Die Funktion der Armut

Warum die Finanzpolitik (nicht nur) der EZB nicht zu höheren Inflationsraten führt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die grundlegende Operation des Wirtschaftssystems, nämlich Zahlungen, evoziert eine eigentümliche perspektivische Verzerrung. Gesehen wird vorderhand, wohin das Geld fließt, in den Blick gerät, dass Zahlungen Zahlungsfähigkeit ermöglichen. Die Welt scheint in Ordnung, solange Geld zirkuliert (Umlaufimpuls-Vollgeld). Die Tatsache, dass jede Zahlung im genau gleichen Masse Zahlungsunfähigkeit verursacht, wie sie Zahlungsfähigkeit ermöglicht - zu zahlender und bezahlter Betrag addieren sich stets auf Null -, ist weniger offenkundig. Gerade in Deutschland unterliegt ein Korollar dieses Sachverhalts, die Nullsumme von Exporten und Importen, dem gleichen Zerrbild. Deutschlands Exportorientierung kann deshalb kein Allheilmittel zur Krisenbekämpfung sein. Auch wenn sich der Export(vize)weltmeister in Besitz eines Hammers sieht, stellen sich nicht alle Probleme als Nägel dar.

Auf sich selbst bezogen stellen Zahlungen also lediglich de-motivierende Nullsummenspiele dar. Zur Zirkulation von Zahlungen kann es erst durch Selbstreferenzunterbrechung kommen, indem Produktions- und Konsumtionskreislauf, durch den Faktor der Profitabilität aufeinander bezogen, erfolgreich auseinander gezogen werden. Angesichts der perspektivischen Verzerrung, der Zahlungen unterliegen, ist dennoch notwendig, die Binsenweisheit hervorzuheben (Paradoxie der Wirtschaft), dass nicht nur der Zahlungsfähigkeit ermöglichende Produktionskreislauf wirtschaftlich motiviert ist, sondern auch der komplementäre, üblicherweise marginalisierte Zahlungsunfähigkeit reproduzierende Konsumtionskreislauf aus Steuern und Löhnen:

Rentabilität bzw. Profitabilität wird [...] als derjenige Faktor ausgezeichnet, der ein Kalkül als wirtschaftlich markiert; und die Ausgabendispositionen des Staates und der Kommunen ebenso wie der Konsum in Privathaushalten wird als nicht wirtschaftlich motiviert angesehen. Sie kommen deshalb nur in der Form von Kosten wirtschaftlich in Betracht. [...] Dem offiziellen Kreislauf [sich reproduzierender Zahlungsfähigkeit, J.R.] wird, in der Theorie der Wirtschaft [...], der Primat zugesprochen. Man blickt in die Richtung, in der [...] das Geld fließt.

Niklas Luhmann

Im Zuge der Globalisierung kam es zu einer effektiven Marginalisierung des Konsumtionskreislaufs. Im internationalen Lohn- und Steuerwettbewerb konnten "Ausgabendispositionen des Staates und der Kommunen ebenso wie der Konsum in Privathaushalten" erfolgreich als "Kosten" minimiert werden und sich gerade in Deutschland zunehmend Dumpingsteuern und -löhne etablieren. Aktuell nur notdürftig substituiert durch exorbitante und dennoch zunehmende private wie öffentliche Verschuldung.

Die Gefahr, dass die Zirkulation von Zahlungen blockiert wird, wächst mit dem Erfolg der effektiven Marginalisierung des Konsumtionskreislaufs. Die zunehmende Verschuldung erlaubt lediglich, drohende Zahlungsblockade aufzuschieben, Zeit zu kaufen. In dieser Situation kommt den Zentralbanken offenkundig eine immer wichtigere Rolle zu. Die Selbstreferenzunterbrechung der für sich tautologischen Operation der Zahlung erfolgt nämlich zudem dadurch, dass der Zahlungsverkehr an externe Bedingungen geknüpft wird. Leistete über lange Zeit der Goldstandard diese Funktion, verlässt man sich nunmehr - bezogen auf eine mittlerweile globale Wirtschaft wird mehr Flexibilität benötigt - auf die als unabhängig gedachten Institutionen der Zentralbanken.

