"Der Philosophie kommt die Aufgabe der Kommunikation zu"

Klaus Mainzer über "Big Data" und die Algorithmisierung der Welt

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Der Wissenschaftsphilosoph Klaus Mainzer (geb. 1947) forscht und lehrt an der Technischen Universität München und ist Direktor der Carl-Linde-Akademie. Bekannte von ihm verfasste Bücher sind "Leben als Maschine? - Von der Systembiologie zur Robotik und Künstlichen Intelligenz", "Der kreative Zufall - Wie das Neue in die Welt kommt" und "Komplexe Systeme und Nichtlineare Dynamik in Natur und Gesellschaft". 2014 erschien sein bislang jüngstes Werk "Die Berechnung der Welt - Von der Weltformel bis zu Big Data". Im Gespräch mit Reinhard Jellen bekennt er sich dazu, Grundlagen erklären zu wollen, und beklagt, dass Mathematiklehrer heute häufig keine Ahnung mehr von Physik haben.

Herr Mainzer, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede existieren allgemein zwischen Philosophie und Naturwissenschaft?

Klaus Mainzer: Zunächst einmal verstehe ich Philosophie aus der antiken Tradition heraus. Nach Aristoteles beschäftigt sich Philosophie mit den Prinzipien der Wissenschaften, d.h. Philosophie ist für mich immer deren Grundlagenforschung. Die Wissenschaften sind also gewissermaßen die ausdifferenzierten Instrumente, die im Laufe der Jahrhunderte immer feinteiliger entwickelt wurden, aber im Grunde stehen am Anfang die Prinzipien des Wissens - und so hat auch Aristoteles die Philosophie aufgefasst.

Wenn Sie auf diese klassische Tradition, die das gesamte Abendland geprägt hat, zurückgehen, gehören zur Philosophie so fundamentale Disziplinen wie die Logik (das logische Schließen), die Physik (Physis, die Natur) und die Metaphysik, in der die Prinzipien des Wissens behandelt werden, auf welche die einzelnen Wissenschaften aufbauen.

Dann kam bei Aristoteles auch ganz wesentlich die Ethik hinzu, wobei diese aber bei ihm nicht wie heutzutage der Ethik-Unterricht an den Schulen zu verstehen ist, als ein Alternativfach für Religion: Ethik war für Aristoteles die Zusammenfassung der Prinzipien des Zusammenlebens der Menschen in der Polis, wobei im Zentrum die Frage nach ganz praktischen Dingen wie dem Haushalt stand. Diese Oikonomia ist die Geburt der Ökonomie.

Das bedeutet, dass in der Ethik im aristotelischen Verständnis also schon der Keim für das angelegt ist, woraus dann Jahrtausende später die Ökonomie und die Sozialwissenschaften wurden. Philosophie bedeutet also für mich die Prinzipien des Wissens und die ontologischen Prinzipien der Welt.

Wie ist heutzutage das Verhältnis zueinander?

Klaus Mainzer: In der Neuzeit geschieht nun etwas Entscheidendes: Newton schreibt Ende des 17. Jahrhunderts ein Buch mit dem programmatischen Titel "Principia mathematica philosophiae naturalis" - also die mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie. Newton meint also, dass die Prinzipien der Naturphilosophie mathematisch zu erfassen und diese mathematischen Prinzipien auf Messaussagen und Experimente zu beziehen sind.

Das ist nun nicht total neu, weil dergleichen auch schon bei Aristoteles angelegt ist, der Naturforschung auf Beobachtung und Erfahrung begründet verstand, aber zumindest nach meinem Verständnis nimmt das Ganze in der Neuzeit eine neue Qualität an. Dennoch war der Lehrstuhl von Newton in Cambridge einer für natural philosphy und wenn wir uns seinen großen Landsmann Adam Smith ansehen, der hatte einen für moral philosophy.

Das bedeutet, auch Smith macht principia, weitgehend sogar principia mathematica, wenn wir die Ökonomie nach ihrer Entwicklung nehmen. Das verschärft sich durch den Anspruch, dieses Wissen auf Erfahrung, Messung und Beobachtung zu begründen. Gleichwohl bleibt die Philosophie in dieses ganze System eingebettet.

