Baltimore: Gewaltausschreitungen folgen Polizeigewalt

Der Gouverneur des US-Bundesstaates Maryland ruft den Ausnahmezustand aus und die Nationalgarde zu Hilfe. Am Anfang der Ereignisse steht die Verfolgung eines "verdächtigen Schwarzen"

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Aus "45 rätselhaften Minuten" am 12. April, die die Lokalzeitung Baltimore Sun zu erhellen versucht, resultiert zwei Wochen später ein Gewaltausbruch, der einen Militäreinsatz im Inneren zur Folge hat. Der Gouverneur des Bundesstaates Maryland, Larry Hogan, hat gestern den Ausnahmezustand für Baltimore erklärt und die Nationalgarde zur Hilfe gerufen. Bis zu 5.000 Mann sollen die überforderten Polizeieinheiten der Stadt verstärken.

Vorausgegangen waren in den Tagen zuvor massive Gewaltausschreitungen, Plünderungen (und hier), gezielte Würfe von Betonbrocken auf Polizeiwagen. Die Polizei setzte Tränengas ein und war mit der Situation überfordert. Auch Gebäude sollen in Brand gesteckt worden sein, wobei die Täterschaft und die genauen Umstände noch unklar sind. Die Bürgermeisterin von Baltimore sprach von "Kriminellen".

Ausschnitt aus einem Video

Bis vergangenen Samstag verliefen die Proteste ziemlich friedlich, heißt es in Medienberichten. Die Proteste waren eine Reaktion auf den Tod eines jungen Schwarzen namens Freddie Gray, der am 19. April seinen Verletzungen erlag, die er unter noch ungeklärten Umständen bei einer Festnahme erlitt. Am gestrigen Montag wurde er beerdigt und die Gewalt der Proteste, die sich übers Wochenende aufgeschaukelt hatte, eskalierte.

"Große Gewalteinwirkung" beim Festgenommenen

Laut Polizei verstarb der 25jährige Freddie Gray, der bei der Einlieferung am 12. April in das Maryland Shock Trauma Center in ein Koma gefallen war, in Folge einer "tragischen Rückenmarksverletzung". Familienmitglieder berichten von einer Operation, die nötig war, weil drei Halswirbel gebrochen waren. Auch sein Kehlkopf war eingedrückt.

Nach ärztlicher Expertise geht einem Genickbruch große Gewalteinwirkung - "a significant amount of force" - voraus, wie etwa bei einem heftigen Verkehrsunfall.

Schon im Polizeifahrzeug sei aufgefallen, dass Gray nach einer Zeit nicht mehr sprechen konnte und große Schwierigkeiten mit dem Atmen hatte. Gray war Asthmatiker. Aus den bisher veröffentlichten Polizeiangaben gehe aber nicht hervor, unter welchen Umständen genau es zu dieser haarsträubenden Verschlechterung des Zustandes des Festgenommenen kam, so der eingangs erwähnte Bericht der Baltimore Sun über die mysteriösen 45 Minuten, die Gray in Gewahrsam der polizei verbrachte, bis die Notärzte eintrafen.

"Er rannte ohne Grund davon"

Strittig ist schon der Grund für die Festnahme. Weil Gray weggelaufen war, als sich eine Polizeistreife auf dem Fahrrad näherte? Bis heute ist der ausschlaggebende Grund unklar. Angst wäre eine Erklärung. Gray hielt sich in einem Viertel auf, das für Drogenhandel bekannt ist, er rannte ohne Grund davon. "He fled unprovoked", wird aus einem Polizeibericht zitiert. Die Polizisten verfolgen ihn sofort.

Wie sie ihn genau zu Fall brachten, ist nicht bekannt. Das im Netz kursierende Video seiner Festnahme zeigt die Situation nachdem Gray von den Polizisten übermannt wurde. Sehr deutlich sind Schmerzensschreie zu hören und man sieht, wie die Polizisten einen Mann zum Polizeiwagen schleppen, der seine Beine hängen läßt, der offensichtlich aus eigener Kraft nicht mehr gehen kann und vor schmerzen schreit.

