Ukraine-"Realitätscheck": Berlin laviert weiter

Laut Bundesregierung haben Rechtsextreme in Kiew kaum Einfluss. Präsident Janukowitsch habe sich 2014 "seinen Amtspflichten entzogen". Die Hintergründe des Maidanmassakers bleiben weiter unklar

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Die Debatte um den sogenannten Ukraine-"Realitätscheck" des Auswärtigen Amtes (Land of Confusion) wird immer bizarrer. Nachdem die Fraktion der Linken auf Initiative der Abgeordneten Sevim Dagdelen kürzlich einen umfangreichen Fragenkatalog zu der im Februar an die Presse gelangten umstrittenen Argumentationshilfe des Amtes zusammengestellt hatte, übermittelte die Bundesregierung nun ihre Antwort. Das Papier, abgesandt von Michael Roth (SPD), dem Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, liegt Telepolis vor.

Bekanntlich war schon im ursprünglichen "Realitätscheck" argumentiert worden, dass Rechtsextreme nur ein Randphänomen in Kiew seien. Diese hätten "zahlenmäßig nur einen kleinen Anteil" an den Protestierenden auf dem Maidan ausgemacht und seien an der im Februar 2014 gebildeten Übergangsregierung nicht beteiligt gewesen. Rechtsnationale Kräfte hätten auch später "keine entscheidende Rolle in der ukrainischen Politik" gespielt - so das Auswärtige Amt.

Nachdem in einer Kleinen Anfrage der Linken an die Bundesregierung nun detailliert Namen und Positionen von Rechtsextremen in der ukrainischen Politik benannt wurden (etwa Tetjana Tschornowol, Andrij Parubij u. a.), versucht das Auswärtige Amt jetzt, auf diese Einzelbeispiele einzugehen und die Vorwürfe zu entkräften. So heißt es in der aktuellen Antwort:

Dabei weist die Bundesregierung darauf hin, dass die Aktivität von Frau Tschornowol in der UNA-UNSO (einer ultrarechten Vereinigung; Anmerkung P.S.) in den Zeitraum Ende der 1990er / Anfang der 2000er und die Beteiligung von Herrn Parubi an der Gründung der Sozial-Nationalen Partei der Ukraine in den Zeitraum Anfang der 1990er fallen. Seither haben beide ihre politische Zugehörigkeit gewechselt, waren u. a. in der Vaterlandspartei und seit 2014 in der Partei Volksfront aktiv, für die sie in die Rada gewählt wurden. Die Bundesregierung sieht keine Veranlassung, diese beiden Politiker aufgrund ihrer vormaligen Aktivitäten in der Gegenwart als extreme Rechte zu bezeichnen.

Auswärtiges Amt

Alles in Ordnung also? Reicht der Wechsel der Mitgliedschaft in eine prowestliche Partei aus, um jeglichen Extremismusvorwurf zurückweisen zu können? Die Argumentation erscheint zumindest fraglich, denn unabhängig von der jeweiligen Parteizugehörigkeit, die in der Ukraine oft wenig dauerhaft ist, da Parteien eher als kurzfristige politische Vehikel fungieren, bleibt es weitgehend unstrittig, dass Politiker wie Parubi oder Tschornowol Ansichten vertreten, die man in Deutschland am ehesten der NPD zuordnen würde.

Wo verläuft die rote Linie?

Die Argumentation der deutschen Bundesregierung profitiert in diesem Zusammenhang von einer inhaltlichen Unschärfe der verwendeten Begriffe. So werden Rechte mit Zugang zur Macht mal als "rechtsnational" oder "rechtspopulistisch" bezeichnet, was offenbar noch als akzeptabel gilt - im Gegensatz zum Vorwurf des Faschismus. Jedoch werden die verschiedenen Begrifflichkeiten nie klar inhaltlich definiert und es bleibt unklar, wo für die Bundesregierung, abseits von Worthülsen, hier politisch die rote Linie verläuft. Den Eiertanz illustriert auch folgender Auszug aus der aktuellen Antwort des Auswärtigen Amtes:

Die Bundesregierung hält es für verfehlt, zwischen den Bezeichnungen 'rechtsnational' und 'rechtspopulistisch und nationalistisch' einen Widerspruch konstruieren zu wollen. Bereits in ihrer Antwort auf die schriftliche Frage 16 der Abgeordneten Sevim Dagdelen auf Bundestagsdrucksache 18/1041 vom 1. April 2014 verwies sie auf Aussagen von Vertretern jüdischer Verbände und Organisationen, wonach die Partei 'Swoboda' ihr Programm und ihre Mitglieder keineswegs pauschalierend als 'faschistisch und antisemitisch' bezeichnet werden können.

