Kobanê: Hilfskorridor zum Wiederaufbau gefordert

YPJ-Kämpferin, während des Kampfes gegen ISIS; Bild: Claus Weinberg/CC BY 2.0

Kobanês "Außenminister" Idriss Nassan über Probleme, Pläne und die Lage in der weitgehend zerstörten Stadt

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Die Selbstverwaltung in Rojava in Nordsyrien (Das Modell Rojava) gewinnt auf der internationalen Bühne an Boden. Der UN-Sondergesandte für Syrien Staffan Domingo de Mistura hat zum ersten Mal neben der übrigen syrischen Opposition auch die linke Partei der demokratischen Einheit (PYD) welche für das Projekt der "Demokratischen Autonomie" in Rojava steht, in die Gespräche zur Vorbereitung der Genf III Konferenz eingebunden.

Zur Zeit reist der stellvertretende Minister für ausländische Angelegenheiten von Kobanê, Idriss Nassan von der in der Regierung von Kobanê vertretenen Demokratischen Partei syrisch Kurdistans (PDKS),1 durch die Bundesrepublik und wirbt bei Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen um Unterstützung für den Wiederaufbau von Kobanê.

Dabei geht es in erster Linie darum, mit Hilfe Europas die Türkei dazu zu bewegen, die Grenzen nach Kobanê für humanitäre Hilfslieferungen zur Versorgung der Bevölkerung und zum Wiederaufbau von Kobanê zu öffnen.

Kobanê hat in den letzten Monaten in der deutschen Presse viel Aufmerksamkeit bekommen, da sich die Selbstverteidigungskräfte YPG/YPJ in Kooperation der internationalen Koalition (USA u.a.) erfolgreich gegen den Islamischen Staat (IS) wehren konnten und die Stadt und ihre Umgebung befreit haben (Kobanê: IS-Dschihadisten verjagt). Damit ist diese, für die USA strategisch unbedeutende Stadt, international zum Symbol des Widerstands gegen den IS und für Basisdemokratie geworden. Telepolis sprach mit Idriss Nassan.

Nötig ist ein Korridor von der Türkei nach Kobanê

Wie steht es mit dem Wiederaufbau von Kobanê?

Idriss Nassan: Der Wiederaufbau von Kobanê hat eigentlich schon direkt nach der Befreiung von Kobanê am 29. Januar 2015 begonnen. Direkt im Anschluss wurde ein Komitee gegründet, das damit beauftragt war, eine Bestandsaufnahme zu machen, welche Schäden entstanden sind. Auf der Konferenz in Amed wurde dieser Bericht veröffentlicht. Daraus ging hervor, dass die Stadt zu 70-80% zerstört ist. Die Infrastruktur und die Gebäude sind mehr oder weniger komplett zerstört.

Die Schäden wirken sich insbesondere auf das Gesundheitssystem und das Bildungssystem aus. Es gibt praktisch kein Gesundheitssystem und Schulsystem mehr. Auf der Konferenz wurde eine Lagebewertung gemacht und eine Roadmap erstellt. Diese sieht vor, erst mal den Schutt in den Straßen aufzuräumen und dafür zu sorgen, dass Nahrungsmittel in die Stadt kommen. Darüber hinaus soll das Gesundheits- und Schulsystem so schnell wie möglich wiederaufgebaut werden.

Es gibt ja internationale Brigaden, die nach Kobanê gehen möchten und mithelfen wollen. Es sollen hier dafür auch Werkzeuge und Baumaterialien gesammelt werden. Das ist ein ziemlich großer und teurer logistischer Aufwand. Ist es nicht sinnvoller, Geld für den Wiederaufbau zu sammeln und Werkzeuge und Materialien vor Ort in Nordkurdistan zu kaufen?

Idriss Nassan: Richtig. Es ist schwierig, das Material dorthin zu schaffen und über die Grenze zu bringen. Daher empfehlen wir eigentlich allen unseren Partnern, Geld zu sammeln und zusammen mit der Unterstützung der kurdischen Kommunen in Nordkurdistan die Sachen dort zu besorgen und sie werden uns dort auch behilflich sein, die Sachen über die Grenze zu transportieren.

Es wird ja immer wieder ein Korridor durch die Türkei zu den benachbarten Kantonen gefordert, um von dort Hilfsgüter nach Kobanê zu bekommen. Dieser wäre auch notwendig, wenn Werkzeuge, Baumaterialien und Helfer aus Europa nach Kobanê sollen. Wie ist die Situation an der Grenze Kobanê - Türkei?

