Türkei-Wahlkampf: Es geht um zehn Prozent

Die starke Position von Präsident Erdogans AKP gerät ins Wanken, es zeichnet sich eine Richtungswahl ab

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Am 7. Juni wählt die Türkei ein neues Parlament. Obwohl Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan in seiner verfassungsgemäßen Rolle politisch neutral sein sollte, macht er Wahlkampf für die AKP - denn er will die Verfassung ändern und das parlamentarische durch ein Präsidialsystem ersetzen. Opposition und Kritiker warnen davor, dass die Türkei zur Diktatur werden könnte. Aber sicher ist der Sieg der AKP keineswegs - Umfragen sehen sie bei knapp unter 40%. Wahlentscheidend dürfte das Abschneiden der pro-kurdischen HDP werden. Wenn sie die 10%-Hürde überwindet, ist die Macht der AKP in Gefahr. Es zeichnet sich eine Richtungswahl ab, die über die Zukunft der Türkei entscheiden könnte.

In einer Kneipe im Istanbuler Viertel Besiktas sitzt der Schriftsteller Emrah Serbes und bestellt gut gelaunt ein Bier. Besiktas war eines der Widerstandsnester gegen die Staatsgewalt während des Gezi-Aufstands vor zwei Jahren. Wochenlang lieferten sich Polizei und Demonstranten hier Straßenschlachten. Es war ein Heimspiel für Carsi, den Ultra-Fanclub des Fußballvereins Besiktas. Später wurde Anklage erhoben, Carsi sollte zur terroristischen Vereinigung erklärt werden. Serbes‘ neuer Roman "Deliduman" dreht sich um die Parkbesetzung. In der Türkei ist er bereits ein Bestseller, vor allem die junge Generation liest seine Bücher.

Serbes nippt an seinem Bier und zündet sich eine Zigarette an. Er kommt gerade von einem Gerichtstermin. Gegen ihn liegt ein Haftbefehl vor. Die Einschüchterungsmaßnahme scheint an ihm abzuprallen. Auch als zwei Streifenpolizisten vorbeikommen wird er nicht nervös. Die Staatsanwaltschaft will ihn wegen Beleidigung des Staatspräsidenten hinter Gitter bringen. Wieder einmal. Schon 2014 waren zwölf Jahre Haft gefordert. Serbes wurde freigesprochen und legte nach, sprach öffentlich von gierigen Männern und ihren Schuhkartons voller Geld in Anspielung auf den Korruptionsskandal, der bis in höchste Regierungskreise reicht, und über den die Medien hier nicht berichten dürfen.

Er lässt sich nicht den Mund verbieten. Bis zu einem gewissen Grad schützt ihn seine internationale Popularität. Ein paarmal bleiben Passanten stehen und bitten um ein Autogramm, einer schleppt eine Tüte voller Serbes-Bücher an, der sie gerne signiert. "Ich kam mit meinen Anwälten zu Gericht, aber der Richter ließ sich nicht blicken. Als wir raus waren, hieß es, ich wäre nicht zu dem Termin erschienen, und deshalb gebe es jetzt einen Haftbefehl. Das sind die üblichen Spielchen." Er lächelt, als würde er bloß die Story seines neuen Buches erzählen.

Serbes ist kein Einzelfall. Jeden Tag gibt es solche Anklagen und Verhaftungen, viele kommen direkt aus dem Präsidentenpalast. Von dort aus, so will es Erdogan, soll künftig die Türkei regiert werden, das Parlament in Ankara soll nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Auch den Posten des Ministerpräsidenten, so Erdogan, brauche man eigentlich nicht. In Kombination mit dem Kampf gegen Kritiker und immer weiter reichenden restriktiven Gesetzen, die das Privatleben der Türken reglementieren sollen, kann man nachvollziehen, wenn Beobachter Angst vor einer Diktatur haben.

Sorge vor der Manipulation der Wahl

Aber es könnte knapp werden. In Umfragen steht die regierende AKP zwischen 38 und 40%, die kemalistische CHP (die größte Oppositionspartei) zwischen 20 und 26%, die rechtsnationalistische MHP zwischen 14 und 19%. Die Partei, auf die es ankommt, die 2012 gegründete prokurdische linksliberale HDP, war noch nie im türkischen Parlament vertreten. Die Umfrageinstitute sehen sie bei 11 bis 12%. Wenn sie die 10%-Hürde schafft, ist der Weg für einen Regierungswechsel offen. Schafft sie es nicht, wird die AKP wohl weiter regieren und auch die Verfassung ändern können.