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Und zu Oleg Ljaschkos "Radikaler Partei", die bei den letzten Wahlen immerhin mehr als eine Million Stimmen holte, heißt es beschönigend:

Nach Einschätzung der Bundesregierung ist die Radikale Partei als in hohem Maße populistische Partei anzusehen, die stark auf ihren Vorsitzenden Oleg Ljaschko zugeschnitten ist. Aus ihrem Parteiprogramm lässt sich nach Kenntnis der Bundesregierung nicht ableiten, dass sie als rechtsextrem einzustufen wäre.

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Im Wortsinne, bezogen auf das Parteiprogramm, mag das stimmen. Jedoch unterschlägt das Auswärtige Amt, dass Ljaschko, der für Entführungen und offene Gewalt gegenüber seinen Gegnern bekannt ist, das rechtsextreme Bataillon Asow mitgründete, und dass über Platz 3 der Liste seiner Radikalen Partei etwa der Anführer des Bataillons Aidar ins ukrainische Parlament einzog. Laut Amnesty International ist dieser paramilitärische Verband in schwere Kriegsverbrechen verwickelt. Die ARD meinte:

Besonders berüchtigt ist das Bataillon Aidar, zu dem rechtsgerichtete ukrainische Nationalisten gehören, von denen sich einige mit Hakenkreuzen und anderen Nazi-Symbolen schmücken, als Abzeichen auf der Tarnkleidung oder als Tätowierung auf dem Körper. Die Anführer und viele Mitglieder sind bekennende Neonazis und Mitglieder von rechtsextremen Gruppen.

Tagesschau

Zu diesen rechten Freiwilligenbataillonen, die jeweils dem Befehl der sie bezahlenden Oligarchen folgen und die mittlerweile von der Poroschenko-Regierung legalisiert wurden (was die Verteilung der realen Macht recht gut illustriert), heißt es von Seiten des Auswärtigen Amtes nun aber lediglich:

Nach Einschätzung der Bundesregierung ist es verfehlt, aus dem Umstand, dass das Führungspersonal einzelner Freiwilligenbataillone rechtsextreme Ansichten vertritt, darauf zu schließen, dass dies für die Mehrheit der Freiwilligenbataillone oder gar für alle Freiwilligenbataillone gelte.

Auswärtiges Amt

Einige Rechtsextreme, die Kriegsverbrechen im "ISIS-Stil" (O-Ton Newsweek) zu verantworten haben, sind also kein Problem, solange nicht "alle" ein Hakenkreuz auf dem Helm tragen? Solche rhetorischen Winkelzüge erscheinen zunehmend fragwürdig angesichts einer kaum zu leugnenden Realität.

Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen, Initiatorin der erwähnten Anfrage an die Bundesregierung, fordert nun, wie sie Telepolis sagte, dass deutsche Finanzhilfen für Kiew eingefroren werden sollten, solange die ukrainische Führung weiterhin solche Gruppen an der Regierung beteiligt (die Radikale Partei stellt derzeit den stellvertretenden Ministerpräsidenten). Auch sollten Finanzhilfen von einer Umsetzung der Minsker Vereinbarung durch Kiew abhängig gemacht werden. Die zitierten Einschätzungen der Bundesregierung zu den Freiwilligenbataillonen bezeichnet Dagdelen als "unerträgliche Verharmlosung".

Abseits des Streits zwischen deutscher Regierung und Opposition geht es bei der Betrachtung der Situation in der Ukraine nicht nur um den Einfluss der Rechtsextremen in der Regierung (deren reale Macht kleiner ist, als die öffentlichen Verlautbarungen glauben machen wollen), sondern auch um die Wirkung der Rechten in der Gesellschaft insgesamt. Dort haben sie sich mittlerweile fest verankert, da auch extrem rechte Ansichten inzwischen salonfähig geworden sind. Rechtsextremisten sind seit dem Machtwechsel 2014 außerdem tief in die militärischen und polizeilichen Strukturen vorgedrungen (Polizei und Rechter Sektor arbeiten in Kiew zusammen) - was von offizieller Seite in Deutschland weitgehend negiert wird.

Den Hinweis auf die führenden Rollen von Rechtsextremen wie Andrij Parubij (erster stellvertretender Vorsitzender des Parlamentes) oder Wadim Trojan (Polizeichef der Region Kiew) kontert das Auswärtige Amt in seiner nun vorliegenden Antwort auf die parlamentarische Anfrage der Linken auch erst gar nicht, sondern reagiert nur trocken mit dem Hinweis, die jeweiligen Funktionen der Genannten seien der Bundesregierung "bekannt".

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