Fünf-Milliarden-Euro-Betrugsfall: Großbank im Duett mit der Staatsanwaltschaft

Filiale der bank in Paris; Bild: Mohamed Yahya/CC BY-SA 2.0

Neue Enthüllungen über den Fall Kerviel zeigen, dass die Société Générale Ermittler und Öffentlichkeit "hinters Licht" führten. Die Staatsanwaltschaft vertrat dabei auffallend die Position der Bank

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Bislang ging die Geschichte so: Die Großbank Société Générale war das Opfer und Jérôme Kerviel der Täter. "Dieser Betrüger, dieser Gauner, dieser Terrorist", nach den Worten des damaligen Vorstandsvorsitzenden David Bouton. Anfang 2008 machte der Fall spektakuläre Schlagzeilen: Die Bank meldete einen Verlust von knapp 5 Milliarden Euro, verursacht durch einen einzelnen Trader, der sich bei 50 Milliarden Euro Einsatz, bei weitem höher als das Eigenkapital der Bank, verzockte. Alle seine riskanten Geschäfte geschahen hinter dem Rücken der Bankführung, ohne deren Wissen, hieß es (Solo bei der Société Générale?). Jetzt erzählte die Polizei-Chef-Ermittlerin einem Richter eine andere Geschichte.

Was die commandante de police de la brigade financière Nathalie Le Roy dem Richter Roger Le Loire am 9. April dieses Jahres berichtete (englisch), bestätigt, was Beobachter, Insider, Journalisten und Satiriker schon von Anfang an bezweifelten (Affäre Kerviel vor Gericht): Dass ein einzelner Angestellter, "ein kleines Licht" im Zirkus der profilneurotischen Trader - Kerviel verdiente 50.000 Euro im Jahr - eine Bank mit angeblich 2.000 internen Kontrolleuren derart hinters Licht führen kann.

Eifrig um Vertuschung bemüht

Viele hielten Kerviel, der in der Sache zweimal, 2010 und in der Berufungsverhandlung 2012, wegen Betrugs zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, für ein Bauernopfer. Zumal der Trader nach allem, was bekannt ist, sich mit seinen Geschäften nicht persönlich bereicherte. Sondern nur - so die Geschäfte gut liefen - die Bank. "So lange ich (mit meinen Operationen) im positiven Bereich bin, verschließen meine Vorgesetzten die Augen über die Art und Weise sowie den Umfang der getätigten Operationen", gab Jérôme Kerviel bei Vernehmungen im Jahr 2008 zu Protokoll.

Mit normalen Aktivitäten hätte ein Trader niemals so viel Cash erzeugen können. (...) Ich erzeugte Cash, also waren die Signale (aus Sicht der Bank) nicht so alarmierend. So lange wir gewinnen und so lange es nicht gar zu auffällig ist, wird nichts gesagt.

Nach dem jetzigen Kenntnistand der Ermittlerin hat sich der damalige Bankvorstand eifrig um Vertuschung seiner Rolle bemüht. Er nutzte die anfangs fehlende Sachkenntnis von komplizierten Geschäftsabwicklungen, Geschäftsusancen und der Kommunikation innerhalb der Bank dazu aus, um die eigene Version der Geschichte durchzusetzen. Die Bank sorgte dafür, dass die Ermittler nur ausgewählte Dokumente in die Hände bekamen, dass nur bestimmte Personen Auskunft gaben, dass unerwünschte Zeugen nicht gehört wurden und dass Mitarbeiter, die eine andere Version kannten, weiter schweigen. Erkauft wurde das Schweigen mit Zahlungen größerer Summen.

Filiale der bank in Paris; Bild: Mohamed Yahya/CC BY-SA 2.0

Die Ermittlungen Le Roys, heute veröffentlicht von der französischen Online-Publikation Mediapart, veranschaulichen nicht nur, wie ein Sündenbock geschaffen wird. Sie führen auch einen zumindest seltsamen, auffälligen Gleichklang in der Sache zwischen Bankvorstand und Staatsanwaltschaft vor Augen. Das hat relevante politische Dimensionen, weil die Staatsanwaltschaft den Weisungen des Justizministeriums folgt. Der französische Staat hat der Bank im finanziell schwierigen Jahr 2008 unter die Arme gegriffen und ihr 1,7 Milliarden Euro an Steuern erlassen.

Nur die offizielle Sicht der Bank zählt, der Rest wurde verschwiegen

Man habe sie "benutzt", sagt Nathalie Le Roy jetzt. Von den ersten Ermittlungen im Jahr 2008 an, habe die Bank ihre eigene Version der Geschichte okroyiert. Sie bekam nur ausgewählte Zugänge zu Rechnern und zu Dokumenten und ausgewählten Zeugen. Bei den Erklärungen zu den Geschäften durch Fachleute der Bank wurden wichtige Details ausgelassen, was die Ermittlerin erst später herausfand.