So ist übrigens auch weitgehend das Verständnis der Philosophie im angloamerikanischen Bereich und das trifft auch meine Auffassung von Philosophie. In Deutschland bekommt die ganze Sache ab der dritten Kritik von Immanuel Kant eine Wendung und radikalisiert sich im deutschen Idealismus: Es wird versucht, neben der Wissenschaft etwas Eigenes als reines Gedankengebäude zu bauen.

Das ist eine spezielle deutsche Entwicklung. Die Angloamerikaner nennen das zurecht continental philosophy und diese Art von Philosophie prägt nach wie vor gerade im deutschen Sprachraum das Verständnis von Philosophie.

Meine Auffassung von Philosophie ist jedoch das ursprüngliche Verständnis für Philosophie, wie es seit Aristoteles über Newton und Smith bis hin zu Max Weber geübt wird. Das heißt: Philosophie ist eingebettet in die Wissenschaft und beschäftigt sich mit deren Grundlagen und Prinzipien dieses Wissens. Wenn ein Ökonom, Physiker und Sozialwissenschaftler beginnt, zu den Grundlagen seiner Disziplin herunterzusteigen, dann wird er automatisch zum Philosophen.

Ich könnte mir vorstellen, dass den Fragen, mit denen ich mich beschäftige (die Grundlagen der Naturphilosophie, der Physik), sehr kompetent auch in den Naturwissenschaften nachgegangen wird. Somit wird Philosophie solange bestehen, wie es Wissenschaft gibt. Denn Menschen werden sich immer fragen, was die Grundlagen und Prinzipien eines bestimmten Wissens sind - auch bei den Spezialisierungen, die sich im Laufe Jahrhunderte ausgebildet haben.

Wenn man sowohl Philosophie als auch Wissenschaften auf die gesellschaftliche Praxis bezogen sieht, ergeben sich also Verselbständigungstendenzen gar nicht?

Klaus Mainzer: Bei uns steht Wissenschaft auf der Hintergrundsfolie der Gesellschaft, weil die Gesellschaften in der Neuzeit zunehmend auf das technisch-wissenschaftliche Wissen aufbauen. Zwar beruhte auch die antike Kultur auf technischem Wissen und auf Kenntnissen von Leuten wie Archimedes, die bis in die Kriegskunst, die Verwaltung, den Bau der Aquädukte hineinreichten. Ohne dieses technisch-wissenschaftliche Wissen wäre die römische Kultur nichts - und sie macht auch ihre Überlegenheit aus.

Dieser Ansatz wird in der Neuzeit aber nicht nur fortgesetzt, sondern radikalisiert - und wird so zu einem Kennzeichen menschlicher Kultur überhaupt, denn der ganze Planet hängt mittlerweile von diesem Wissen ab. Insofern sieht man heute ganz deutlich den Zusammenhang von Technik, Wissenschaft und Gesellschaft.

Aber nach den Gesamtzusammenhang forscht nicht nur die Philosophie. Wir dürfen Philosophie nicht nur auf Ethik und Gesellschaft reduzieren, denn es geht nach wie vor in der Philosophie um so grundlegende Fragen wie: Was ist eigentlich diese Welt? Wie ist diese Welt entstanden? Das sind Fragen, die heutzutage von der Physik und Kosmologie in Angriff genommen werden, dies aber auch nur zu einem bestimmten, messbaren Grad. Trotzdem geht die menschliche Fragestellung nach dem Ursprung des Seins weiter.

Das sind nichts anderes als die uralten vorsokratischen Fragen. Das gehört nach wie vor zum Kernbereich der Philosophie und ist jenseits der Frage nach der Bedeutung der Gesellschaft angesiedelt. Natürlich kann man nach den Konsequenzen für unsere Gesellschaft fragen, aber darüber hinaus ergeben sich viel weitergehende Fragen. Die Philosophie beschäftigt sich mit weit mehr als Ethik und Gesellschaftsfragen. Ich sage sogar mit dem Blick auf Aristoteles: Die Ethik ist ein Nebenfach der Philosophie. - Das bedeutet aber auch, dass sie kein Nebenfach der Religion ist.

