"Wir haben mehr Macht, als wir denken"

Kapitalismus, Krise und Befreiung: Gespräch mit dem Bestsellerautor und geistigen Vater der Occupy Wall Street Bewegung, David Graeber

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Prof. David Graeber lehrt Anthropologie an der London School of Economics. Er ist Aktivist in zahlreichen antiautoritären und anarchistischen Netzwerken wie dem Direct Action Network sowie Occupy Wallstreet und gilt als Erfinder der berühmten Parole "We are the 99 Percent.". In Deutschland erfreute sich sein Bestseller "Schulden: Die ersten 5 000 Jahre" großer Beliebtheit. Telepolis sprach mit ihm.

David, in deinem bekanntesten Buch hast du dich mit der Geschichte der Schulden der letzten 5000 Jahre beschäftigt. Lass uns mal über die letzten 30, 40 Jahre sprechen. Wieso ertrinkt die Welt in Schulden, wieso steigt die Verschuldung seit den 1980er Jahren sehr viel schneller als das Bruttoinlandsprodukt (BIP)?

David Graeber: Ja, zugleich hat sich auch das Wirtschaftswachstum verlangsamt. Auf der einfachsten Ebene ließe sich sagen, dass Schulden ein Versprechen auf zukünftige Produktivität darstellen. Die Schulden türmen sich auf, weil wir versprechen, mehr zu produzieren und wieder die Wachstumsraten zu erreichen, die typisch für die keynesianische Ära waren - und die in der neolibealen Ära nicht mehr erreicht wurden. Dies macht die Differenz zwischen den beiden Geschichtsperioden aus.

In meinem Buch habe ich versucht, die weitergehende Frage dieser längeren Geschichtsperioden zu verstehen. Wenn du diese Problematik vor dem Hintergrund der Zyklen des Nachkriegskapitalismus betrachtest, dann kann festgehalten werden, dass zwischen 1945 und 1975, während der keynesianischen Phase des Nachkriegskapitalismus, die Bürgerrechte der weißen Mittelschicht in den nordatlantischen Ländern an bestimmte wirtschaftliche Garantien gekoppelt waren. Eine davon bestand darin, dass Produktivitätssteigerungen zu einem Anstieg der Löhne führten. Eine andere Garantie umfasste zudem das Sozialsystem, das sich in der Nachkriegszeit herausbildete.

Und dies stoppte in den 1980ern...

David Graeber: Es stoppte schon in den 1970ern. Und deswegen wird oft argumentiert, vor allem von den Post-Worker-Theoretikern, dass es sich hierbei um eine Krise der Inklusion gehandelt habe. Diese wirtschaftlichen und sozialen Garantien kamen ursprünglich einer spezifischen Schicht zugute, der weißen Mittelschicht der nordatlantischen Länder, die letztendlich einem Deal zwischen den Klassen gleichkamen: "Wenn ihr radikale Politik aufgebt und nicht zu Kommunisten werdet, garantieren wir euch ein stabiles Leben."

Nahezu alle sozialen Kämpfe der 1960er und 1970er drehten sich darum, dass immer mehr Menschen in diese Mittelschicht hineindrängten, da sie nicht Teil dieses ursprünglichen Deals waren, und "Was ist mit uns?" fragten. Du hast die Bürgerrechtsbewegung in Amerika, du hast Menschen im globalen Süden, die auf Gleichberechtigung und Gleichstellung drängen.

Occupy Wall Street, 12.Tag. Bild: David Shankbone/CC BY 3.0

Und selbstverständlich kann der Kapitalismus so nicht funktionieren, indem eine Mehrheit der Arbeiterschaft durch solch einen Deal sozial ruhiggestellt wird. Deswegen zerbröckelt das System - und dieses Zerbröckeln, diese Krise nimmt die Form von Finanzkrisen, ökologischen Katastrophen und Ölkrisen an. Nachdem dieser Deal aufgekündigt wurde und die Löhne nicht mehr an die Produktivität gekoppelt wurden, stieg die Produktivität immer weiter an, während das Lohnniveau stagnierte - und die Schulden fungierten als eine Art Ersatz.

Die Kredite scheinen so eine ganze Reihe von Problemen zu lösen, bis wir wiederum eine andere Art von Inklusionskrise haben, nämlich der zuvor ausgeschlossenen Klassen und Schichten, die in das Finanzsystem drängten, bis das System abermals kollabiert. Und wiederum haben wir eine Reihe von Krisen, die das System erschüttern.