Aus offenkundigen Gründen aber ist klar, dass die Zentralbanken mit dieser Aufgabe überfordert sind. Die Unabhängigkeit dieser Institutionen ist keineswegs gewährleistet. Zunächst ist nämlich zu berücksichtigen, dass die Zentralbanken auch angesichts einer faktisch bestehenden Weltwirtschaft immer noch national oder allenfalls kontinentalnational (wie die EZB) organisiert sind. Einem Weltwirtschaftssystem stehen also unterschiedliche, zudem nationalpolitisch beeinflusste Notenbankpolitiken gegenüber. Dies macht eine ohnehin problematische, nämlich etwa durch Leitzinsen nur irritierend, und nicht determinierend wirkende Einflussnahme auf die Weltwirtschaft fast unmöglich. Zudem ist zu beachten, dass Geldschöpfung nicht nur kontrolliert durch Zentralbanken erfolgt, sondern auch relativ hemmungslos durch die Kreditgewährung von Geschäftsbanken (Giralgeldschöpfung).

Im Grundsatz erstaunt deshalb nicht, dass die Zentralbanken relativ erfolglos im Erreichen ihrer Ziele sind. Wenn aber, bezogen auf das Weltwirtschaftssystem, ohnehin von einer Dysfunktionalität einer fragmentierten Notenbankpolitik auszugehen ist, muss gerade deshalb gefragt werden, was aktuell die (zumal deflationäre) Stabilität der Weltwährungen dennoch gewährleistet; und dies obwohl mehrheitlich von Seiten der Notenbanken eine Politik betrieben wird, die (mäßige) Inflation herbeiführen soll. Die Kreditbedingungen wurden in der Senkung von Leitzinsen auf nahe Null extrem gelockert, die Zentralbanken kaufen - wie aktuell vor allem die EZB - in "quantitativer Lockerung" massiv Staatsanleihen auf. Was also sorgt für die derzeit sogar ungewollte Geldwertstabilität, wenn die Institutionen der Zentralbanken offenkundig als externe, tautologische Selbstreferentialität von Zahlungen unterbrechende Instanzen ausfallen?

Armut sorgt für Geldwertstabilität

Wir gehen davon aus, dass es mittlerweile die Armut selbst ist (bzw. eine zunehmende Verarmung), die Geldwertstabilität gewährleistet. Armut kann aktuell als eine intern "externalisierte" Instanz der globalisierten Wirtschaft verstanden werden, die, ähnlich dem Goldstandard, für eine Verknappung finanzieller Mittel sorgt.

Armut, zunehmende staatliche wie private Verschuldung erzwingt, dass Zahlungen, "quantitativer Lockerung" und Nullprozent-Leitzinspolitik zum Trotz, nur noch zögerlich erfolgen können, zu wenig konsumiert und der Deflation Vortrieb geleistet wird. Der Konsumtionskreislauf, der Zirkel sich reproduzierender Zahlungsunfähigkeit, kann durch eine zunehmend kleiner werdende Bevölkerungsschicht der Reichen nur noch mangelhaft und wirtschaftsschädigend bedient werden.

In dieser Perspektive wird deutlich, dass die Notenbanken derzeit mehrheitlich mit der extremen Erleichterung der Kreditbedingungen und einem "quantitative easing" in Tat und Wahrheit Deflations- und nicht Inflationspolitik betreiben. Indem der Verschuldung sowohl privater wie öffentlicher Haushalte zugunsten einer kleinen Schicht von Personen Vortrieb geleistet wird, werden die finanziellen Mittel - jedenfalls für die breite Masse der Konsumwilligen bzw. -bedürftigen - verknappt. Die Zunahme von Schulden bedeutet in jedem Fall Knappheit finanzieller Mittel, eine Deflationierung von Geldmitteln für die - wirtschaftlich relevante - Mehrheit privater (lohnabhängiger) wie öffentlicher (steuerfinanzierter) Konsumenten. Dies ist selbst dann der Fall, wenn Schuldner für ihre Verschuldung sogar bezahlt werden, also negative Kreditzinsen gewährt werden.

In den aktuellen Notenbankpolitiken kommt einmal mehr die erwähnte perspektivische Verzerrung zum Ausdruck, die Auffassung nämlich, dass allein der Produktionskreislauf, der Zirkel sich reproduzierender Zahlungsfähigkeit, wirtschaftlich relevant und entsprechend zu fördern sei. Entsprechend sorgt die aktuelle Zentralbankenpolitik lediglich dafür, dass die Börsenkurse von Unternehmen künstlich in die Höhe getrieben werden. Hingegen werden Löhne und Steuern, Ausgabendispositionen von staatlichen wie privaten Haushalten, als zu vermeidende Kosten mittlerweile nicht nur minimiert, sondern können, in der Erleichterung der Kreditbedingungen durch niedrige Leitzinsen, sogar profitabel bewirtschaftet werden.