Der Polizeiwagen hielt später mindestens einmal auf seiner fahrt zum Polizierevier, was dem zuvor ging und was danach passierte, ist ein Rätsel, so die Lokalzeitung. Es hätte Verkehrsüberwachungskameras gegeben, die vielleicht Aufklärung verschaffen können, aber es heißt, dass die Polizei erst danach gefragt habe, als die Aufzeichnungen die Speicherfrist überschritten haben.

Es gebe einiger solcher Schlampigkeiten und Ungereimtheiten in der offiziellen Darstellung der Geschehnisse im Zusammenhang mit der Verhaftung, und es falle auf, dass sich die Aussagen der Polizei von denen der Augenzeugen sehr deutlich unterscheiden.

Ein bekanntes Muster und Abweichungen

Das reiht sich ein in das bekannte Muster, das zuletzt für viele Nachrichten sorgte (Weißer US-Polizist ermordet Schwarzen): Allein im März kamen mehr als einhundert Menschen in den USA durch Polizeigewalt ums Leben (Dial 911 for Murder). Baltimores Polizei hat keine gute Vorgeschichte, was gewaltsame Polizeiübergriffe anbelangt, die mit Gesetzen nicht zu vereinbaren sind. Über 100 Gerichtsurteile in den letzten vier Jahren, bei denen es um Überschreitungen der Polizei ging, um gewalttätige Übergriffe etc., fielen zugunsten der zivilen Kläger aus.

Doch weicht Baltimore in einem nicht unwichtigen Punkt von der bekannten Schablone ab.

Sowohl die Bürgermeisterin Stephanie Rawlings-Blake wie auch Polizeichef Anthony Batts sind schwarz - und sie haben es sich zum Ziel gesetzt, genau mit dieser Polizeivergangenheit zu brechen. Baltimores Polizei wird gerade reformiert.

Ausschnitt aus einem Video

Es macht einen Unterschied, wenn nicht ein weißer Bürgermeister, sondern eine schwarze Bürgermeisterin von "Verbrechern" spricht, die sich an kriminellen Akten beteiligen, die nichts mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung und legitimen Protesten zu tun hätten - Rawlings-Blake hat sich nicht Vorwürfen rassistischer Vorurteile zu stellen, wenn sie von thugs spricht.

Aber realpolitisch, in einer aufgeladenen Situation, ist dieser Unterschied nur von begrenzter Wirkung. Weil die Konflikte schon zu sehr in Fleisch und Blut übergegangen sind? Weil die Aggression gegenüber Polizei, Einrichtungen und Eigentum anderer, mit einer Wut auf Verhältnisse zu tun hat, bei der die Diskriminierungen durch die Hautfarbe zwar eine relevante, aber nicht die Hauptrolle spielen?

Oder weil die friedlichen Proteste, die von der Bürgermeisterin und vom Polizeichef unterstützt wurden, die Polizeigewalt im neuen Fall nicht richtig ansprachen, wie ihnen vorgeworfen wird.

Die friedlichen Protestierer konnten mit ihrem Engagement die Empörung lange Zeit in Schach halten. Dann haben sie gegen den Gewaltausbruch verloren.

Nicht zufällig ist Baltimore Schauplatz einer bekannten Serie, die sich sehr realistisch mit Polizeiarbeit und Ordnungsmechanismen beschäftigt. In einer Telepolis-Rezension der Serie "The Wire" (Policing Dystopia) heißt es, dass der Schöpfer der Serie und Baltimore-Lokalpatriot David Simon seine Stadt als Universalstadt darstellte, "in der zwar an sympathischen Menschen mit hehren Zielen kein Mangel herrscht, aber trotzdem alle irgendwie immer das Falsche tun".

Die gegenwärtigen Ausschreitungen hält Simon unmissverständlich für unangebracht und falsch:

If you can’t seek redress and demand reform without a brick in your hand, you risk losing this moment for all of us in Baltimore. Turn around. Go home. Please.