Merkel versucht sich mal wieder als Klima-Kanzlerin

Alle Reaktoren weltweit nach ihrem Alter. Fast 70 haben schon jetzt 40 Jahre oder mehr auf dem Buckel und müssten eigentlich langsam stillgelegt werden. Eigentlich kann es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis es bei einem der Methusalem-Reaktoren zu einem altersbedingten größeren Atomunfall kommt. Bild IAEA

Die Energie- und Klimawochenschau: Von Merkels unverbindlichen Zielen, der Aufnahmekapazität der Ozeane, chinesischer Kritik am AKW-Bau und einer UN-Energiekonferenz, die in Deutschland niemanden interessiert

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Wenig Neues hat letzte Woche der sogenannte Petersberger Klimadialog gebracht, zu dem die Bundesregierung einmal im Jahr rund 35 einflussreiche Länder aus aller Welt nach Berlin einlädt. In unverbindlicher Atmosphäre sollte die diesjährige UN-Klimakonferenz in Paris vorbereitet werden.

Von der Konferenz wird ein neues Klimaschutzabkommen, der Nachfolger des Kyoto-Protokolls, erwartet. Berichtenswert ist in diesem Zusammenhang immerhin, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel für das Vertragswerk ein neues Fernziel ins Spiel brachte. Die Staaten - an den Verhandlungen sind inzwischen tatsächlich fast alle UN-Mitgleider beteiligt - sollten sich darauf einigen, die Treibhausgasemissionen ausgehend vom derzeitigen Niveau langfristig um 60 Prozent zu reduzieren. Gemessen an den Emissionen von 1990, die allgemein bisher als Referenz gelten, auf die sich die meisten Reduktionsziele beziehen, wäre das eine Minderung um 50 Prozent.

Angela Merkel gelingt es mit diesem Vorschlag wieder einmal sich einigen deutschen Medien als Klima-Kanzlerin zu präsentieren. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass sie deutlich hinter dem zurück bleibt, was die Wissenschaftler fordern. Der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), der für die UNO in regelmäßigen Abständen den Stand der Klimaforschung auf diversen Feldern zusammenfasst, hält, ausgehend von 2010, eine Reduktion der globalen Emissionen um 40 bis 70 Prozent für notwendig, wobei die Minderung danach weitergehen muss. Unter Umständen müsse in der zweiten Jahrhunderthälfte der Atmosphäre im größeren Maßstab CO2 entzogen werden, um das 2-Grad-Ziel noch zu erreichen. Merkel wirft hingegen eine relativ hohe Zahl in die Runde, vermeidet dabei jedoch zum einen, sich auf ein Jahr festzulegen, und unterlässt zum anderen den Hinweis, dass es sich nur um ein Etappenziel handeln kann.

Ansonsten hat das von ihr vorgeschlagene Ziel mindestens zwei Haken. Erstens würde eine Reduktion der Emissionen um 60 Prozent bedeuten, dass noch immer jährlich rund 14 Milliarden Tonnen CO2 in die Atmosphäre gelangen. Das ist zwar etwas weniger als die Menge der Emissionen, die derzeit von Ozeanen und Biosphäre aufgenommen wird, und daher nicht zum Anstieg der atmosphärischen Konzentration beiträgt. Allerdings ist nicht damit zu rechnen, dass Ozeane und Biosphäre auch in Zukunft eine ähnliche Menge der Emissionen absorbieren können.

Unter anderem nimmt die Aufnahmefähigkeit der Ozeane durch die vom CO2 verursachte Versauerung ab. Außerdem ist die absorbierte Menge auch von den Emissionen, das heißt vom CO2-Gehalt der Atmosphäre abhängig. Wird weniger emittiert, sinkt auch die Aufnahme durch die Biosphäre an Land und durch die Meere. Untenstehende Grafik der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) zeigt anschaulich, wie in den letzten Jahrzehnten mehr oder weniger im Gleichklang zum Anstieg der Emissionen auch mehr CO2 in den Senken verschwand und damit das Wachstum der atmosphärischen Konzentration dämpfte.

