine-Artikeln "gesteuerte Propagandakampagnen". Auch FAZ-Mitherausgeber Günther Nonnenmacher sah in der Welle abweichender Lesermeinungen schon vor einiger Zeit eine "ganz offensichtlich eine konzertierte Aktion" (Leserkommentare abschalten?).

Und so werden die Genannten die in dieser Woche unter anderem in der FAZ, der Bild-Zeitung, dem Focus, der Welt und vielen anderen Zeitungen verbreitete Story der Nachrichtenagentur AFP wohl auch mit einem zufriedenen Nicken zur Kenntnis genommen haben.

Denn dort packt eine dieser russischen Online-Trolle, Ljudmilla Sawtschuk, nun aus und erklärt das System: Es gäbe 800 Euro pro Monat, die Lohnschreiber müssten dafür in Onlineforen und Blogs Putins Politik loben und "seine Gegner niedermachen". Die Arbeit selbst fände in einem "grauen Gebäude" in Sankt Petersburg statt und sei hart, wie die FAZ in einer Übersetzung der AFP-Story schreibt:

Pausenlos müssten die Mitarbeiter große Mengen Kommentare im Internet veröffentlichen, längst nicht jeder habe das Zeug dazu. Viele Leute würden entlassen, weil sie die geforderten Ansichten nicht in die richtigen Worte kleiden könnten, die Rotation sei hoch. Die Arbeitsstelle ist laut Sawtschuk weitgehend abgeschottet und streng überwacht, unter den Mitarbeitern herrscht eine Atmosphäre der Angst: "Überall gibt es Kameras."

Der Bericht, den verschiedene Zeitungen mit einem Bild von Frau Sawtschuk in einem dunklen Zimmer illustrierten, erfüllt somit so ziemlich alle Klischees, die man sich zur Kreml-Bürokratie denken kann: graue abgeschottete Gebäude, in denen Herden von uniformen "Schreibsoldaten" angstvoll ihren mühsam monotonen Dienst verrichten. Oder sind das am Ende doch eher Projektionen westlicher Büroangestellter?

Was die Verbindung der Trolle zur russischen Regierung angeht, formulieren die Berichte viel im Konjunktiv, wie etwa die FAZ:

Das Haus in dem die Staatstrolle sitzen, wird im Norden St. Petersburgs verortet. Die 'Internet Research Agency' wie sie genannt wird, soll angeblich von einer Holdinggesellschaft finanziert werden, die dem Restaurantbesitzer, Kreml-Caterer und gutem Freund Putins Yevgeny Prigozhin gehören soll.

Ähnlich unbestimmt schreibt aktuell der Guardian:

Bekannt gewordene Dokumente verbinden die nebulöse Firma, welche die Trollfabrik betreibt, mit Strukturen, die dem Kreml nahe stehen, doch bislang gibt es keine harten Beweise dafür.

Trotzdem fanden die zahlreichen, auf der AFP-Story von Marina Koreneva basierenden Artikel ihr Publikum - und zwar insbesondere unter den Alphajournalisten selbst. Per Twitter verbreiteten etwa leitende Journalisten der Zeit die Kunde vom FAZ-Artikel. Zunächst warb Gero von Randow, Ex-Chefredakteur von Zeit Online, mit den Worten "Putins Trollfabrik" für den Text der Konkurrenz. Dem schlossen sich per Weiterleitung dann Jochen Bittner sowie Monika Pilath, Chefin vom Dienst bei Zeit Online, an. Offenkundig sprach der Artikel genau das aus, was in den Redaktionen viele längst vermutet hatten: Nicht echte deutsche Leser kritisieren die eigene, oft russlandkritische Arbeit, sondern vor allem bezahlte Handlanger Putins.