In meinem Buch schlage ich aber eine viel weitergehende historische Perspektive vor. Ich beschreibe dort historische Verschiebungen zwischen Phasen reellen und virtuellen Geldes, in denen sich dessen Charakter wandelt. Ursprünglich wurde Geld als ein Mittel der Verrechnung verwendet und nicht als ein physisches Zeichen. An bestimmten Punkten in der Weltgeschichte wird physisches Geld zur Norm, und die Menschen reimaginieren Geld als eine materielle Substanz. Doch ursprünglich ist Geld ein immaterielles Geld. Und in diesen Phasen immateriellen Geldes müssen Mechanismen vorhanden sein, um Menschen mit Macht davon abzuhalten, alle anderen durch Schulden zu versklaven.

Im Altertum, in Mesopotamien, in biblischen Zeiten waren Schuldenerlässe üblich. Im Mittelalter - ebenfalls eine Phase virtuellen Geldes - gab es hingegen Zinsverbote. Es gab also übergeordnete Institutionen, zumeist religiöser oder kosmologischer Natur, die intervenierten, um sicherzustellen, dass die Schulden- und Kreditsysteme nicht ausarteten.

Während der Nixon-Administration, 1971, fingen wir an, vom Goldstandard zum virtuellen Geld überzugehen und gaben die Goldbindung des Dollars auf, was wiederum die rasche Finanzialisierung des Kapitalismus auslöste und etwa den Kreditkartenboom befeuerte. Alle denken nun, dies sei etwas Neues, aber, wie dargelegt, dies ist nicht der Fall. Und auch in diesem Fall wäre es notwendig gewesen, irgendeine Institution zu schaffen, die Schuldner vor Kreditgebern/Gläubigern schützen würde.

Stattdessen haben wir das genaue Gegenteil getan: Wir haben große übergeordnete Institutionen wie den IWF geschaffen, die Gläubiger vor Schuldnern schützen. Es ist folglich nicht gerade überraschend, dass du seitdem eine Reihe von Schuldenkrisen hasst, die im globalen Süden anfingen, und sich seitdem immer weiter fortbewegen.

Geld und Militär

Ist das wirklich sinnvoll, dass Geld einfach als etwas Ahistorisches und Überzeitliches anzusehen. Geld hatte im Altertum, in Mesopotamien oder auch im Mittelalter eine ganz andere Funktion als im Kapitalismus. Diese langfristige Einteilung des Geldes in "reelle" und "virtuelle" Phasen scheint somit höchst problematisch.

David Graeber: Historisch betrachtet gab es diese Verschiebungen vom reellen zum virtuellen Geld. Und es kommt selbstverständlich darauf an, wie wir Kapitalismus definieren. Natürlich gibt es viele Dinge, die nur im Kapitalismus zu finden sind, aber wenn du dir die Sequenzen der historischen Ereignisse anschaust, dann wirst du einige Überraschungen erleben. Ein wichtiges Argument im Buch besteht gerade darin, darzulegen, dass Geld sich konstant verändert im Laufe der Geschichte.

Der Umschwung von Kreditgeld zum physischen Geld im Altertum war begleitet von dem Aufbau großer Imperien mit riesigen stehenden Heeren und der Ausbreitung der Sklaverei. All dies passiert auch im 16. Jahrhundert: Es passiert auf andere Weise, aber du hast hier ebenfalls die Rückkehr zum Goldstandard, zu großen Imperien, stehenden Heeren von Söldnern und zur Sklaverei. Dies wird wohl kein Zufall sein. Der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, wächst gerade daraus hervor.

Er wächst aus der Militarisierung des Spätmittelalters hervor, aus der Entstehung dieser geldhungrigen europäischen Militärstaaten, die im permanenten Kriegszustand miteinander sind.

David Graeber: Exakt. Es gibt diese spezifischen Formen des Geldes, die typisch für den Kapitalismus sind, wie das Zentralbankgeld, das einen öffentlich-privaten Charakter hat. Diese sehr komplexen Formen sind spezifisch für den Kapitalismus, genauso wie die Bond- und Aktienmärkte. Aber dies entsteht schon vor der industriellen Revolution, als der Kapitalismus noch aus einer Reihe von kolonialen Eroberungszügen bestand, die etwa von der East India Company oder der Hudson Bay Company durchgeführt wurden.