Ohne die Meere und die Biosphäre an Land würden die CO2-Emissionen vollständig in der Atmosphäre verbleiben und ihre dortige Konzentration wäre bereits erheblich höher. Wie man sieht, ist die Aufnahme dieser beiden Senken mehr oder weniger parallel zum Anstieg der Emissionen über die letzten Jahrzehnte mitgewachsen. Bild WMO

Der zweite Haken an Merkels Vorschlag ist, dass offen bleibt, wie viel CO2 und andere Treibhausgase bis zu seiner Umsetzung emittiert werden. Genau das wird aber entscheidend sein, um den Umfang der Klimaveränderungen einzudämmen. Für diese ist letztlich nicht das Ausmaß der Emissionen an einem bestimmten Datum in der ferneren Zukunft entscheidend, sondern das Niveau auf dem die Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre langfristig stabilisiert wird. Und das ist wiederum von der Gesamtmenge der Emissionen abhängig.

Der IPCC hat das in seinem letzten Bericht als Ergebnis diverser Klimamodelle so zusammengefasst: Soll die globale Erwärmung auf zwei Grad (relativ zum Zeitraum 1861 bis 1880) mit einer Wahrscheinlichkeit über 66 Prozent begrenzt werden, dann dürfen insgesamt noch rund 1000 Milliarden Tonnen sogenannter CO2-Äquivalente, das heißt Kohlendioxid und andere Treibhausgase, emittiert werden. Derzeit werden jährlich 49 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalente emittiert, das heißt auf dem jetzigen Niveau könnte noch 20 Jahre weitergemacht werden. Dann müsste allerdings sofort auf Null heruntergeschaltet werden, was natürlich extrem unrealistisch ist.

Würden übrigens alle sieben Milliarden Erdbewohner auf dem deutschen Niveau Treibhausgas produzieren, nämlich elf Tonnen pro Kopf und Jahr, dann blieben nur noch 13 Jahre Zeit. Mit anderen Worten: Das Zwei-Grad-Ziel ist nur zu erreichen, wenn die Emissionen ab sofort möglichst rasch und drastisch reduziert werden, statt quasi selbst den ältesten Kohlekraftwerken noch eine Existenz-Garantie auszuschreiben und das Ganze noch als Klimaschutzpolitik auszugeben, wie es die Bundesregierung vorhat.

AKW in Zhejiang. Bild: Atomic Energy of Canada Limited

Kritik an Chinas Atomplänen

Die Volksrepublik China will derweil ihr AKW-Bauprogramm massiv ausweiten, schreibt die britische Zeitung Guardian. Bereits 2020 wolle man mit Japan gleichziehen, wo derzeit noch 43 Reaktoren als betriebsbereit gelten, aber im vergangenen Jahr keinen Strom produzierten. Zehn Jahre später, so der chinesische Plan, soll die Volksrepublik zur größten Atommacht aufgestiegen sein. Dabei könnte ihr allerdings entgegenkommen, dass in den meisten Ländern die AKW-Flotten hoffnungslos überaltert sind und dort die Stilllegungen die Neubauten bis 2030 mit ziemlicher Sicherheit weit überwiegen werden (siehe Methusalem-Reaktoren).

Nach den Daten der Internationalen Atomenergie Agentur sind derzeit im Land der Mitte 27 Reaktoren in Betrieb, die im vergangenen Jahr knapp 2,4 Prozent zur chinesischen Stromproduktion beitrugen. 24 weitere sind im Bau, zwei davon erst seit wenigen Wochen. Vier der 27 Reaktoren mit jeweils rund einem Gigawatt Leistung wurden erst in diesem Jahr in Betrieb genommen.

Nach Angaben des Guardian ist das Motiv für das AKW-Programm der Wunsch nach Unabhängigkeit von Energieimporten und der Ersatz der Kohlekraftwerke aus Umweltschutzgründen. Wenn allerdings 23 Reaktoren, von denen fast alle eine Leistung von einem GW haben, nur knapp 2,4 Prozent zur Stromproduktion beitragen, dann werden auch die rund 100 Reaktoren, die nötig sind, um zur größten Atommacht zu werden, bei einem jährlich um drei bis vier Prozent wachsenden Strombedarf nicht einmal zehn Prozent der Stromproduktion Chinas decken können. Offensichtlich ist das Motiv also nicht vorrangig die Sicherung der Energieversorgung - zumal auch Uran nicht unproblematisch in der Beschaffung ist -, sondern vermutlich eher technologie- und industriepolitischer Natur.

