Russlands doppelte Botschaft

Militärkapelle im Gorki-Park. Bild: U. Heyden

Russland demonstrierte auf dem Roten Platz militärische Stärke. Danach nahmen 300.000 Bürger an einem Gedenkmarsch für die russischen Kriegsveteranen und Gefallenen teil

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In Moskau nahmen heute nach einer Militärparade auf dem Roten Platz 300.000 Bürger an einem Gedenkmarsch teil. Sie trugen große Plakate mit den Porträts ihrer Väter, Mütter, Großväter und Großmütter, die am "Großen Vaterländischen Krieg" teilgenommen haben. 27 Millionen Bürger der Sowjetunion starben im Zweiten Weltkrieg, der von Deutschland als Vernichtungskrieg geführt wurde. Der Gedenkmarsch startete am Weißrussischen Bahnhof. Auf dem Roten Platz reihte sich Wladimir Putin in den Marsch ein. Putin hielt dabei ein Plakat seines Vaters Wladimir in der Hand.

Militärparade auf dem Roten Platz zum 70. Jahrestag des Siegs im "Großen Patriotischen Krieg". Bild: Kreml

Die Menschen in Russland wissen, dass der Angriffskrieg der Hitler-Wehrmacht als Vernichtungskrieg geführt wurde. Fast jede Familie hat Opfer zu beklagen. Auf die Frage, was ihr der "Siegestag" am 9. Mai bedeute, meinte Julia, ein junge Frau von 25 Jahren, "wenn unsere Großväter nicht gesiegt hätten, würde ich heute nicht leben".

Der Gedenkmarsch hatte wegen des Krieges in der Ukraine eine besondere Bedeutung. Russland setzt nicht nur auf militärische Stärke, sondern zeigt sich als Land mit nationaler Identität, das auf den Sieg gegen Hitler-Deutschland stolz ist. Mit dem großen Gedenkmarsch will man auch Geschichtsfälschern etwas entgegenzusetzen, welche die Besetzung der osteuropäischen Staaten durch die Rote Armee mit dem Vernichtungskrieg der Hitler-Wehrmacht in der Sowjetunion gleichsetzen.

Am 9. Mai 2012 hatten Russen im sibirischen Tomsk das erste Mal mit den Porträts ihrer Angehörigen, die am Zweiten Weltkrieg teilnahmen, demonstriert. Seitdem wurden Gedenkmärsche unter dem Motto "Unsterbliches Regiment" auch in zahlreichen anderen Städten veranstaltet.

Liebe zur Heimat statt zur Macht

Der Moderator des staatlichen Fernsehkanals Rossija 1, Wladimir Solowjow, der die Live-Übertragung des Moskauer Gedenkmarsches moderierte, erklärte, es sei ja heute "modern" geworden, Stalin zu loben. Aber man dürfe "die Lager nicht vergessen." Mit "den Lagern" war das Gulag-System gemeint, das in der Stalin-Zeit Hunderttausende zu Zwangsarbeitern machte, weil sie als "Spione", "Vaterlandsverräter" oder "unzuverlässige Elemente" beschuldigt wurden. Patriotismus - warnte der bekannte Moderator - sei "nicht Liebe zur Macht, sondern Liebe zur Heimat." Solowjow verwies außerdem auf Wladimir Putin, der gesagt habe, dass so eine blutige Herrschaft wie unter Stalin niemals wieder errichtet werden dürfe.

Drei Generationen. Bild: U. Heyden

Dass die Krim gegen internationales Recht von Russland einverleibt wurde, kümmert die Russen nicht. Für die meisten Bürger in Russland war der Krim-Anschluss eine Notwehr-Maßnahme gegen die Ostausdehnung der Nato. "Die USA hätten sich sonst Sewastopol genommen", meinte ein russischer Software-Unternehmer, den ich im Gorki-Park traf, wo - wie in fast allen Moskauer Parks - gestern Feiern zum Siegestag stattfanden. Ein junges Mädchen meinte, immerhin habe es auf der Krim ein Referendum gegeben. Und außerdem sei die Krim "sowieso unser". Damit ist gemeint, dass die Mehrheit der Bevölkerung auf der Halbinsel russischer Abstammung ist und die Insel schon während der Zarenzeit zu Russland gehörte.

"Ich bin stolz - Hitler kaputt." Bild: U. Heyden

Putin kritisiert Streben nach unipolarer Welt

Am Vormittag fand auf dem Roten Platz eine Militärparade statt, die von ihrer Größe her frühere Paraden in den Schatten stellte. 15.000 Soldaten marschierten über den Roten Platz. Neben russischen Militäreinheiten waren auch Militäreinheiten aus der Volksrepublik China, Mongolei, Indien, Tadschikistan, Kirgistan, Kasachstan, Armenien, Aserbaidschan und Serbien an der Parade beteiligt.

