Bislang größte Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer

Die Antimigrationsparteien beuten die Ertrunkenen zur Stimmungsmache aus, die Regierungen sind aus Angst vor ihnen gelähmt, ein wirkliches Rezept hat niemand

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Wie viele Menschen ertrunken sind, wird man wohl nie genau wissen. Bislang geht man von 700 Flüchtlingen aus, die in der bislang schwersten Katastrophe auf dem Mittelmeer gestorben sind, als ihr Schiff auf dem Weg nach Lampedusa etwa 100 km vor der libyschen Küste gekentert ist. Mittlerweile ist von 950 Menschen die Rede, die sich auf dem Schiff befunden haben, darunter sollen 200 Frauen und 40-50 Kinder sen. Nur 28 Menschen konnten gerettet werden (Erneut Schleuserschiff gekentert). Die Flüchtlinge, viele sollen von den Schleusern unter Bord eingesperrt worden sein, sollen aus Algerien, Ägypten, Somalia, Nigeria, Senegal, Mali, Sambia, Bangladesch und Ghana gekommen sein.

Bild: Guardia di Finanza

Der italienische Regierungschef Renzi forderte gestern einen EU-Krisengipfel für Migration. Italien sieht sich mit dem Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer alleine gelassen, nachdem die EU sich weigerte, die weitgehend von Italien bezahlte militärische Rettungsmission Mare Nostrum mit zu finanzieren. Die italienische Regierung stellte diese im November 2014 ein, die EU startete die Frontex-Mission, die weniger Geld benötigt und vor allem darauf ausgerichtet ist, Flüchtlinge abzuwehren, aber den Bereich vor der libyschen Küste nicht mit kontrolliert. Die rechten Parteien üben Kritik an der angeblichen Scheinheiligkeit der Regierung und machen diese für die Toten verantwortlich, weil sie den Flüchtlingsstrom nicht schon an der Küste Libyens abwehren und Schleuser und Flüchtlinge ermutigen, so etwa Matteo Salvini, der Parteichef der Lega Nord. Alessandro Di Battista von der 5-Sterne-Partei macht die frühere Regierung dafür verantwortlich, weil sie den militärischen Sturz des Gaddafi-Regimes unterstützt habe.

Stark gegen Frontex hatte sich unter anderem die britische Regierung gemacht, die vor den anstehenden Wahlen vor der rechtspopulistischen UKIP Sorge hat, deren Kern neben dem Austritt aus der EU eine Antimigrationspolitik ist. Sie hatte der Rettungsaktion vorgeworfen, den Flüchtlingsstrom anzuheizen und Schlepper zu ermutigen, weil Flüchtlinge und Schlepper davon ausgehen könnten, dass über Rettungseinsätze die Flüchtlinge nach Europa kämen (Wegschauen, statt Flüchtlinge retten). Kritiker sprachen davon, dass die Beendigung von Mare Nostrum letztlich eine Entscheidung war, Flüchtlinge zur Abschreckung ertrinken zu lassen. Großbritannien beteiligte sich nicht einmal an Triton. Gerne werden die Schleuser für die Toten verantwortlich gemacht, darin sind sich der britische Außenminister Philip Hammond und der deutsche Innenminister Lothar de Maizière einig. Die Logik besticht. Gäbe es keine Schleuser, würden keine Flüchtlinge übers Meer kommen und wäre das Flüchtlingsproblem gelöst.

Gleichwohl nutzt UKIP-Chef Nigel Farage ähnlich wie andere rechtspopulistischen Parteien den Tod der 700 Flüchtlinge, um innenpolitisch Punkte zu machen und die Antimigrationspolitik zu bestärken. Farage macht David Cameron und den früheren französischen Präsidenten Sarkozy, die fanatisch gewesen seien, für den Tod verantwortlich, weil der Exodus "direkt" durch die Intervention des Westen in den Bürgerkrieg in Libyen verursacht wurde. Das ist freilich nur bedingt richtig, denn auch zu Zeiten von Gaddafi kamen Flüchtlinge aus Libyen nach Italien, allerdings hat die die EU 2010 noch mit Gaddafi eine "Vereinbarung über technische Hilfe und Kooperation" geschlossen, dabei ging es vor allem um Flüchtlingsabwehr. Italien hatte dafür Patrouillenschiffe an Libyen übergeben. Berlusconi schwärmte, man werde jetzt mehr Gas und Öl aus Libyen erhalten und weniger Flüchtlinge (Lizenz zum Töten?).

Nach Farage hat die Nato Libyen destabilisiert und die Massenflucht verursacht. Er sieht die EU aber nicht in der Pflicht, nach der Flüchtlingskatastrophe etwas zu machen. Die Argumentation ist eigenwillig. Es sei die europäische Reaktion gewesen, die überhaupt erst dieses Problem geschaffen habe: "Wir sollten ehrlich sein und sagen, dass wir direkt dieses Problem verursacht haben." Milde äußerte er: "Ich habe kein Problem damit, einigen Christen aus diesen Ländern den Flüchtlingsstatus zu gewähren."

Die EU-Außen- und Innenminister werden sich heute auf einer Dringlichkeitssitzung treffen. Gerufen wird überall, dass sich etwas verändern muss. Das ist aber schon lange bekannt. Weil in vielen Ländern rechte und ausländerfeindliche Protestparteien stark werden, ist zu erwarten, dass wieder keine einheitliche europäische Flüchtlingspolitik kommen wird, die nicht nur auf Abwehr setzt, sondern geregelte Einwanderung ermöglicht. Und eine solidarische Verteilung der Lasten dürfte auch nicht zu erwarten sein. Wird es eine Wiederauflage von Mare Nostrum geben? Unwahrscheinlich, auch wenn nach dem Ende der Rettungsmission die Zahl der Flüchtlinge gestiegen ist, also die These nicht stimmt, dass Rettungsmissionen wie Mare Nostrum den Flüchtlingsstrom verstärken.

Eine Bekämpfung der Schlepper wird aufgrund des failed state Libyen ebenso wenig kurzfristig möglich sein, wie die Verhinderung der Abfahrt der Flüchtlinge oder der Aufbau von Lagern, in denen beispielsweise Asylanträge gestellt werden könnten. Letzteres will man nicht, ebenso wenig wird man angesichts des Scheiterns der militärischen Interventionen Staaten finden, die Libyen mit Truppen "stabilisieren" wollen. Und Luftangriffe wie in Syrien oder im Irak gegen den Islamischen Staat würden in Libyen - wie in den beiden Ländern auch - keine stabile Regierung an die Macht bringen können, sondern wohl noch zu mehr Chaos führen.