"Universalierung des Meinungshaften"

Joseph Vogl über das Verhältnis von Wissen, Philosophie und Wissenschaft

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Der Literatur- und Medienwissenschaftler Joseph Vogl (geb. 1957) ist als Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig. Er hat verschiedene Werke von Gilles Deleuze und Jean-Francois Lyotard ins Deutsche übersetzt. 2010 erschien "Das Gespenst des Kapitals". Sein letztes Buch "Der Souveränitätseffekt" ist dieses Jahr veröffentlicht worden. Im Gespräch mit Reinhard Jellen erinnert er unter anderem an eine Weisheit der Präraffaeliten: "Je wissenschaftlicher die Welt wird, desto mehr Engel malen wir."

Herr Vogl, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede existieren allgemein zwischen Philosophie und Wissenschaft?

Joseph Vogl: Philosophie und Wissenschaft sind zwei unterschiedliche intellektuelle Tätigkeiten: Die Wissenschaft beschäftigt sich in weitester Hinsicht mit den Problemen der Referenz und der Prädikation, der Wahrheit und Falsifizierbarkeit. Philosophie hat hingegen - falls man denn überhaupt von der Philosophie anstelle einzelner Philosophien sprechen kann - den Anspruch, die größtmögliche Unabhängigkeit und Selbständigkeit des Denkens zu erreichen.

Dabei muss aber auch sofort gesagt werden, dass auch der Wissenschaftsbegriff bei den unterschiedlichen, teilweise ja konfligierenden Wissenschaften selbst nicht monolithisch ist: Es existieren gravierende Unterschiede zwischen verstehenden und erklärenden Wissenschaften, Wissenschaften mit einem hohen oder niedrigen Grad an Vorannahmen oder Wissenschaften, die sich dem Erklären von Gesetzmäßigkeiten widmen - und anderen Wissenschaften, wie zum Beispiel den historischen, die daran weniger interessiert sind.

Zwar gibt es in der neueren Philosophie - im Unterschied zu philosophischen Großprojekten nach 1800, die sich als Metawissenschaften verstanden - Tendenzen, sich den Wissenschaften anzunähern, zum Beispiel in der analytischen Philosophie, die ein großes Interesse daran hat, ein System von wahrheitsfähigen Propositionen zu testen und beispielsweise mit den Kognitionswissenschaften zu kooperieren. Ich würde aber trotzdem sagen: Wissenschaft und Philosophie sind zwei getrennte Kontinente.

Wie ist das Verhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft untereinander beschaffen?

Joseph Vogl: Zunächst einmal würde ich weniger auf das Verhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft abheben, sondern einen ganz allgemeinen Begriffe von Wissen erläutern wollen, der seit der Neuzeit und der Moderne unterschiedlichen Konjunkturen ausgesetzt war. Es gab immer bestimmte hegemoniale Wissensformen oder Wissenstypen, die sehr stark auf alle anderen Wissensbereiche abgestrahlt haben.

Das sind seit dem neunzehnten Jahrhundert etwa die Lebenswissenschaften, also Biologie, Physiologie, Vererbungslehren bis hin zur Genforschung. Oder seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Informationswissenschaften.

Eine andere hegemoniale Wissensform, die sich im achtzehnten Jahrhundert herausgeprägt hat, ist beispielsweise die Ökonomie. Seitdem ist das ökonomische Wissen dominant in unseren Gesellschaften geworden. Diese Konjunkturen haben wiederum mit gewissen kulturellen und gesellschaftlichen Auftragslagen zu tun, die sehr stark das Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie infizieren. Denken Sie an die Bedeutung des Begriffs vom Eigeninteresse in der Aufklärung, an die Vitalismen seit dem neunzehnten Jahrhundert, an die Rolle von Informations- und Kommunikationskonzepten im gegenwärtigen Denken.

Wie anfällig sind Philosophie und Wissenschaften für Ideologien?