Die Aktienmärkte wurden gerade in diesem Kontext erschaffen - und nicht im Kontext des industriellen Kapitalismus. Dies waren militärische Abenteuer, die auf verschiedenen Formen der Zwangsarbeit beruhten, die Lohnarbeit kommt erst später auf.

Ein zivilisierter Kapitalismus?

Als wie schwerwiegend schätzt du die gegenwärtige Krise des Kapitalismus ein? Und in welchem Zusammenhang steht diese Systemkrise zu all den Schuldenbergen, die sich um uns auftürmen? Gibt es einen Zusammenhang mit dem Ende des fordistischen Booms, den du beschrieben hasst? Vielleicht verhält es sich ja gerade umgekehrt, und die Inklusion der Mittelklasse, von der du sprachst, war gerade aufgrund dieses in den 1970ern auslaufenden Nachkriegsbooms überhaupt erst möglich?

David Graeber: In Bezug auf den fordistischen Boom gibt es eine große Debatte, wieso der Kapitalismus so merkwürdig operierte zwischen dem Zweiten Weltkrieg und den 1970er Jahren. Die von Picketty ausgelöste Diskussion brachte dies zurück ins öffentliche Bewusstsein, dass diese im Neoliberalismus kultivierte Idee, dass der Kapitalismus durch sein barbarisches Stadium durchschreiten müsse, um sich zu zivilisieren, falsch ist. Ich habe in den 1990er Jahren oft mit Russen gesprochen, die diese Ansicht vertraten, dass der Kapitalismus sich "zivilisieren" werde.

Ich antwortete ihnen immer, dass "der Kapitalismus in Amerika sich nur wegen Euch zivilisiert" habe. Theoretisch gesprochen bleibt die Frage, in welchem Ausmaß dieser Nachkriegsboom eine Reaktion auf aufkommende Alternativen zum Kapitalismus war oder eine Folge neuer Technologien, die ihn erst ermöglichten. Hierüber gibt es eine komplexe Debatte. Es bleibt aber festzustellen, dass der Kapitalismus in dieser Phase tatsächlich sehr außergewöhnlich operierte.

Was die Frage des Charakters der gegenwärtigen Krise angeht: Ich bin Optimist und gehe davon aus, dass die gegenwärtige Krise des Kapitalismus sehr schwerwiegend ist (lacht). Es gibt innerhalb des Kapitalismus Kräfte, die diesen vor sich selbst zu retten versuchen. Es gibt Leute in Silicon Valley, auch außerhalb der Internetbranche, die die Ideen umfassender technologischer Innovationen wiederbeleben wollen, um zurückzugehen zu den Visionen des Weltraumzeitalters, der Science Fiction. Diese Ideen wurden ja nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion größtenteils aufgegeben.

Sie wollen den Expansionsdrang des Kapitals auf das Weltall ausdehnen. Zurück zu Blade Runner.

David Graeber: Ja, sie realisieren, dass das System nur durch schnelles technologisches Wachstum weiter bestehen kann. Und der Kapitalismus hat sich in den letzten 30 Jahren zu einer dieses Wachstum hemmenden Kraft entwickelt.

Lass uns etwas spezifischer werden in Bezug auf das Krisengeschehen: Wie schätzt zu die Lage und die Krisendynamik im Mittleren Osten ein? Wieso kollabieren dort reihenweise die Staatsapparate?

David Graeber: Was wir im Mittleren Osten sehen, das sind die Folgen des graduellen Zusammenbruchs des Amerikanischen Empire. Es ist aber noch nicht klar, in welchem Ausmaß das US-Empire die Hürde darstellte, die den Kapitalismus in seiner Entwicklung behinderte. Die Debatte kreist oftmals um die Frage, inwiefern ein neuer Hegemon die USA beerben wird, etwa China oder eine andere Kombination von Staaten. Dies ist noch absolut unklar.

Wenn du dir aber die Schuldenkrise anschaust, dann war der Widerstand gegen die Schuldenkrisen durchaus erfolgreich. Die meisten Leute wissen es nicht, aber die Dritte Welt hat hier gewonnen.

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