Kiew will Autonomie erst nach den Wahlen gewähren

Die ausgehebelte Bestimmung des Minsk-II-Abkommens

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Das Minsk-II-Abkommen ist brüchig. Die OSZE berichtet täglich von militärischen Scharmützeln, wobei sich selten belegen lässt, welche Seite gerade das Abkommen missachtet. Und während Human Rights Watch im Juli vergangenen Jahres der Ukraine Kriegsverbrechen vorwarf, sprach Amnesty International im Oktober beide Seiten des Konflikts schuldig. So erklärte Jovanka Worner, die Ukraine-Expertin von Amnesty International: "Es gibt keine Zweifel an illegalen Hinrichtungen und Gräueltaten, die von prorussischen Separatisten und ukrainischen Milizen in der Ostukraine begangen worden sind. Es ist jedoch schwierig, das Ausmaß festzustellen."

Die Staats- und Regierungschefs von Weißrussland, Russland, Deutschland, Frankreich und der Ukraine am 12. Februar 2015 in Minsk. Bild: Kreml

Die EU hat beschlossen, die Sanktionen gegen Russland nur bei vollständiger Umsetzung von Minsk II aufzuheben (Kampf um die Gewährung des Sonderstatus für Donezk und Lugansk nach dem Minsker Abkommen). Die USA unterstützen diese Haltung. Es ist etwas überraschend, dass die EU nur einseitig Russland bei Verletzung des Abkommens droht, denn es ist zweifellos, dass die Ukraine derzeit das Minsk-II-Abkommen aktiv unterläuft.

Neben dem Waffenstillstand und dem Abzug schwerer Waffen beinhaltet das Abkommen nämlich auch einen weiteren zentralen Punkt. Innerhalb von dreißig Tagen musste das ukrainische Parlament eine Resolution verabschieden, die genau die Regionen um Donezk und Lugansk bestimmt, die autonom werden sollen. Ebenso soll ein Dialog einsetzen, um die genauen Modalitäten lokaler Wahlen festzulegen. Erstaunlicherweise wird dieser Punkt des Abkommens von Minsk II bis auf wenige Ausnahmen so gut wie gar nicht in den deutschen Medien wahrgenommen

Das ukrainische Parlament verabschiedete mit einer leichten Verspätung eine Resolution, die die vertraglich zugesicherte Autonomie vorsieht. Hierbei ist jedoch nicht nur problematisch, dass die von Kiew beschlossene Grenzziehung auf der Frontlinie vom September 2014 basiert und damit die Separatisten zu Gebietsrückgaben zwingt, sondern auch dass die Autonomie erst nach den lokalen Wahlen am 25. Oktober in Kraft treten soll. Diese Bedingung, die sich nicht im Abkommen Minsk II findet, führt nicht nur zu einer bloßen zeitlichen Verzögerung, sondern auch dazu, dass aller Wahrscheinlichkeit nach die beiden Regionen niemals ihre versprochene Autonomie erhalten und das Friedensabkommen scheitern wird.

Eine Verordnung des ukrainischen Parlaments hat die Regionen um Donezk und Lugansk, die nach dem Abkommen Minsk II eine Autonomie erhalten sollen, zu "okkupierten" Gebieten erklärt. Die Ukraine besteht darauf, dass lokale Wahlen nach ukrainischem Recht abgehalten werden sollen. Begründet wird dies dadurch, dass eine Anerkennung der Autonomie ohne Wahl nach ukrainischem Recht einer Legitimierung der - aus ukrainischer Sicht - unrechtmäßigen Separatisten gleichkäme. Diese Positionierung hat gravierende Konsequenzen. Das ukrainische Recht fordert nämlich, dass alle Rebellen und russischen Kämpfer das Land zu verlassen haben, bevor die Wahlen stattfinden können. Im Klartext hieße dies, dass die Separatisten die im Abkommen vertraglich zugesicherte Autonomie erst dann erhalten, wenn sie die Ukraine verlassen haben.