Joseph Vogl: Das hängt davon ab, wie man den Begriff "Ideologie" definiert. In einer schwachen Definition wäre "Ideologie" schlicht Aspektbefangenheit. Also die Unfähigkeit, wenigstens probeweise die eigene Perspektive zu verändern, blinde Flecken und Vorurteilsstrukturen einzugestehen. Eine starke Definition wäre die marxistische, nach der Ideologie "notwendig falsches Bewusstsein" meint. Die so verstandene Ideologie hilft einem, sein Denken und sein Weltverhältnis so zuzurichten, dass selbst unerträgliche Lagen unveränderlich erscheinen.

Wissenschaft und Philosophie werden wohl von beiden Sorten heimgesucht. Aber während im ersten Fall ein wenig Erkenntniskritik hilft, ist Ideologie im zweiten Fall selbst ein philosophischer Begriff und hat entsprechende Konsequenzen. Er bedeutet nämlich, dass jedes theoretische Denken unmittelbar Praxisverhältnisse impliziert.

Man kann also sagen, Ideologie sei die Verabsolutierung einer besonderen Position, die aber der ideologisch Denkende nicht als solche erkennt ...

Joseph Vogl: So oder so: Ideologie beginnt dort, wo die intellektuelle Fortbewegung flügellahm wird, sich irgendwo niederlässt und sich in Sicherheit wiegen will.

Wie würden Sie den Erkenntnisfortschritt in der Philosophie im Gegensatz zu dem der Wissenschaften charakterisieren?

Joseph Vogl: Zu den Bewegungsgesetzen der Philosophie gehört der Umstand, dass gerade sie nicht an einem Fortschritt und damit nicht an einem Voraus-Sein gemessen werden kann. So etwas gilt nur für bestimmte Wissenschaften, die sich selbst sehr gut verstehen und durch die Korrektur von Irrtümern oder die Verbesserung von Technologien als Motor für Erkenntnisfortschritte fungieren.

In diesen Wettkampf tritt die Philosophie nicht ein. Es kann eben sein, dass gewisse Positionen von Aristoteles heute immer noch diskutiert werden und philosophisch genauso relevant sind wie beispielsweise bestimmte Überlegungen von Hans Blumenberg.

Spätestens im 20. Jahrhundert ist der Systemgedanke in Philosophie und Naturwissenschaft in eine Krise geraten. Ist diese Krise aus dem Umstand zu erklären, dass die Tendenz zur Ausdifferenzierung und Zerfaserung der Naturwissenschaften schneller voran geht als deren Synthese? Was wären dann die Ursachen hierfür?

Joseph Vogl: Ich denke hierfür gibt es verschiedene Ursachen und manche liegen sogar auf der Hand. Es ist offensichtlich, dass die Spezialisierung in den Wissenschaften dazu führt, dass alle älteren Projekte einer Meta-Wissenschaft obsolet geworden sind. Das hängt aber nicht nur mit der Spezialisierung der Wissenschaft und der Frage nach der Bewältigung von Wissensmassen in bestimmten Disziplinen zusammen, sondern auch mit einer bestimmten Technifizierung der Wissenschaften - also mit dem, was man heutzutage technosciences nennt.

Das heißt, Wissenschaften sind sehr stark von gewissen Anwendungsreservaten abhängig und müssen sich dabei in hohen Maße auch technisch spezialisieren. Es kommt noch etwas Zweites dazu, was zumindest eine Spannung, vielleicht sogar eine Konflikt- oder Bruchlinie darstellt, die aus den Wissenschaften heraus in philosophische Fragestellungen mündet: nämlich die elementare Frage nach dem Verhältnis zwischen Wissenschaft und Wissen einerseits und den Determinismen und Gesetzesbegriffen andererseits.