Indem sich etwa Staaten zunehmend an den internationalen Finanzmärkten finanzieren, statt durch direkte Entnahme von Steuern aus dem Produktionskreislauf, kommt es zu einer Perversion von Zahlungsverpflichtungen. Zahlungsansprüche gegenüber dem Produktionskreislauf (etwa im Sinne von Unternehmens- und Gewinnsteuern) werden zu Zahlungsverpflichtungen gegenüber Gläubigern am Finanzmarkt. Gläubiger werden perverser Weise so zu Schuldnern gemacht. Die weltwirtschaftlich festzustellenden deflationären Tendenzen, die selbst eine "ultraexpansive" Geldpolitik scheitern lässt, erstaunt also angesichts der zunehmenden privaten und öffentlichen Verschuldung nicht.

Klar ist, dass die derzeitige, die Verschuldung (Verarmung) vorantreibende Finanzpolitik eine drohende Zahlungsblockade, einen Kollaps des Finanzsystems, allenfalls aufschieben kann. Die aktuelle Finanzpolitik ist als ein scheiternder Versuch eines fragmentierten, nationalstaatlich organisierten Notenbankkomplexes zu verstehen, weltwirtschaftliche Verhältnisse positiv zu beeinflussen. Faktisch aber lotet diese Finanzpolitik lediglich die Grenze des Schuldenstandes von Staaten (bzw. Privathaushalten) aus, ab der Zahlungsblockaden auftreten; eine Grenze, die weltwirtschaftlich im Jahr 2008 akut wurde und mittlerweile wieder, beginnend mit Griechenland, erreicht wird.

In vorliegender Perspektive stellen sich die steuerlichen Ausgabendispositionen des Staates bzw. der Kommunen und privaten Konsum ermöglichende Löhne nicht lediglich als zu marginalisierende Kostenfaktoren dar. Es handelt sich vielmehr durch den Produktionskreislauf zu finanzierende "Konsumguthaben", die in der so ermöglichten Zirkulation fortlaufender Zahlungsunfähigkeit durch Konsum erst selbst wiederum die Zirkulation fortlaufender Zahlungsfähigkeit durch Produktion notwendig macht. Beide Kreisläufe stehen also in einem komplementären Verhältnis. Eine erfolgreiche Marginalisierung eines Kreislaufs würde unweigerlich zum Zusammenbruch dieses "Doppelkreislaufs"1 führen.

Was ist demnach zu tun? Eine, wenn auch schlechte Lösung wäre, sogenanntes, u.a. von Milton Friedman vorgeschlagenes "Helikoptergeld" zu realisieren; zumindest wäre damit zu rechnen, dass so Konsumenten direkt begünstigt würden. Allerdings stellt sich das Problem fundamentaler dar, da es nicht ausreichend wäre, durch "Impulse" eine schwächelnde Weltwirtschaft "anzukurbeln".

Notwendig wäre vielmehr, die ohnehin mehrheitlich spekulativen (und nicht produktiven) Vermögen massiv zu besteuern. Staatlich koordiniert, um Steuerflucht zu vermeiden, sind die Staatshaushalte durch Umverteilung mit Hilfe etwa von Vermögenssteuern, Börsenumsatzsteuern, Gewinn- und Unternehmenssteuern zu sanieren. Zudem muss, ebenso staatlich koordiniert, um Lohndumping zu vermeiden, das Lohnniveau durch die Einführung von üppigen Mindestlöhnen angehoben werden. Bedingungslose Grundeinkommen könnten Konsum auch dann ermöglichen, wenn aus "strukturellen" Gründen, etwa durch den zunehmenden Wegfall von Arbeitsplätzen durch Rationalisierung und Automatisierung, Lohneinkünfte wegfallen.

Generell geht es darum, den weltwirtschaftlichen Lohn- und Steuersenkungswettbewerb, der ermöglicht, "Konsumguthaben" als lediglich Profit einschränkende Kosten zu minimieren, zu begrenzen.