Eine Wahl unter Ausschluss der Separatisten

Es ist zudem fraglich, welche Parteien sich bei einer lokalen Wahl präsentieren dürften, da in der Ukraine Separatismus verboten ist. Die Unterstützung des Separatismus ist einer der Gründe für den Antrag am 8. Juli 2014, die Kommunistische Partei zu verbieten (zudem wurden 308 Strafverfahren gegen Kommunisten eröffnet). Ein Verbot der Verwendung kommunistischer und nationalsozialistischer Symbole und Propaganda ist bereits vom Parlament verabschiedet worden, ausgenommen bleibt, was in Israel aufmerksam verfolgt wird, die von Stepan Bandera geführte Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die mit den Nazis zeitweise kollaborierte und auf die sich Rechtsnationalisten weiterhin beziehen.

Die kafkaeske Konsequenz wäre, dass nicht nur alle militärisch aktiven Separatisten das Land bereits verlassen haben müssten, sondern auch, dass kein Ukrainer in diesen Gebieten, der eine Form des Separatismus unterstützt, sich zur Wahl stellen dürfte, so dass eine lokale Regierung gewählt werden würde, die den Anschluss an Kiew sucht. Wie aktuelle Umfragen belegen, ist die klare Mehrheit der Ostukraine nicht westorientiert (Die Ukraine ist weiterhin zerrissen).

Noch bedenklicher stimmt es, dass im ukrainischen Parlament sogar heftig um diese Resolution gerungen wurde, da die Opposition zum Teil eine Autonomie bedingungslos ablehnt. Julia Timoschenko erhob gar die Ablehnung zu einer moralische Frage. Die Tatsache, dass Poroschenko offenbar nur einen klaren Bruch des Abkommens als Resolution durch das Parlament bringen konnte, weil ein Teil grundsätzlich Punkte des Friedensabkommens ablehnt, zeigt, auf welche tönernen Füssen Minsk II in Kiew steht.

Noch bevor die Waffenruhe offiziell Mitte Februar in Kraft getreten war, hat Russland einen Resolutionsentwurf in den Weltsicherheitsrat eingebracht, der die Vereinbarungen von Minsk II festhalten sollte, und einstimmig angenommen wurde. Daher untergräbt die Ukraine nicht nur das Friedensabkommen, sondern auch die Resolution des Weltsicherheitsrates. Russland hat eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates gefordert (Kampf um die Gewährung des Sonderstatus für Donezk und Lugansk nach dem Minsker Abkommen).

Kein Protest aus dem Westen gegen Abkommensbruch

Wer auf eine eindeutige Reaktion des Westens in Angesicht dieses Vertragsbruchs wartete, tat dies vergebens. US-Vizepräsident Joe Biden gratulierte Poroschenko zu der Resolution und die deutsche Regierung hüllte sich in den berühmten Mantel des Schweigens, dem sich auch ein Großteil der deutschen Presse anschloss. Einzig in Frankreich wurde Kritik laut. So schreibt Le Monde, dass aus der Umgebung des Präsidenten François Hollande starke Bedenken über die besonderen Konditionen zu hören sind, die Kiew einfordert, die aber im Abkommen nicht vorgesehen sind.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow kritisiert die Resolution heftig, da diese nur dazu führe, dass die Gebiete nur dann autonom werden, wenn sie von jemanden regiert werden, der der Regierung in Kiew passt. "Das ist ein Versuch, alles worauf wir uns geeinigt haben, auf den Kopf zu stellen." Lawrow schlägt dennoch vor, dass die Konfliktparteien auch Waffen mit einem Kaliber unter 100 Millimeter zurückziehen sollen.

Es ist richtig, dass der Westen darauf besteht, dass beide Seiten den Waffenstillstand und den Abzug schwerer Waffen entsprechend des Abkommens Minsk II durchführen und einhalten (wobei allerdings nur Russland gedroht wird). Aber auch die Ukraine muss ihrer vertraglichen Verpflichtung nachkommt und die Autonomie der Regionen um Donezk und Lugansk anerkennen. Es ist leicht zu erkennen, dass die vertraglich zugesicherte Autonomie für die Separatisten ein ganz zentraler Bestandteil des Abkommens ist. Wer also nur über den immer wieder unterlaufenen Waffenstillstand berichtet, schreibt nur die halbe Wahrheit. Gerade Deutschland, das das Abkommen von Minsk II mit erarbeitet hat, muss auf dessen kompletter Umsetzung bestehen.