Die Rolle der Juden in der christlichen Heilsgeschichte

Viktor Vasnetsov: Die vier apokalyptischen Reiter (1887)

Was beeinflusst die Einstellung von Christen gegenüber Juden? - Christliche Endzeit und Juden - Teil 4

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Teil 3: John Nelson Darby und die Brüdergemeinden in den USA und Europa

"Heilsgeschichte" ist ganz allgemein jede religiöse Interpretation von Geschichte, und dazu gehören auch die christlichen Vorstellungen der "Endzeit". Da das Christentum dem Judentum entspringt, gehört den Endzeitvorstellungen auch eine Positionierung gegenüber dem Judentum.

Wie Christen Juden sehen, hat sich im Lauf der Zeiten immer wieder geändert. Das Spektrum ist breit und oft ambivalent, die Themen überlappen sich. Aber es gibt Schwerpunkte: Erstens den allgemein verbreiteten völkischen Rassismus vor 1945. Zweitens die in gewissen evangelikalen Kreisen verbreitete Naherwartung nach Kriegsende - der Massenmord sei ein Gericht Gottes gewesen, die Juden müssten nach Palästina "zurückkehren", damit Jesus auf die Erde zurückkommen und die Welt erlösen könne.

Mein Großvater Friedrich Heitmüller, Leiter der Freien evangelischen Gemeinde Hamburg und Direktor des Diakoniewerkes Elim, vertrat diese beiden Sichtweisen in beispielhafter Weise. Drittens, vor allem seit den 1980er Jahren, ein inzwischen oft politisch orientierter christlicher Zionismus. Und viertens Judenmission - existent seit den Anfängen des Christentums und gerade aktuell, weil entsprechende Gruppen auf dem Kirchentag nicht aktiv sein dürfen.

Tanach und Altes Testament: eine gemeinsame Heilige Schrift

Der Tanach - für Christen: das "Alte Testament" (AT) - beinhaltet die Heiligen Schriften der Juden. Die Bibel - bestehend aus Altem und Neuen Testament (NT) ist das Heilige Buch der Christen. Der so genannte "Kanon", also was als Bestandteil festgelegt wurde, stimmt, was das AT betrifft, zwischen Judentum und Christentum nicht ganz überein, und was die Bibel betrifft, auch nicht zwischen orthodoxen, katholischen und evangelischen Christentum.

Einige Themen wie "Bund" oder "Herrscher", spielen eine wichtige Rolle in AT, Urchristentum und NT, ebenso wie im späteren Christentum. In ihrer Ausgestaltung und Interpretation definieren Christen ihr Verhältnis zum Judentum.

Der Bund Gottes mit Israel

Im AT wird mehrmals erzählt, dass Gott einen Bund mit den Menschen schließt: Er geht ihnen gegenüber eine Verpflichtung ein und stellt Forderungen wie Liebe, Anbetung oder Gehorsam. Einen Bund schloss Gott mit Noah (Gen. 9,8-17), mit Abraham und seinen Nachkommen (Gen. 15,18 und Gen. 17), und mit dem Volk Israel (Ex. 19). Die Propheten dann mahnen das Volk immer wieder, den Bund einzuhalten und interpretieren Unglück als Strafe Gottes. Und sie prophezeien einen "neuen Bund", den die Menschen nicht mehr brechen werden: "Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben" (Jer. 31, 31-34).1

Der verheißene Herrscher

Im AT ist gelegentlich die Rede von einem kommenden Herrscher. Zum König oder Hohepriester wurde man gesalbt, und "Messias" (gräzisierte Form das aramäischen Wortes "Maschiach", "Gesalbter") wurde in "nach-alttestamentlicher" Zeit ein Titel für einen "Heilskönig", der erwartet wurde.2 Die Propheten kündigten einen Herrscher an, der das Volk Israel retten und ein ewiges Friedensreich aufrichten würde.3

Heilsgeschichte

Strenggenommen bedeutet Heilsgeschichte nicht nur jede religiöse Interpretation von Geschichte, sondern "eine Geschichtsinterpretation, die in der Menschheitsgeschichte eine Entwicklung auf ein Ziel außerhalb derselben sieht, eben zum Heil, zu dem jedes geschichtliche Ereignis in Beziehung gesetzt wird." Sie entstammt dem jüdisch-christlichen Denken, kommt aber auch zB im Islam vor.4

Jesus war Jude, und die ersten Christen waren Juden. Erst der Apostel Paulus missionierte intensiv unter den "Heiden", also den Griechen. Daher übrigens - nicht von einer Umbenennung wegen seiner eigenen Bekehrung! - auch seine beiden Namen - Saul ist hebräisch, Paulus hellenistisch. Die Autoren der Bücher und Briefe, die das NT bilden sollten, waren überzeugt, dass Jesus der Sohn des jüdischen Gottes Jahwe war und mit ihm eine neue Zeit begann. "Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn ...", schreibt Paulus im Brief an die Galater (Gal. 4,4). Mit diesem Hintergrund interpretierten er und seine Mitstreiter die Heiligen Schriften der Juden und verfassen die Bücher und Briefe, die später als NT definiert wurden.