Interessant an dem erwähnten Guardian-Artikel ist vor allem, dass er ausführlich einen prominenten chinesischen Kritiker dieses Kurses zu Wort kommen lässt, und zwar den 88jährigen Physiker He Zuoxiu. He ist in China kein Unbekannter, sondern gehörte einst zu den Entwicklern der chinesischen Wasserstoffbombe, ist ein treues Mitglied der Kommunistischen Partei, hat verschiedene Kampagnen gegen Aberglauben und traditionelle chinesische Medizin angestoßen und ist seit 1980 Mitglied der Chinesischen Akademie der Wissenschaften.

Er kann es sich also erlauben, sich etwas aus der Deckung zu wagen. Nach seinen Aussagen gibt es derzeit hinter den Kulissen in der Volksrepublik einen heftigen Streit zwischen den Befürwortern eines rasanten Ausbaus und den Fürsprechern höherer Sicherheitsstandards. He selbst nennt das derzeitige Tempo verrückt und fordert, vorerst keine Neubauten mehr anzufangen. Angesichts der Tatsache, dass bis auf drei Reaktoren alle anderen noch nicht einmal 15 Jahre am Netz seien, gäbe es in China viel zu wenig Erfahrung mit dem Betrieb von AKW. Zudem seien alle Regionen, in denen es genügend Wasser für die Kühlung gebe, sehr dicht besiedelt. Die Risiken bei etwaigen Unfällen sind daher besonders groß.

Nach Hes Aussagen scheint es aber in China so wie überall auf der Welt zu laufen. Bessere Sicherheitsstandards seien in den letzten vier Jahren zwar erwogen, aber dann verworfen worden. Die Gründe seien ein starker Druck in Richtung raschen Ausbaus und Konzerne, die stark genug sind, ihre Profite über die nationale Sicherheit zu stellen. Höhere Sicherheitsstandards "würden sehr viel mehr an Investitionen nötig machen, und das würde die Wettbewerbsfähigkeit und die Profitabilität der Atomkraft beeinträchtigen", zitiert der Guradian He. Und weiter: "Atomkraft ist billig, weil wir unsere Sicherheitsstandards absenken." Aber so etwas gibt es natürlich nur in China.

Energie für alle

Und zuletzt die gute Nachricht der Woche: Jenseits des europäischen Horizonts schreitet die Energiewende - trotz der Ausnahme des chinesischen Atomprogramms - voran. Japan und China haben beide 2014 jeweils mehr neue Solarleistung installiert, als alle EU-Staaten zusammen, und in New York trafen sich rund 2500 Politiker, Fachleute und Wirtschaftsvertreter zur zweiten SE4All-Konferenz. Die Abkürzung steht für Sustainable Energy for All (Nachhaltige Energie für Alle), und das Ziel der entsprechenden UNO-Initiative ist es, bis 2030 alle Menschen mit Energie zu versorgen sowie den Anteil der Erneuerbaren und die Rate der Effizienzsteigerung beim Energieverbrauch bis 2030 zu verdoppeln. Das Ereignis war deutschsprachigen Medien übrigens keine Zeile wert. Nur der deutsche Dienst von Radio China International widmete dem Ereignis zwei kurze Meldungen.

Ein von der Weltbank aus Anlass der Konferenz veröffentlichter Bericht zeigt Fortschritte bei der Erreichung der Ziele. In den ersten beiden Jahren seit Start der Initiative, also von 2010 bis 2012, sei die Zahl der Menschen ohne Zugang zur Stromversorgung von 1,2 Milliarden auf 1,1 Milliarden verringert worden. Fortschritte habe es vor allen im subsaharischen Afrika und in Südasien gegeben. Offensichtlich kommt die Elektrifizierung schneller als das Bevölkerungswachstum voran.

Die Autoren verweisen darauf, dass das Tempo gegenüber den vorhergehenden zwei Jahrzehnten deutlich zugenommen habe. Gleiches gilt für die Energieeffizienz und den Anteil der erneuerbaren Energieträger an der Versorgung. Letztere sind in den erwähnten beiden Jahren jeweils um vier Prozent gewachsen. Um die gesteckten Ziel zu erreichen müsste das Tempo aber weiter beschleunigt werden. Nötig seien statt der bisherigen Investitionen in Höhe von jährlich 400 Milliarden US-Dollar in den Energiesektor eher eine bis 1,25 Billionen US-Dollar.