Doch stand das überhaupt im Artikel? Liest man diesen genau, so ergibt sich lediglich, dass Frau Sawtschuk in russischen Onlinemedien schrieb - keine Spur also von Propagandaarbeit in den Kommentarspalten von Zeit Online oder FAZ. Zumindest der Focus-Bericht gibt allerdings einen Hinweis in dieser Richtung. Dort heißt es, dass "englischsprachige Trolle, die Medien wie die BBC oder CNN mit Kommentaren überschwemmen, deutlich üppiger entlohnt werden. Umgerechnet mehr als 1000 Euro seien pro Monat möglich." Quelle für diese Aussage ist ein Interview von Radio Free Europe mit dem Ex-Troll Marat Burkhard, der sich bei dem Unternehmen nach eigener Aussage unter Vortäuschung falscher politischer Ansichten eingeschlichen hatte und dann dort zwei Monate arbeitete.

Nun ist Radio Free Europe im Kontext einer Debatte über Propaganda sicherlich die am denkbar wenigsten vertrauenswürdige Quelle. Es ist selbst ein Propagandawerkzeug aus der Zeit des Kalten Krieges und wurde nachweislich viele Jahre von der CIA finanziert.

Insgesamt scheint es zur Frage, ob russische Trolle im Regierungsauftrag in deutschen Leserforen schreiben, nach wie vor keine klaren Erkenntnisse zu geben. Eine Mitarbeiterin von Zeit Online sagte vor einigen Wochen gegenüber Telepolis zwar, dass es "zu Ukraine-Themen massive Manipulationsversuche in den Kommentarbereichen gegeben" habe, in der von ihr auf Nachfrage präsentierten Quelle, einem Artikel von Anfang 2014, hieß es aber nur:

Beweisen lässt sich die Vermutung, dass bezahlte Kommentatoren aktiv sind, allerdings nicht.

Auch in einem anderen Zeit-Artikel vom vergangenen Frühjahr musste der Autor einräumen:

Vor allem in Deutschland, England und den USA hat eine Debatte über manipulierte Kommentare begonnen, doch so vielfältig die Verdachtsmomente sind, so dürftig sind die Beweise. Und nicht alle Wege führen nach Moskau. (…) International haben vor allem der britische Guardian und die NZZ aus der Schweiz versucht, die prorussische Kommentarflut redaktionell aufzuarbeiten, in Deutschland beispielsweise die FAZ. Außer den Indizien, die in Richtung Moskau zeigen, mussten alle Medien jedoch auch bestätigen, dass zahlreiche Beiträge, die eher dem Westen als Russland die Schuld für die Ukraine-Krise zusprechen, von altgedienten Kommentatoren stammen, die ihre Argumente sprachlich einwandfrei vortragen.

Was bleibt, ist wohl das Unbehagen vieler Journalisten in den Leitmedien, die mit der Masse von Leserkritik offenbar überfordert sind. Doch die Debatte zur Einseitigkeit der Russland-Berichterstattung und dem daraus resultierenden Vertrauensverlust vieler Leser und Zuschauer muss geführt werden - unabhängig davon, wo und wie russische Trolle nun ihr Unwesen treiben.

Naiv wäre in jedem Fall die Annahme, dass nur eine Konfliktseite solche Methoden anwendet - siehe Radio Free Europe, dessen Rolle in den aktuellen Berichten zur "Trollfabrik" sicher noch gründlicher analysiert werden sollte, gerade auch von den vermeintlich so um Objektivität bemühten Leitmedien. Erinnert sei an die - übrigens bestätigten - Berichte zu den massiven Aktivitäten des US-Militärs, mithilfe falscher Online-Identitäten pro-amerikanische Propaganda in den sozialen Netzwerken zu verbreiten und so den Anschein eines Konsenses unter den Lesern vorzutäuschen. Die Rechtfertigung des US-Militärs gegenüber Kritikern seinerzeit: Man würde nur das Ausland mit der manipulativen Propaganda beglücken.

Der im Artikel erwähnte Jochen Bittner (Die Zeit) meldete sich nach Veröffentlichung und legt Wert auf folgende Feststellung: "Ich denke keineswegs, dass wir vor allem von 'Trollen' kritisiert werden, sondern in der großen Mehrheit von echten Lesern."