Der Horror von Malakka

Nur wenige Kilometer von der rettenden Küste entfernt verhungern, verdursten und ertrinken in Südostasien seit Monaten Menschen

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Wer wissen will, wie wenig ein Menschenleben im Jahr 2015 wert ist, muss die Berichte über ein Boot im Golf von Malakka lesen. Seit Wochen diskutiert die Weltgemeinschaft, wie man den tausenden Flüchtlingen in Südostasien helfen kann. Wie einfach es gehen kann, das haben nun zwei Journalisten gezeigt. Die beiden Reporter von BBC und New York Times buchten ein Flugticket nach Thailand, nahmen sich ein Schnellboot und fuhren einfach hin. Was sie mitbrachten, sind Berichte aus der Hölle.

Die Recherche des BBC-Journalisten Jonathan Head und seines New York Times-Kollegen Thomas Fuller begann mit einem Gerücht: Ein Boot mit 350 Menschen an Bord sei in der Bucht von Malaka verschwunden. Zweieinhalb Monate seien die Menschen, die Myanmar vor der Verfolgung des Regimes verlassen hatten, bereits an Bord. Ein Fischer könnte das manövrierunfähige Boot an die Küste Thailands geschleppt und die Flüchtlinge gerettet haben, mutmaßten Leute vor Ort. Nach anderen Quellen befindet sich das Boot weiter auf offener See. Nur wo genau, das wusste niemand.

In den Berichten, die die beiden Journalisten nun veröffentlichten, geben Head und Fuller nicht nur einen Einblick in das gigantische Leid der Flüchtlinge. Ihre Reise zeigt auch, wie einfach man den Menschen helfen könnte. Wenn die Behörden Myanmars, Thailands, Indonesiens und Malaysia es nur wollten.

"Es hat mich fertig gemacht, dass die New York Times dies tat, und nicht die Rettungsdienste der thailändischen oder malaysischen Regierung", schreibt Fuller in seinem Bericht. Um das Boot zu finden, reisten er und sein Kollege Head nach Thailand. Dort fanden sie die Handynummer von einem der Flüchtlinge heraus, der damit noch einen Notruf absetzen konnte, bevor er und die 350 anderen Flüchtlinge verschwanden. Ein lokaler Polizist half Fuller und Head, mit einer Anfrage bei der zuständigen Telefongesellschaft den Standort des Gesprächs herauszufinden. Beide nahmen sich ein Schnellboot und machten sich auf die Suche. "Zehn Meilen später haben wir entdeckt, was das Rohingya-Boot sein könnte", schreibt Fuller.

Die UN spricht von "schwimmenden Särgen"

Rund 7000 Flüchtlinge sollen es sein, die in der Meerenge von Malaka in völlig überfüllten und teils manövrierunfähigen Booten treiben. Manche Schätzungen gehen auch von 20.000 aus. Die meisten von ihnen gehören zur muslimischen Minderheit der Rohingya, die auf der Flucht vor Armut und Massakern Bangladesh und Myanmar verließen. "Schwimmende Särge" nennt die UN die Boote, denen mittlerweile sämtliche Staaten in der Region die Aufnahme verwehren. "Die Situation ist gravierend", erklärte ein Sprecher der International Organisation for Migration (IOM) am Wochenende gegenüber Reuters: "Sie haben keine Nahrung, kein Wasser, sie trinken ihren eigenen Urin."

Auf den Aufnahmen, die Jonathan Head für die BBC von dem völlig überfüllten Boot veröffentlichte, sieht man weinende Frauen, apathische Kinder. Dünne Arme greifen nach den Wasserflaschen die Head von seinem kleinen Schnellboot wirft. Die Menschen hätten nach Wasser gefleht, schreibt Fuller in seinem Artikel. Seit drei Monaten befänden sie sich auf dem offenen Meer, mindestens zehn seien bereits gestorben.

Noch drastischer sind die Bilder, die eine Reporterin des thailändischen Fernsehens vom selben Boot veröffentlichte: Dutzende Menschen drängen sich dort halb verhungert im Bauch des Bootes. Viele weinen, andere liegen leblos mit weit aufgerissenen Augen am Boden.

Behörden spielen Verantwortungspingpong

Nachdem auch Malaysia vergangene Woche seinen Grenzen geschlossen hatte, ist die Lage für die Flüchtlinge vollends aussichtslos. Von "inneren Problemen, in die wir nicht eingreifen können", spricht Malaysia Regierungschef Najib Razak und meint das Regime in Myanmar. Dieses will nicht einmal eingestehen, dass die Menschen aus seinem Land flüchten.

Thailand und Indonesien drängen die Boote unterdessen mit ihrer Marine weg von den Küsten, hinaus auf das offene Meer. Allein in der letzten Woche wurden mindestens drei Boote mit insgesamt bis zu 2000 Flüchtlingen weggeschickt. Zuletzt verweigerte Thailand am Montag einem Boot mit 500 Menschen an Bord das Anlanden.

Ins Wasser geworfen, erstochen, erhängt, zerhackt

In welchen Horror dies die Flüchtlinge treibt, zeigt ein Massaker, von dem am Wochenende gerettete Flüchtlinge auf der indonesischen Insel Sumatra berichteten. Gegenüber der BBC erzählten sie, nachdem Nahrung und Wasser ausgegangen waren, seien an Bord eines Bootes rund 100 Menschen getötet worden: ins Wasser geworfen, erstochen, erhängt, zerhackt. Eine der Überlebenden sagt: "Zwei Wochen lang hatten wir keine Nahrung. Wir verhungerten. Ich sah, wie kleine unschuldige Kinder geschlachtet wurden."

Gerettet wurden die Überlebenden schließlich von indonesischen Fischern. Sie bleiben oft die einzige Hoffnung für die Flüchtlinge, bringen Nahrungsmittel oder schleppen manövrierunfähige Boote an die rettende Küste. Doch auch gegen sie wollen die Behörden nun härter vorgehen: Am Samstag wies der Sprecher der indonesischen Armee, Fuad Basya, Fischer an, keinen Flüchtlinge mehr zu helfen. Selbst Ertrinkende dürften nicht mehr aufgenommen werden.

In anderthalb Wochen will man beraten

"Im Namen der Menschlichkeit, lassen Sie diese Migranten an Land", wandte sich der Vorsitzende der International Organisation for Migration, William Lacy Swing, am Wochenende an die verantwortlichen Regierungen. Doch deren Reaktion ähnelt jener Politik, die man aus der Europäischen Union kennt: Neben noch mehr Abschottung und dem Zerstören von Booten einigte man sich bisher lediglich darauf, weiter beraten zu wollen. Zu einem regionalen Flüchtlingsgipfel lud der malaysische Außenminister Anifah Aman am Sonntag ein. Stattfinden soll der am 29. Mai. Myanmar sagte bereits ab.

In den Berichten der Reporter Jonathan Head und Thomas Fuller scheint es zumindest kurz etwas Hoffnung für die Flüchtlinge zu geben: Soldaten des thailändischen Militärs entern das manövrierunfähige Schiff, reparieren den Motor und zeigen einem der Flüchtlinge, wie man das Boot zu steuern hat. Nur in Richtung der rettenden thailändischen Küste fahren, darf er nicht. Politiker des Landes sagen, die Flüchtlinge wollten gar nicht nach Thailand. Die Schreie der Menschen in den Aufnahmen von Fuller und Heads sagen etwas anderes.