Der neue Bund

Ab dem Urchristentum wurden solche Prophezeiungen wie die aus Jer. 31, 31-34 auf Jesus hin interpretiert: Die ersten Christen nahmen diesen Gedanken des neuen Bundes auf. Sie sahen ihn in Jesus Christus erfüllt: "Durch seinen Tod am Kreuz begründet er den neuen Bund, der nicht mehr nur dem Volk Israel, sondern allen Menschen gilt und ihnen die Vergebung ihrer Sünden zuspricht."5

Jesus Christus als der verheißene Herrscher

Die ersten Christen interpretierten die alten Prophezeiungen so, dass Jesus der dem Volk Israel verheißene Herrscher sei.6 Im NT heißt Jesus oft "Christus", was die wörtliche Übersetzung von Maschiach ins Griechische ist, also "Gesalbter" bedeutet und zunächst ein Titel und später ein Eigenname für Jesus war.7

Wie definieren Christen ihr Verhältnis zum Judentum

Indem Christen Jahrhunderte später die kanonisierte Bibel und speziell solche Themen interpretieren - und sie kommen nicht darum herum: alles, was man liest, versteht und interpretiert man in irgendeiner Weise - definieren sie ihr Verhältnis zum Judentum.

Die grundlegende Frage im Christentum, die man normalerweise nicht ausspricht, zumindest allem nicht als moderner Protestant - die Katholische Kirche ist da weniger zurückhaltend, und viele Evangelikale sind es schon gar nicht - ist die der Heilsnotwendigkeit. Platt gesagt: Muss man sich zu Jesus bekehren (und zur Kirche gehören), um in den Himmel zu kommen, oder gilt der Bund Gottes mit Israel fort, und zwar in dem Sinne, dass die Juden zum Heil erwählt sind?

Die Frage wird selten ausgesprochen, aber gelegentlich kann man rückschließen, was die Antwort wäre.

Berüchtigt sind Martin Luthers bösartige Behauptungen über Juden. Seinen "vormodernen Antisemitismus" begründet er mit einer "Wesensnatur" der Juden und beurteilte daher die Wirksamkeit von Judentaufen skeptisch. Allerdings war ihm eine biologistische Rassentheorie fremd. Diese bildete den Kern des Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts.8 Sie fand in Landes- wie in Freikirchen ihren Niederschlag. Vielleicht kann man die Wirkung dieser Theorie an der Frage festmachen: Was ist, wenn sich ein Jude taufen lässt?

Ambivalenz im Nationalsozialismus

So gab es noch 1933 sieben Judenmissionsgesellschaften oder Zweigniederlassungen solcher Gesellschaften im deutschsprachigen Raum. Sie wurden in geringem Maße unterstützt von den Landeskirchen, aber im Großen und Ganzen kaum beachtet. Sie wurden erst recht spät verboten - der NS-Staat hatte wohl die Hoffnung, dass man Judenchristen in eigenen Gemeinden isolieren und ghettoisieren könnte. Dazu aber gaben sich die Gesellschaften nicht her und wurden verboten.9

Der Umgang der Kirchen mit jüdischen Mitgliedern war allerdings sehr unterschiedlich. Der damalige Hamburgische Landesbischof Franz Tügel rechtfertigte zwar den völkischen Antisemitismus, aber er bestand auch darauf, dass getaufte Juden ihren Platz in der Kirche hätten. Freikirchen hatten im Vergleich zu den Landeskirchen eine schwächere Position im NS-Staat und fürchteten um ihre Existenz. Zum Beispiel bat Friedrich Heitmüller jüdische Mitglieder, seine Gemeinde zu verlassen, und der Brüderrat beschloss, keine Juden mehr aufzunehmen.

Seine Freikirche war nicht die einzige.