Idriss Nassan: Die türkischen Verantwortlichen sagen das ganz offen, dass sie beim Wiederaufbau von Kobanê nicht kooperieren werden. Das zeigt auch deren Haltung: Sie werden die Grenzen weiter verschlossen halten und auch in Zukunft werden Spezialisten die Grenze nicht ohne weiteres passieren können. Bis jetzt kommen zwar einzelne Essenslieferungen und Hilfsgüter über die Grenze, aber das passiert nur durch den starken Druck der Kommunen in Nordkurdistan, ohne ihre Unterstützung wäre das Überleben der Menschen in Kobanê ohnehin nicht möglich.

Mittlerweile leben dort über 100.000 Menschen und diese beschränken sich auf das absolut Notwendigste. Ohne einen Korridor können weder die Aufbauarbeiten aufgenommen werden, noch können Spezialisten einreisen. Mehr oder weniger hängt alles davon ab, dass es einen Korridor von der Türkei nach Kobanê gibt.

Was ist an Helfern nötig? Sind Mediziner nötig, sind Ingenieure nötig? Sind auch Arbeitskräfte nötig, um beispielsweise Schutt zu räumen?

Idriss Nassan: Wir brauchen eigentlich alles, aber hauptsächlich technisches Equipment für den Wiederaufbau, wir brauchen Räumgeräte, um den Schutt wegräumen zu können. Was die Spezialisten angeht, wir brauchen Leute aus dem Gesundheitswesen, die uns helfen, dieses wieder aufzubauen. Dann brauchen wir Ingenieure, die einen Plan aufstellen können, wie wir diesen Wiederaufbau angehen können. Es ist zwar richtig, dass wir genug Arbeiter haben, die anpacken können, aber die haben keinen Plan, wie sie da herangehen sollen. Wir brauchen Leute, die uns sagen, wie so was geht.

Rojava hat ja im Gesellschaftsvertrag Paradigmen von Ökologie, Demokratie, von Basisdemokratie und kommunalem Leben festgeschrieben - spielt das eine Rolle beim Wiederaufbau oder geht es jetzt darum, die Stadt erst mal wieder aufzubauen. Gibt es Ideen die Stadt anders aufzubauen?

Idriss Nassan: Als die Stadt Kobanê damals vom Baath-Regime gebaut wurde, sah die Infrastruktur so aus, dass das alles sehr eng und unübersichtlich war. Daraus sind große Probleme entstanden und wir benötigen einen komplett anderen Städtebauplan. Wir wollen unsere Stadt breiter, weiter und ökologischer ausbauen, es soll vor allem mehr Grünflächen geben, es soll viel mehr darauf geachtet werden, dass es genug Vegetation gibt.

Es gibt auch Teile der Stadt, die nicht komplett zerstört sind, die sollen erhalten bleiben, aber sie sollen modernisiert werden, um einem ökologischen und demokratischen Leben gerecht zu werden. Und Teile der Stadt sollen auch als Museum fungieren, um den Menschen, die in die Stadt kommen zu zeigen, welcher Preis für die Befreiung gezahlt wurde. Die anderen Stadtteile müssen neu aufgebaut werden und dafür brauchen wir einen neuen Städtebauplan.

Wir wollen auf Sonnen- und Windenergie setzen

Wie sieht das denn aus mit der Energieversorgung? Im Kanton Cizîrê läuft im Moment alles nur über Generatoren und Öl. Gibt es auch Ideen, was man da machen kann, also eine dezentrale Energieversorgung?

Idriss Nassan: In Amed wurde das auch zum Thema gemacht. Wir wollen auf Sonnen- und Windenergie setzen, weil wir viel Sonne haben. Darüber hinaus kann auch die Windenergie genutzt werden. In Kobanê haben wir kaum Öl, wir haben aus Cizîrê Öl bezogen, aber seit die Wege durch den IS dahin gekappt sind, haben wir keine Möglichkeiten, Öl zu beziehen. Aus Nordkurdistan haben wir kleine Mengen, aber die sind so teuer, dass wir das uns im Prinzip nicht leisten können.

Im Moment haben wir einige Generatoren, die reichen aber nur für 2-3 Std. Strom täglich, um die Handys aufzuladen und das Wichtigste fürs tägliche Leben zu organisieren. Darüber hinaus haben wir keine Möglichkeit, Strom zu produzieren, deshalb wollen wir die Sonnen- und Windenergie nutzen. Einer unserer Grundsätze in Rojava ist es auch, ein ökologisches und demokratisches Leben zu ermöglichen und dafür gibt es die Notwendigkeit, die ökologische Energieproduktion zu nutzen.

Zur Versorgung der Bevölkerung, das ist ja auch ein großes Problem. Wie viel Prozent der ansässigen Bevölkerung sind nach Kobanê zurückgekehrt? Konnten die Bauern in den umliegenden Dörfern schon etwas anbauen?