Hier steht der Systembegriff selbst auf dem Spiel. In verschiedenen Wissenschaften wie zum Beispiel der Physik oder Chemie konnte man sehr gut sehen, wie groß und dramatisch die Frage nach dem Abbruch von bestimmten Gesetzesmäßigkeiten ist, wo etwa auch die Chaostheorie Einzug gehalten hat und in bestimmten chemischen oder physikalischen Prozessen die Frage nach metastabilen Anordnungen auftaucht. An diesen Stellen kommen manche Naturwissenschaftler, wie etwa Ilya Prigogine kaum mehr darum herum, sich selbst Fragen philosophischer Qualität zu stellen.

Ich denke, dass die Rolle des Determinismus, also der Erwartbarkeit von gesetzmäßigen Abläufen, eine der größten und interessantesten Herausforderungen im gegenwärtigen Wissenschaftsfeld ist und tatsächlich auch ins Philosophische hinüberreicht. Ein Bereich, wo dergleichen auf kritische Weise manifest geworden ist, sind die Wirtschaftswissenschaften: Sollen deren Systeme fähig sein, determinierte oder determinierbare Abläufe zu beschreiben - oder ist nicht gerade dieser Beschreibungsauftrag einer, der in die Irre führt?

Welche Wirtschaftswissenschaften meinen Sie damit?

Joseph Vogl: Alle, die sich mit Modellbildungen beschäftigen und insbesondere mathematische Physik importieren und daraus beispielsweise Marktgesetzmäßigkeiten am Leitfaden bestimmter Gleichgewichtsmodelle entwerfen, die prognostischen Charakter haben sollen. Ich denke, dass im Laufe der Finanzkrise hier heterodoxe Positionen aufgetaucht sind und die alten Modelle nur noch Sinn machen, wenn klar ist, wie begrenzt sie sind, was sie ausschließen, ab wann sie nicht mehr wirken und bestenfalls nur noch winzige Teilbereiche ökonomischer Realität erfassen. Hier steht die Wissenschaftlichkeit dieser Wissenschaften selbst auf dem Spiel - eine Frage, die durchaus ins Philosophische eskalieren kann.

Kommt bei solchen Wissenschaften, die gesellschaftliche Phänomene interpretieren, nicht verkomplizierend die doppelte Beziehung von Mensch und System hinzu, also dass Menschen diese Verhältnisse nicht nur passiv erleiden, sondern sie - freilich in der Summe widersprüchlicher, oft gegensätzlicher Handlungen - aktiv konstituieren?

Joseph Vogl: Das ist die Tragikomödie moderner Subjekte. Sie produzieren Ordnungen, unter denen sie selbst leiden; und sie erleiden, wofür sie selbst verantwortlich sind. In dieser Lage ist ihnen nicht von anderer, höherer Stelle zu helfen.

Helfen Philosophie und Naturwissenschaft, Normen und ethische Standards zu entwickeln, die sich für eine mögliche Selbstbestimmung des Menschen als hilfreich erweisen könnten?

Joseph Vogl: Die Frage lässt sich nicht mit "Ja" oder "Nein" beantworten. Ich will erst einmal eine negative Antwort versuchen und behaupten, dass die Fortschritte in den Wissenschaften eine große Erosion moralischer Gewissheiten erzeugt haben. Alle Fragen nach moralischen Instruktionen werden immer am Grenzbereich gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse akut.

Ich möchte behaupten, dass für die Wissenschaften - um eine Formulierung von Robert Musil zu gebrauchen - so etwas wie eine "induktive Gesinnung" gilt: Universalien, allgemeine Normen, Gewissheiten müssen in Frage gestellt werden. Spätestens durch diese Entwicklung lässt sich über die Moral nicht mehr ohne weiteres unter Ausschluss der Wissenschaft reden.

Es gibt also eine traditionell überlieferte Moral, die aber nicht mehr auf die modernisierte Welt passt. Lässt sich aus dieser Negation eine andere, positive Form entwickeln, in der sich menschliche Selbstbestimmungstendenzen als ethische Standards ankündigen?