Ein Mail-Archivsystem wurde ihr verschwiegen. So gelangte sie nicht an Mail-Korrespondenzen, die es ermöglichen, die Geschäfte Kerviels bei der Eurex nachzuvollziehen. Auch dabei stellte sich die Frage, inwieweit solche Geschäfte durchzuführen wären, ohne Aufmerksamkeit der Bankführung zu erwecken.

Für die Ermittlungen zur Berufungsverhandlung 2012 wurde ihr die Übergabe von angefordertem Beweismaterial verweigert. Die Staatsanwaltschaft unterstützte ihr Drängen auf die Aussagen anderer Zeugen und die Herausgabe eines Dokuments nicht, sondern schloss trotz der vorgebrachten Einwände der Polizeiermittlerin, der Kollegen und Richter einen makellos guten professionellen Ruf attestieren, den Fall ab. Das Urteil aus dem ersten Verfahren im Jahr 2010, das Kerviel wegen "Veruntreuung, Fälschung und betrügerischer Manipulation" zu fünf Jahren Haft, davon zwei ausgesetzt zur Bewährung verurteilte, wurde bestätigt. Die Bankführung blieb unbescholten.

Zeugenaussagen,E-Mails und Tonaufnahmen

Dabei gab es Aussagen, die zwingend darauf schließen lassen, das die Bank von den riskanten Geschäften Kerviel gewusst haben muss. So etwa von einem Société Générale-Mitarbeiter, der schon im April 2007 eine Warnung über die Geschäfte Kerviels an seine Vorgesetzte schrieb. Per Mail mit einem Totenschädel als Zeichen, damit die Mail nicht unbeachtet bleibe. Als die Polizeiermittlerin bei der Bank auf die Herausgabe der E-Mails des Mitarbeiters drängte, fehlte die Mail. Die juristisch unterlegte Aufforderung, die Mails der Vorgesetzten mit dem Mitrabeiter zu überlassen, ignorierte der Bankchef Oudea. Er folgte der Aufforderung nicht.

Laut Anwalt Kerviels trafen sich der Trader und seine Vorgesetzten am Wochenende (19. und 20. Januar 2008) bevor der Skandal öffentlich wurde (24. Januar). Darüber gibt es 45 Tonaufnahmen. Allerdings waren, als sie übergeben wurden, 2 Stunden und 45 Minuten gelöscht bzw. herausgeschnitten.

Schweigegeld

Darüber hinaus berichtet die Ermittlerin von einem Gespräch mit einer leitenden Mitarbeiterin der Personalabteilung, die der Polizistin erzählte, dass der damalige Finanzchef Frédéric Oudea sich eine bestimmte Anzahl von Managern "geschnappt" habe, um sie ein Schweigeabkommen unterschreiben zu lassen. Dies kam auch bei Gerichtsverhandlungen zu Sprache, allerdings ohne Konsequenzen. Da niemand verriet, was genau Gegenstand der Schweigeverpflichtung war. Einer sagte vor Gericht aus, dass er einen Bonus erhielt, der das Siebenfache seines jährlichen Einkommens betrug.

Der Mann, Martial Rouyère, wurde später entlassen, wie auch Philippe Houbé - keine Einzelfälle, wie aus Nathalie Le Roys Bericht hervorgeht. Zu lesen ist auch, dass Insider der für Außenstehende nicht durchschaubaren Bankgeschäftswelt fest davon überzeugt sind, dass Geschäfte, wie sie Kerviel tätigte, nicht verheimlicht werden können.

Die 4,9 Milliarden-Euro-Frage

Möglicherweise wird anhand der Aussagen der Ermittlerin der Fall neu vors Gericht gebracht, spekuliert Mediapart, das mit dieser Spekulation freilich seine Enthüllungsstory weiter aufwertet. Kein Zweifel besteht darin, dass noch einige Fragen zu klären wären, zum Beispiel die 4,9 Milliarden-Euro-Frage.

Auf diese Summe bezifferte die Société Générale den Schaden, der ihr durch die "betrügerischen Geschäfte" des "kleinen Traders" entstanden sind. So viel Schadensersatz sollte Kerviel laut einem Gerichtsurteil zahlen. Das wurde allerdings später aufgehoben. Bis heute steht eine Verhandlung darüber noch aus. Bis heute ist noch nicht genau und offen geklärt, auf welchen Grundlagen die Bank diese Schadenssumme errechnete. Ungeklärt ist auch, wer von dem Verlust finanztechnisch profitiert hat.

Kerviel ist seit September 2014 auf Bewährung auf freiem Fuß- mit einer elektronische Fessel.

Der Société Générale-Vorstand Daniel Bouton musste vier Monate nach der Affäre seinen Hut nehmen, doch ohne Sonderleistungen ist sein Lebensabend mit 730.000 Euro jährlich weich abgefedert. Aufgeflogen waren die Wettgeschäfte übrigens nur, "weil sich die Bank über die US-Krise mit schlecht abgesicherten Subprime-Krediten verspekuliert hatte. Als die Krise nach Europa schwappte forderte die Banque de France eine detaillierte Auflistung der Positionen auch von der Société Générale, womit das gefährliche Spiel aufflog".