Militärparade auf dem Roten Platz. Bild: Kreml

194 Panzer und andere fahrbare Technik des Heeres sowie 143 Hubschrauber und Flugzeuge sah man auf oder über dem Roten Platz. Es waren zahlreiche neue Waffen zu sehen, so der Panzer Armata, die bewaffneten Truppentransporter Kurganez, Rakuschka und Bumerang sowie die neue Interkontinentalrakete Jas.

Militärparade auf dem Roten Platz. Bild: Kreml

Vor dem Beginn der Militärparade hielt Wladimir Putin im Beisein von ausländischen Staatschefs und russischen Kriegsveteranen eine Rede. Putin erklärte, die Grundprinzipien der internationalen Kooperation seien in den "letzten Jahrzehnten immer häufiger ignoriert worden". In Anspielung auf die USA sagte der Kreml-Chef, es gäbe "den Versuch, eine unipolare Welt" aufzubauen. Die Hauptaufgabe sei es, ein System aufzubauen, "welches allen Staaten gleiche Sicherheit" gewährleiste. Nur dann sei der Frieden für alle Menschen gesichert.

Nach der Parade legten 30 Staatsoberhäupter - unter anderem aus China, Kuba, Venezuela und Palästina - am Grabmal des Unbekannten rote Nelken nieder.

Putin erklärte, Russland sei den Menschen in Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten von Amerika für ihren Beitrag zum Sieg gegen Hitler-Deutschland dankbar. Dankbar sei man auch den "Antifaschisten verschiedener Länder, welche den Feind selbstlos als Partisanen und Mitglieder der Untergrundbewegungen bekämpften, auch in Deutschland selbst".

Bild: U. Heyden

Die Beziehungen zwischen Russland und China werden enger

Die Teilnahme chinesischer Soldaten an der Militärparade unterstreicht, dass sich das Verhältnis zwischen Moskau und Peking weiter verbessert. Der Staatspräsident der VR China, Xi Jinping, lobte die Feierlichkeiten auf dem Roten Platz. Sie zeigten, dass Russland die feste Absicht habe, "den Frieden sicherzustellen". Mit Putin sei er übereingekommen, dass die bilateralen Beziehungen für beide Länder Priorität haben.

Bereits in den letzten Tagen hatten Russland und China Wirtschaftsverträge abgeschlossen. Man will Infrastruktur- und Energieprojekte auf dem eurasischen Kontinent aufeinander abstimmen. China und Russland wollen eine gemeinsame Investitionsbank gründen. Innerhalb von drei Jahren wollen chinesische Banken 20 Milliarden Dollar für Projekte russischer Unternehmen anwerben. Mit 5,9 Milliarden Dollar will China den Bau der 800 Kilometer langen Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitsstrecke Moskau-Kasan (Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tatarstan) finanzieren. Die Technologie für die Strecke soll aus China, 80 Prozent der benötigten Ausrüstung aus Russland kommen. Die Eisenbahnzüge sollen in Fabriken der russischen Unternehmen Sinara und Transmaschholding gebaut werden.

Antonina Bogusch war als Krankenschwester an der Einnahme Berlins beteiligt. Bild: U. Heyden

"Angela Merkel kommt ja noch…."

Dass Angela Merkel erst am 10. Mai nach Moskau kommt, scheint den meisten Russen gleichgültig zu sein. Im Gorki-Park, wo zehntausende Moskauer gestern zusammen mit Veteranen den Siegestag feierten, hörte man folgende Meinungen. "Das ist unser Feiertag. Wir brauchen Angela Merkel nicht, um zu feiern", meinte eine 50-jährige Frau. "Immerhin kommt sie ja Morgen", sagte eine andere Frau im gleichen Alter.

Der 91-jährige Kriegsveteran Wjatscheslaw Demidow. Bild: U. Heyden

Etwas schärfer formulierte es der Kriegsveteran Wjatscheslaw Demidow. Der 91-Jährige der als Rotarmist bis nach Stralsund kam, saß auf einer Parkbank. Neben ihm, an einem Tisch, hatten die Nachkommen schon verstorbener Kriegsteilnehmer Platz genommen. Man aß, trank und feierte. "Bestellen Sie Hitler im Rock einen Gruß", sagte der alte Mann. Seine Frau erklärte, dass ihr Mann diese Formulierung "von den Griechen" übernommen habe. "Erinnern sie sich an die Karikaturen aus Athen?", fragte sie mit einem Schalk in den Augen. Von Bitterkeit kein Spur.