Joseph Vogl: Ausdrücke wie "ethische Standards" weisen bereits darauf hin, dass es hier nicht mehr um zeitlose moralische Gesetze geht, sondern um Dinge, über die man sich mühsam verständigt - und ich glaube, unsere Gesellschaften haben ein hohes Maß an Verhandlungsartistik über Normen entwickelt, die man nicht mehr deduktiv ableiten kann, die aber den Menschen in bestimmten sozialen und kulturellen Milieus eine gewisse Verkehrssicherheit garantieren. Ich glaube nicht, dass die Zeit der normativen Erosion in absehbarer Zeit übergehen könnte in eine neue Epoche der moralischen Sicherheit und Zweifelsfreiheit.

Nun leben wir in einer Zeit epochaler Krisen, die in den Menschen die Sehnsucht nach unterkomplexen Erklärungsmodellen weckt: Im Westen die Renaissance einer imperialen Wir-sind-die-Guten-und-das-sind-die Bösen Interventionsideologie, im Osten die Renaissance von religiösen Tendenzen, die zum Beispiel in Richtung Islam gehen ...

Joseph Vogl: Das ist nichts Neues. Schon bei den Präraffaeliten, also bei den Leuten, die im neunzehnten Jahrhundert von England nach Italien gegangen sind, um dort wie in der Renaissance zu malen, hat es geheißen: Je wissenschaftlicher die Welt wird, desto mehr Engel malen wir. Dergleichen können wir immer wieder beobachten.

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges lässt sich bei fast allen deutschen Schriftstellern sehen, welche große Erleichterung es für sie war, dass aufgrund der nun fraglosen Feindunterscheidung bestimmte Komplexitäten und deren Zumutungen verschwunden waren. Insofern begleiten uns mit jeder analytisch-auflösenden Tendenz auch Reflexe der Synthesis, der Vereinfachung, welche eine intellektuelle Sekurität versprechen.

Vielleicht ist aber in den letzten 30 Jahren eine weitere Form von Vereinfachung hinzugetreten, die sehr stark mit den westlichen Wettbewerbsgesellschaften zusammenhängt: Das Mainstreaming, also die Tendenz, alle Bereiche des sozialen Lebens, der Kultur, der Politik mit Wettbewerbsszenarien und ihrem Anpassungsdruck in Verbindung zu bringen: die Universalierung des Meinungshaften.

Die Wissenschaften stehen heutzutage meistens im Dienst der marktwirtschaftlichen Ökonomie und greifen negativ in die Lebenswelt der Menschen ein ...

Joseph Vogl: So einfach ist das nicht. Es gibt ja naturwissenschaftliche Großprojekte mit geradezu künstlerischer Größe und Verschwendung. Denken Sie an die physikalische Mega-Installation in der Schweiz, das CERN. Und war nicht die Mondfahrt eine einzige Performance, auf Weltmaßstab aufgeblasen? Man könnte - in Teilen wenigstens - sogar die umgekehrte Forderung stellen und mehr ökonomische Vernunft in den Wissenschaften verlangen: Mehr Geld für die Krebsforschung!

Hat sich die Philosophie angesichts der naturwissenschaftlichen Fortschritte nicht überlebt und ist sie nicht zur bloßen (Traditions-) Pflege ihrer selbst verkommen? Nachdem (hegelianisch gesprochen) die Kunst an ihr Ende gekommen ist (und eigentlich auch die Religion) - könnte es da nicht sein, dass für die Philosophie gleichfalls die letzten Glöcklein klingen?

Joseph Vogl: Die Rede vom Ende der Philosophie und der Kunst ist selber eine philosophisch stark belastete Aussage, so dass der philosophische Gehalt der Behauptung selbst widerspricht. Ich denke, es gibt außerdem einen bestimmten, immer noch gültigen Auftrag der Philosophie: Sich gegen den Gemeinsinn, den allseits verteilten gesunden Menschenverstand, die Herrschaft der Meinung zu stellen und sich damit der Marktförmigkeit des Denkens zu widersetzen.

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