Idriss Nassan: Die Lage sieht so aus, dass relativ viele Sprengkörper in den Feldern zurückgeblieben sind, demnach ist es für die Leute sehr gefährlich, viele von unserer Bevölkerung sind solchen Explosionen zum Opfer gefallen. Wir beklagen mindestens 45 Tote durch explodierte Rückstände. Und eigentlich war auch die Zeit vorüber, etwas anzubauen. Als die Menschen zurückkehrten, war es nicht möglich dort etwas anzubauen, es wurde auch nichts angebaut, die Menschen sind tatsächlich im Moment auf die Hilfsgüter angewiesen, um ihre Bedürfnisse zu decken.

Es kommen einige Sachen aus dem Norden (Nordkurdistan/Türkei, Anm. d.A), die auch als Handelsware rüber kommen, aber es ist alles sehr teuer, so dass die Leute sich das eigentlich nicht leisten können. Also das Leben wird dort unter sehr schwierigen Umständen geführt und, um das Leben etwas zu erleichtern und die Situation etwas zu lindern, sind wir gerade jetzt hier in Europa, und versuchen hier mit allen Kreisen Gespräche zu führen, um eben Hilfsgüter nach Kobanê zu bringen, aber auch für einen Korridor Druck aufzubauen.

Dieser Korridor würde unsere Last etwas lindern. Sollte das nicht geschehen, werden Dinge wie Bildung, Gesundheit und andere Sachen, die eigentlich Grundbedürfnisse der Menschen dort sind, nicht möglich sein und ein Überleben dort wird kaum möglich sein.

Die Pläne der Türkei

Wie ist denn im Moment die Sicherheitslage in den Dörfern? Können die Dörfer gegen Angriffe vom IS gehalten werden?

Idriss Nassan: Die Sicherheitslage in den Dörfern sieht folgendermaßen aus: wir haben mittlerweile die Fronten ca. 40 km vom Stadtkern hinaus verschoben, d.h. wir kämpfen in einem Zirkel von etwa 40 km gegen den IS. Nach der Niederlage in Kobanê hat der IS sehr an Stärke verloren und ihre Moral ist auch sehr gesunken.

Sie haben starke Verluste hinnehmen müssen und durch den großen Widerstand, der dort geleistet wurde, plus die Koordination mit den verschiedenen Kreisen wie der FSA und auch den internationalen Kräften haben wir es geschafft, ein Wiederkommen des IS dauerhaft zu verhindern. Sie werden es nicht mehr schaffen und sich auch nicht mehr trauen, einen erneuten Angriff in dieser Dimension zu starten - sie werden auch keine Chance haben.

Gibt es Gedanken und Ideen einen Korridor zwischen Kobanê und Cizîrê zu schaffen? So könnte man über irakisch Kurdistan die Versorgung organisieren.

Idriss Nassan: Es gibt durchaus Pläne zwischen unseren Kräften und auch Teilen der FSA alle Gebiete, die vom IS besetzt sind, zu befreien, dazu gehören auch die umliegenden um Rojava, allen voran Gire Spi (arab. Tell Abyad), das zwischen Kobanê und Cizîrê liegt und einerseits als Operationsbasis des IS und andererseits als logistische Verbindung über die Grenzübergang mit der Türkei für die Dschihadisten wichtig ist. Aber die internationalen Kräfte lassen ihre Pläne nicht wirklich durchschauen, was sie diesbezüglich vor haben.

Wir wissen, dass die Türkei einen großen Druck auf die internationale Koalition ausübt, Tell Abyad unangetastet zu lassen, dort keine Angriffe zu veranlassen, denn sie wollen nicht, dass diese Stadt befreit wird. Wir appellieren aber an alle unsere Partner und demokratischen Kräfte, dass die Befreiung notwendig ist, erstens weil der IS dann fernab von der Türkei wäre, zweitens weil das Volk dort befreit wäre, und drittens weil wir dann einen Korridor zwischen Kobanê und Cizîrê hätten.

Heißt das denn, dass die Türkei verhindern will, dass Girê Spî (Tell Abyad) befreit wird, dass sie einen Korridor verhindern will?

Idriss Nassan: Richtig, zunächst einmal wollen sie nicht, dass es eine Verbindung zwischen unseren beiden Kantonen entsteht, das würde zur Stärkung von beiden Kantonen führen und das will die Türkei auf keinen Fall. Zweitens geht es auch darum, dass in Girê Spî der Grenzübergang zu Akçakale besteht, und es gibt diverse internationale Berichte, dass die Terroristen durch diesen Grenzübergang nach Syrien sickern.

Die Türkei will diesen Grenzübergang eben nicht aufgeben, denn damit wäre auch die Verbindung zu den Terroristen gekappt und das wollen sie auf keinen Fall. Darüber hinaus ist auch klar, dass die Türkei gegen alle Errungenschaften der Kurden ist, sie versucht mit allen Mitteln, alles zu unterbinden, was zu einer Stärkung von kurdischen Kräften führen könnte.