Wir haben es mit einer voranschreitenden Erfassung und Veränderung der Welt durch Wissenschaft, Technik und Ökonomie zu tun. Durch diesen Prozess geraten uns die Probleme der Welt dermaßen komplex, dass es kaum mehr möglich scheint, diese auf Basis einer einzelnen Wissenschaft zu lösen. Müssen auf diesem Gebiet die einzelnen Wissenschaften mehr in Kommunikation zueinander treten und sollte hier die Philosophie eine Moderatorenfunktion übernehmen?

Klaus Mainzer: Diese Frage berührt die Positionierung der Philosophie heute und ich würde sie, so wie Sie sie formuliert haben, unterschreiben. Denn die Wissenschaften spezialisieren sich weitgehend mit einer derartigen Beschleunigung, dass die Übersicht verloren geht. Das ist nicht ganz neu, aber diese Tendenz hat sich aktuell in einer unglaublichen Weise verschärft. Deshalb braucht es hier eine Rückbesinnung. 2008 wurde aus diesem Grund die Carl-von-Linde-Akademie der Technischen Universität München gegründet, die sich vorher auf das technisch-naturwissenschaftliche Gebiet zurückgezogen hatte.

Als man merkte, dass die dort ausgebildeten Ingenieure, die in die Industrie gehen sollten, nicht mehr darauf vorbereitet sind, in eine soziale Einheit zu treten, in der sie ganz praktisch in Teams mit Juristen, Verwaltungsfachleuten, Managern, Soziologen et cetera kommunizieren müssen, wurde erkannt, dass die Zusammenhänge erst vermittelt und erlernt werden müssen. Das hängt mit einer Fehlentwicklung im hiesigen Schulsystem zusammen: Bei uns sollte zumindest der Idee nach die Allgemeinbildung an den Schulen vermittelt werden.

Erst auf der Universität sollte dann die Spezialisierung beginnen. Jedoch sind bereits unsere Schulen hochdisziplinär entwickelt: Heutzutage haben beispielsweise Mathematiklehrer keine Ahnung mehr von Physik, weil sie nur Mathematik studiert haben. Schon an der Schule geht also der Zusammenhang verloren.

Nun kommen diese Leute an die Universitäten und werden dermaßen spezialisiert hochgetrimmt, das die Physiker nicht einmal die Physik lernen, sondern nur einen Zweig davon. Dann machen sie ihren Master und werden auf den Rest der Menschheit losgelassen. Dieser einseitige Prozess des Wissensaneignung setzt sich dann fort: Bestenfalls haben sie Grundlagen in ihren Disziplinen kennengelernt, so dass sie in der Lage sind, sich in die neuen Entwicklungen einzuarbeiten, aber auch das ist heutzutage nicht garantiert.

Das gilt nicht nur für die Naturwissenschaften: Jemand, der heute Rechtsanwalt lernt und keine Ahnung von der technisch-physikalischen Welt hat, lebt in einem Elfenbeinturm. Denn das Rechtsverständnis hängt wesentlich auch von unserem Kausalitätsverständnis ab. Wenn man hier das Kausalitätsverständnis der klassischen Mechanik zugrunde legt, wird man sich in dieser modernen Welt nicht mehr zurechtfinden.

Die Vorstellung, dass es so etwas wie chaotische und extreme Entwicklungen geben könnte ist in dieser klassischen Mechanikwelt, auf der juristisches Denken weitgehend beruht, gar nicht vorgesehen. Man sieht also, wie wichtig es wäre, die Grundlagen des Wissens, von denen ich anfangs gesprochen habe, breit zu vermitteln. Der Philosophie kommt hier die Aufgabe der Kommunikation zu.

Kann die Philosophie denn eigene Erkenntnisfortschritte extrapolieren, die für die anderen Wissenschaften anwendbar wären?

Klaus Mainzer: Ich denke, auch im Rahmen der Philosophie sollte es zu Fortschritten kommen. Wir sind nicht mehr auf dem Erkenntnisstand von Aristoteles. Wir wissen zum Beispiel heute sehr viel mehr und sehr viel genauer über kausale Abläufe Bescheid, als es beispielsweise in der Zeit von Kant der Fall war. Kant hat ein großes Paradigma - und das war die Mechanik Newtons.