Nach den Erfahrungen der letzten Jahre ist fast jeder, mit dem man in Istanbul spricht, überzeugt davon, dass es bei der Wahl Manipulationen geben wird - vor allem um den Einzug der HDP ins Parlament zu verhindern. Diese Befürchtungen teilt auch die OSZE, die am 19. Mai ankündigte, Wahlbeobachter in die Türkei zu schicken, während CHP und HDP vor Ort Wahlbeobachter anwerben. AKP-Ministerpräsident Ahmet Davutoglu kommentierte die Angelegenheit jüngst und versprach seinen Rücktritt, sollten sich die Manipulationsvorwürde als wahr herausstellen.

Derweil nehmen Spannungen und Gewalt zu, je näher die Wahl rückt. In den vergangenen Wochen gab es mehrfach Bombenattentate auf Wahlkampfbüros der HDP - aber auch AKP-Niederlassungen wurden angegriffen. Davutoglu warf HDP und MHP (zwei Parteien, die inhaltlich weiter voneinander nicht entfernt sein könnten) vor, gemeinsame Sache zu machen und die Anschläge selbst inszeniert zu haben, während der Innenminister die verbotene linksradikale DHKP-C als Täter vermutet. HDP-Vorsitzender Selahettin Demirtas schreibt die Bomben dem Islamischen Staat (IS) zu, und der türkische Inlandsgeheimdienst MIT bringt Agenten des syrischen Regimes ins Spiel. Solche kabaretthaften Momente gibt es oft im türkischen Wahlkampf.

Konflikte in der AKP

Erdogan, der als Staatspräsident eigentlich neutral sein sollte, hebt bei Reden im In- und Ausland die Leistungen der AKP hervor und greift die Oppositionsparteien an. Deutlicher kann er kaum demonstrieren, welchen Stellenwert die aktuelle türkische Verfassung für ihn hat. Doch das Bild der geschlossen hinter ihm stehenden AKP bröckelt. Zwar wird in den überwiegend gleichgeschalteten Staatsmedien ein Bild einer starken Partei vermittelt, die siegesgewiss ist, zugleich aber häufen sich berichte über heftige interne Streitigkeiten und Drohungen gegen Parlamentarier, sollten sie damit an die Öffentlichkeit gehen.

Es wird zunehmend deutlich, dass der gemäßigte Parteiflügel keine große Lust hat, die autoritären Spielchen mitzuspielen und sich nach der Wahl entmachten zu lassen. Je nach deren Ausgang könnte es zum Bruch innerhalb der Partei und auch zur Rückkehr von Ex-Präsident Abdullah Gül in die aktive Politik kommen. Der AKP-Mitbegründer Dengir Mir Mehmet Firat ist bereits zur Konkurrenz übergelaufen - er kandidiert in Mersin für die HDP.

Erdogan setzt im Wahlkampf vor allem auf zwei Elemente: den Islam und die Wirtschaft. Um letztere anzukurbeln unterstützt der Staat den Bausektor nach Kräften, der maßgeblich für ein Wirtschaftswachstum verantwortlich ist, das in erster Linie auf dem Papier existiert. Tausende neue Hotels und Einkaufszentren sind im Bau, die meisten in Istanbul. Nur stehen viele der bereits existierenden heute schon mehr oder minder leer. Reiche arabische Shoppingtouristen sollen für Abhilfe sorgen, doch es kommen längst nicht genug.

Seit Jahren schon wächst in der Türkei eine gigantische Immobilienblase heran, während sich ausländische Investoren immer weiter zurückzogen; die Türkische Lira schwächelt seit Monaten, gegenüber dem Dollar hat sie seit dem Vorjahr fast 30% an Wert eingebüßt; die Inflation trifft vor allem die kleinen Leute - also Erdogans Stammwähler, denen er nicht müde wird, Wohlstand zu versprechen.

Hürriyet-Kolumnist Mustafa Sönmez sieht die Türkei am Anfang einer heftigen und lang andauernden Wirtschaftskrise, die jede neue Regierung vor harte Herausforderungen stellen wird. Die Instabilität des Nachbarlandes Syrien und die Tatsache, das täglich hunderte Kämpfer, die sich dem IS anschließen wollen, die Türkei als Durchgangsland nutzen, birgt weiteres Spannungspotential - ebenso das alte gesellschaftliche Zerwürfnisse nach der Wahl wieder aufbrechen könnten.

Zwar wäre mit einer Niederlage der AKP die Angst vor einer Diktatur vorerst vom Tisch - ein Garant für Stabilität sind die Oppositionsparteien aber nicht.