Nach dem Todesurteil gegen Mursi: Radikale Muslimbrüder drohen

"Die ganze Welt wird für das Todesurteil bezahlen"

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Noch ist das Todesurteil gegen den früheren Präsidenten Ägyptens, Mohamed Mursi, nicht rechtskräftig. Die endgültige Entscheidung wird das Gericht erst am 2. Juni, nach Beratungen mit dem Großmufti bekannt gegeben. Das ägyptische Gesetz schreibt vor, dass bei Todesurteilen der Großmufti herangezogen wird. Zwar ist seine Einschätzung nicht rechtsverbindlich, doch haben seine Empfehlungen in frühere Fällen bereits für die mildere Strafen gesorgt. Darüber hinaus kann der Anwalt Mursis Einspruch eingelegen.

Allerdings ist in Mursi in zwei Fällen zum Tode verurteilt worden, was den Eindruck erhärtet, dass der Herrschaftsapparat aus Politik und Justiz sichergehen möchte. Anklage und Prozess werfen einige Ungereimtheiten auf, weswegen der Vorwurf, dass hier keine unabhängige, sauber arbeitende Justiz am Werk ist, sondern ein politisches Verfahren im Gange ist, schwer zu widerlegen ist.

So fällt auf, dass gegen Mursi erst nach seiner vom Militär forcierten Absetzung Anklage wegen eines Gefängnisausbruchs erhoben wurde, der während der Tumulte der Straßenaufstände gegen das damalige Regime stattfand, Ende Januar 2011. Als Mursi für die Präsidentschaft kandidierte, war von diesen Vorwürfen nichts zu hören. Naheliegenderweise auch nicht in der Zeit, als er Präsident war, der erste der durch freien demokratischen Wahlen ins Amt kam. Erst nach dem nicht so richtig demokratisch verlaufenen Machtwechsel, legitimiert durch eine Großinszienierung, kam es zu einer Reihe von Gerichtsverfahren gegen den früheren Muslimbruder.

Außer Mursi wurden gestern vom Gericht noch 105 andere Angeklagte zum Tode verurteilt. Zu Last gelegt wird ihnen, dass sie einen Ausbruch aus dem Wadi al-Natrun-Gefängnis (seit vielen Jahren berüchtigt für Folter und harte Haftbedingungen) organisiert haben, in dessen Folge eine "große Zahl von Insassen, einschließlich Mitglieder von ägyptischen, palästinensischen und libanesischen Gruppen freikamen". Gemeint sind Mitglieder der Hamas und der Hisbullah.

Der Ausbruch soll laut Staatsanwaltschaft einhergegangen sein mit Brandstiftung am Gefängnis, mit Mord, versuchten Mord, Pländern von Waffenkammern und eben der genannten Freilassung von radikalen Gefängnisinsassen, aufgeführt werden auch Mitglieder dschihadistischer Gruppen.

Aufgestockt wurden diese Vorwürfe gegen Mursi und andere teilweise prominente Mitglieder der Muslimbrüder noch mit einem zweiten Fall, bei dem es um Hochverrat geht. Die Anklage wirft Mursi wie auch den früheren MB-Führen Mohamed El-Beltagy und Khairat El-Shater vor, mit der Hamas konspiriert zu haben. Auch dafür wurde die - vorläufige -Todesstrafe ausgesprochen, über die das Gericht noch im Gespräch mit dem Großmufti beraten wird.

Mursi pocht auf seiner Unschuld; er sei gar nicht ausgebrochen, die Gefängniswärter seien verschwunden. Laut Darstellung seines Anwalts war er Tage zuvor im Gefängnis gelandet, ohne dass ihm etwas zur Last gelegt werden konnte. Aus politischer Willkür, in Ägypten war der Aufstand ausgebrochen, die Polizei nahm Schlüsselfiguren unter ausgewiesenen Mubarak-Gegnern fest.

Am Tag des Ausbruchs habe Mursi mit dem Sender al-Jazeera telefoniert und dabei beteuert, dass er nicht aus dem Gefängnis fliehen wolle: "We will never run away". Zwar steht diese Aussage auf keinem sehr festen Boden, weil daraus nichts über spätere Ereignisse zu schließen ist, doch läßt das Live-Interview nicht unbedingt auf einen ausgeklügelten Plan schließen, den ihm das Gericht zur Last legt.

Dass das Gericht nicht sorgfältig recherchiert hat, demonstrieren Kritiker an einer ganzen Reihe von Auffälligkeiten und Sonderbarem, die darin gipfeln, dass manche der nun zum Tode verurteilten bereits vor dem Ausbruch verstorben waren oder zum Zeitpunkt des Ausbruchs in einem israelischen Gefängnis saßen.

Trotz all dieser Ungereimtheiten sollen viele Ägypter mit dem Urteil zufrieden sein, berichtet der Guardian. Der Vorsitzende der Anwaltsvereinigung hält das Urteil für normal, angesichts der Verbrechen, die Mursi gegen die Bevölkerung begangen habe, er habe das Land betrogen.

Indessen zitiert die Zeitung auch Mitglieder der Muslimbrüder, die vor Gegenreaktionen warnen. Ein Mitglied rief im Exil zur Rache auf:

Die ganze Welt wird für das Todesurteil bezahlen, dafür, dass sie darüber schweigt und für den Betrug des Prinzips von Freiheit und Gerechtigkeit.

Was die internationalen Reaktionen anbelangt, ist die Aussage etwas übertrieben. Von Schweigen kann nicht die Rede sein. Nicht nur der türkische Präsident Erdogan, dem gute Beziehungen zur MB nachgesagt werden, hat sich gegen das Urteil ausgesprochen, auch aus den USA und vom deutschen Außenminister Steinmeier kam Kritisches. Allerdings ist offen, ob die Regierenden Kairo oder die Richter darauf etwas geben.

Der brisantere Punkt betrifft die Reaktionen unter den radikalen Muslimbrüdern. Seit der Repression durch die neue Regierung ist die MB gespalten, war in den letzten Monaten zu erfahren. Solche Todesurteile geben den Radikalen Aufwind. Bevor die MB verboten wurde, hieß es, dass sie auf bis zu 30 Prozent der Bevölkerung als Anhänger zählen durfte.

Durch die Anti-MB-Politik as-Sisis und durch fatale Fehler der MB-Politiker während ihrer Regierung (z.B. die Unterstützung syrischer Salafisten, die wiederum eng mit al-Qaida verbunden sind) hat sich das politische Klima gewandelt. Dass die MB plötzlich aber gar keine Unterstützung mehr hat, dürfte Wunschdenken der Militärregierung sein.