Heutzutage haben wir nicht nur die Quantenmechanik, die in jedem Transistor, Fernsehgerät und modernen Rechner realisiert ist, sondern auch die probabilistische Welt der Finanzmärkte. Wir wissen hier sehr viel mehr, gleichwohl bleiben die Grundfragen weitgehend die selben.

Stichwort Big Data, also die Erfassung der Welt durch eine wissenschaftlich entwickelte Technik im Dienste privater Unternehmen und Staaten: Die Erfassung und Auswertung riesiger Datenmengen wird immer wertvoller für die Wirtschaft und die Geheimdienste. Wie beurteilen Sie die mögliche Erkenntniszunahme und mögliche Gefahren durch die zunehmende Algorithmisierung der Welt? Könnte hier aufgrund der zunehmenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche eine fatale Fehlentwicklung stattfinden - und wie wichtig ist hier die Philosophie, um Maßstäbe und Handlungsmöglichkeiten zu finden, die dergleichen verhindern?

Klaus Mainzer: Ich beantworte diese Frage erst einmal eine Etage tiefer: Die große Gefahr, die ich bei Big Data sehe, ist, dass sich die Welt der Algorithmen so verlockend darstellt, weil sie den schnellen Gewinn und die schnelle Lösung von Problemen verspricht, ohne die Grundlagen verstanden zu haben. Das heißt ganz konkret: Wir sind mit Algorithmen in der Lage, blitzschnell die Korrelation von Daten zu erkennen.

Es ist damit möglich, das Profil eines erfolgreichen Produktes vorauszusagen, weil man die Verhaltensweisen von Menschen auf Muster beobachten kann und aufgrund dieser Muster eine algorithmische Voraussage treffen kann. Beispielsweise hat das Unternehmen Amazon angefangen, in seinen Lagern Waren zusammenzuziehen, bevor diese überhaupt geordert werden, weil sie voraussagen können, dass dies zu einem bestimmten Zeitpunkt geschieht. So weit so gut.

Aber jetzt nehmen wir ein hypothetisches Beispiel aus der Medizin: Die Algorithmen erkennen aufgrund der ungeheuren Datenvielfalt, die zur Verfügung steht, irgendwelche effizienten Effekte in einem Krebsmedikament. Der Druck durch die Wirtschaft und die Betroffenen ist nun so ungeheuer, dass die Entwickler meinen, die Botschaft zu erkennen, ohne der Frage nach der Kausalität auf den Grund zu gehen.

Wie Chris Anderson in Wired einmal sinngemäß geschrieben hat: Die Kausalität ist tot, es leben die Algorithmen! So etwas propagieren die Propheten der Big-Data-Welt: Die Kausalität und die Naturgesetze sind eine altmodische Sichtweise der Wissenschaft aus Newtons Zeiten. Wir werden Erkenntnisse mit unseren Algorithmen gewinnen, weit bevor wir sie aufgrund ihrer Grundlagen erklären können.

Ich schreibe meine Bücher immer aus einer Anti-Position dazu, weil ich zeigen will, dass wir uns, solange wir die Grundlagen nicht verstanden haben, auf äußerst dünnem Eis bewegen. Es könnte nämlich sein, dass ein positiver Effekt bei einem Krebsmedikament nur unter sehr begrenzten Bedingungen gilt. Ich erinnere an das Klon-Schaf "Dolly": Man hat dies erst einmal als einen großen Durchbruch gefeiert, musste aber später feststellen, dass diese armen geklonten Tiere nicht nur schneller altern, sondern auch sehr früh eine Tumorbildung aufweisen.

Hier gab es Nebeneffekte, die bei so einem hochkomplexen System wie einem tierischen Organismus überhaupt nicht vorausgesehen wurden, weil man nur einen Teilmechanismus erkannte. Dergleichen befürchte ich auch, wenn wir uns nur auf die Algorithmen verlassen. Das Wissen muss abgesichert werden, deswegen müssen wir uns auf die Prinzipien, Gesetze und Grundlagen besinnen. Dies ist eine philosophische Haltung, die ich unseren Informatikern predige.