Gerade in Freikirchen wurden Juden stets in einer Ambivalenz gesehen: Als "Heilsbringer und Verderber". Darum löste der "politische und/oder sozialdarwinistische Antisemitismus der Nationalsozialisten unter den Freikirchen keinen Sturm der Entrüstung aus. So haben Mitglieder der Freikirchen sich im Großen und Ganzen nicht gegen den Antisemitismus des Nationalsozialismus aufgelehnt, sondern ihn als selbstverständlich hingenommen - und zum Teil sogar selbst mit vollzogen".10 Das widerspiegele eine Ambivalenz in der freikirchlichen Theologie: "Juden sind danach einerseits Affirmation der eigenen Lehre, Heilsträger für die Zukunft, stehen aber andererseits auch unter dem göttlichen Gericht und sind durch eine besonders verwerfliche Gesinnung beherrscht."11

Ein solches Fazit bringt die aktuelle Aufarbeitung der Geschichte ans Licht, die vor allem in Freikirchen erst lange nach dem Krieg begonnen hat. So veranstaltete der Verein für Freikirchenforschung im Frühjahr 2005 ein Symposium zum Thema "Freikirchen und Antisemitismus" und brachte die Tagungsbeiträge später als Buch heraus, aus dem dieses Zitate stammen.12 Und im Jahr 2011 erschien ein Sammelband mit Darstellungen von Freikirchlern zur Geschichte ihrer Freikirchen.13

In der Nachkriegszeit jedoch stritt man um Schuld und Buße, und um Gottes Heilsplan.

Heilsgeschichte in der Nachkriegszeit: Trost und Ent-Schuldung

Im Monat nach der Bombardierung Hamburgs zitierte Friedrich Heitmüller in einem Brief an seine Gemeindemitglieder die Bibel mit den Worten "Gott, deine Gerichte sind wahrhaftig und gerecht14, obwohl auch das eigene Krankenhaus und mehrere andere Häuser des diakonischen Werkes zerstört waren, und zahlreiche Schwestern und Patienten ums Leben gekommen waren. Und im Herbst 1945 forderte er innerhalb der Freikirchen Buße als "Gebot der Stunde".

Eine Möglichkeit, den schrecklichen Erfahrungen der vergangenen Jahre, dem verlorenen Krieg, Hunger, Krankheit und Entbehrung, und vor allem den vielen Verlusten der Gefallenen einen Sinn zu geben, war aber auch eine besondere Ausprägung der "Heilsgeschichte". Diese Lehre war schon älter, aber nach dem Krieg wurde sie wieder aktuell. Sie bot vielleicht auch eine billige Möglichkeit, mit der eigenen Schuld gegenüber den Juden umzugehen:

Heitmüller war ein Anhänger dieser Lehre, die auf den britischen Geistlichen John Nelson Darby (1800 - 1882) zurückgeht. Ihr zufolge gibt es mehrere Heilszeitalter (Dispensationen). Heitmüller schrieb nach dem Krieg mehrere Broschüren darüber. Das aktuelle Heilszeitalter geht seiner Ansicht nach zu ende, sobald eine von Gott vorherbestimmte Zahl von Menschen sich zum Christentum bekehrt haben wird. Diese werden dann in den Himmel entrückt, der Antichrist kommt frei, Gog und Magog (Russland) greifen an, und es folgt die Schlacht von Harmagedon. Die Juden haben demnach in Gottes Heilsplan die Rolle, Gott zu verherrlichen. Jesus habe das Evangelium zunächst den Juden angeboten, doch sie hätten es verworfen. Daraufhin habe Gott die Juden mit Blindheit und Verwerfung geschlagen und das Evangelium den Heiden angeboten. - Mit dieser Lehre kann, wer will, Kriege und Übergriffe auf Juden begründen.

Christlicher Zionismus unter Evangelikalen

Interessant ist besonders die Weiterentwicklung der Ideologie der Heilsgeschichte unter Evangelikalen in Deutschland, wie der - selbst evangelikale - Willem Laurens Hornstra bei einer Veranstaltung des Vereins für Freikirchenforschung darlegte: Demnach ist in den 1970ern und 1980ern eine neue Bewegung und Ideologie entstanden, die "christlich-zionistische Bewegung". Diese "hat ihre eigene Geschichtsschreibung, in der, überspitzt gesagt, Israel fast alles richtig macht und die Araber fast alles falsch machen." Dies ist natürlich nicht antisemitisch oder judenfeindlich, im Gegenteil. Aber, so Hornstra, hier ist Israel der "Schlüssel zum Weltgeschehen" - was eben auch eine Instrumentalisierung bedeutet.15

Teil 5: Judenmissionarische Gruppen und die evangelische Kirche

Hinweis: Die Recherchen für diesen Artikel wurden durch ein Stipendium der Journalistenvereinigung netzwerk recherche gefördert und betreut. Die Autorin war früher selber Mitglied in einer evangelikalen Freikirche.

Der Text ist außerdem ein Auszug aus einem Telepolis-Mehrteiler über christliche Endzeitvorstellungen. In ihm beschäftigt sich Ulrike Heitmüller unter anderem mit Prämillenarismus, Postmillenarismus und Gruppen in den USA und Europa, die noch heute in einer Naherwartung leben. Außerdem untersucht sie den Konflikt zwischen judenmissionarischen Gruppen und der evangelischen Kirche und zeigt, welch religions- und kirchenpolitischen Zündstoff solche Vorstellungen bergen.