Die Kosovaren sind doch nur Wirtschaftsflüchtlinge!

Die ökonomische Situation im Kosovo ist katastrophal - ein Zustand, für den Deutschland mitverantwortlich ist

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Weil ihnen legale Einwanderungsmöglichkeiten verwehrt sind, stellen viele Kosovaren einen Antrag auf Asyl. Und obwohl dieser meistens zu Recht abgelehnt wird, sind die Migrationsgründe mehr als gerechtfertigt, denn die ökonomische Situation im Kosovo ist katastrophal. Doch die Folgen einer verfehlten Kosovo-Politik will nun keiner tragen.

Zehntausende Kosovo-Flüchtlinge 2015

Anfangs 2015 geriet der Kosovo wieder einmal in den Fokus westlicher Medien - diesmal, weil die Anzahl der Asylgesuche sprunghaft angestiegen waren. Doch während aus Syrien, Lybien, Eritrea oder Nigeria Menschen vor Kriegshandlungen flohen, kamen aus dem Kosovo "nur" Wirtschaftsflüchtlinge. Und diese "sollen draußen bleiben", meinte Roland Tichy in der Bild am Sonntag am 15. Februar 2015, wenngleich er einräumen musste, dass die Ursachen der Migration in Armut und Perspektivlosigkeit liegen und es "nicht verwerflich [ist], wenn jemand vor Not und Elend flieht."1

Die Voraussetzungen dafür, das Recht auf Asyl beanspruchen zu können, sind politische Verfolgung oder Krieg im Ursprungsland. Dies trifft auf die allerwenigsten Kosovaren -vielleicht abgesehen von ethnischen Minderheiten - zu. Doch so einfach wie im öffentlichen massenmedialen Diskurs oft dargestellt ist die Sachlage nicht. Tatsächlich liegt hinter den Wanderungsströmen kein Missbrauch des Asylrechts, sondern es geht um vielfältige politische, ökonomische und soziale Probleme - Probleme, mit denen sich die meisten deutschen Politiker lieber nicht auseinandersetzen.

Kritik kommt daher aus der Zivilgesellschaft. So rief Bernd Duschner, Vorsitzender des Vereins "Freundschaft mit Valjevo" in Pfaffenhofen, ein Verein, der als Brückenschlag zwischen Deutschland und Serbien als Reaktion auf die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg 1999 gegründet worden war, sich aber auch (eine friedenspolitisch besonders hervorhebenswerte, wenngleich eher seltene Erscheinung) für Albaner und andere Ethnien des Kosovo engagiert, am 21. Februar 2015 einige Ursachen der Fluchtbewegungen in Erinnerung. Anstatt von "Asylmissbrauch" zu sprechen, sollte die deutsche Politik die Migration, hinter welcher "die pure Verzweiflung"2 stehe, in direktem Zusammenhang mit den westlichen Interventionskriegen, Wirtschaftskriegen und Waffenexporten bringen.

Wer aus dem Kosovo auswandern will, der kann sein Herkunftsland - anders als EU-Bürger - nicht über den normalen Weg der Arbeitsmigration verlassen, sondern braucht dazu erstmal ein Visum für die Europäische Union. Da ein solches aber kaum zu bekommen ist, bleibt nur die Variante des Asylrechts.3 Da Kosovo aktuell aber kein Kriegsgebiet mehr ist und stattdessen demokratisch regiert wird, auch wenn "demokratisch längst nicht immer gut bedeutet", bietet ein Asylantrag keine Perspektiven, weder in Deutschland noch in Österreich und erst recht nicht in der Schweiz: Dort werden Aslygesuche von Kosovaren seit 2013 sogar in einem 48-stündigen Schnellverfahren abgewiesen.4

Massive Probleme und fehlende Perspektiven als Migrationsgründe

Die Gründe für die Auswanderung, welche letzten Endes den Zuwanderungsländern nützt und den Herkunftsländern durch den Verlust ihrer Jungen und Motivierten schadet, sind u.a. "Armut und Arbeitslosigkeit, umfassender politischer und wirtschaftlicher Stillstand und Korruption", wie Florian Hassel in der Süddeutschen am 12. Februar 2015 erkannte.

Fakt ist, dass es innerhalb Europas aktuell kaum ein Land gibt, das noch mehr Auswanderungsgründe geltend machen kann als Kosovo. Aufgrund der wirtschaftlichen Misere hängen, wie Thomas Roser in der ZEIT am 12. Februar bemerkt hat5, die meisten Familien "am Tropf der Überweisungen ihrer nach Europa emigrierten Verwandten". Besonders davon betroffen ist die Jugend, die aufgrund völliger Perspektivenlosigkeit "von einer explosiven Mischung aus Machtlosigkeit, Frustration und Wut erfüllt ist".6 Tatsächlich weist Europas jüngster Staat eine überlange Liste von Problemen auf: Kosovo kämpft gegen eine Arbeitslosigkeit von 45 bis 50 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt in Europas ärmstem Land rund 70%.7 Jeder zweite Bewohner des Kosovo ist jünger als 25 Jahre, jeder Dritte lebt unter der Armutsgrenze (weniger als zwei Dollar täglich).

Da Korruption nach wie vor weit verbreitet ist, gibt es auch wenig Vertrauen in die Demokratie: Nur jeder Fünfte ist mit der Regierung zufrieden, und obwohl sich das von mehr als 90 Prozent Albanern bewohnte Land 2008 mit US-amerikanischer Hilfe für unabhängig erklärt hat, liegt die Wahlbeteiligung selbst unter den Albanern nur bei 50% (unter den ethnischen Minderheiten ist sie noch geringer).

De facto ist Kosovo alles andere als unabhängig, sondern aufgrund seiner verheerenden ökonomischen und politischen Situation (Konflikt mit Serbien) auf EU und USA angewiesen. Trotzdem bietet der Westen keine politischen Perspektiven, weder einen absehbaren EU-Beitritt noch ökonomische Unterstützung, die eine breite Entwicklung in Gang brächte. Was Letzteres betrifft, ist eher das Gegenteil der Fall.

Auch Deutschland, das sich 1999 an der Zerstörung Kosovos beteiligt hat, bietet keine Perspektiven

1999 stimmte die rot-grüne Regierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer für eine Beteiligung an der NATO-Operation "Allied Force", die als angebliche "humanitäre Intervention" den unterdrückten Albanern im Kosovo zu Hilfe kommen wollte. CDU und FDP trugen diese Politik mit, einzig die PDS war dagegen.

Tatsächlich hatte eine monatelange einseitige Medienberichterstattung den politischen Konflikt zwischen Serbien und der albanischen Mehrheit im Kosovo, der 1998 zum Bürgerkrieg eskaliert war, als einseitige Unterdrückung der Albaner durch Serbien dargestellt. Poliiker und Medien griffen zunehmend zu Holocaust-Vergleichen (Fischer "Ein neues Auschwitz verhindern"), um ein Eingreifen der NATO zu rechtfertigen (Vgl. Kurt Gritsch, Nie wieder Krieg (ohne uns)!).

Heute, 16 Jahre nach dem Krieg, möchten aber gerade Politiker jener Parteien, die 1999 noch mittels Bombardement den Albanern helfen wollten, möglichst allen Menschen aus dem Kosovo die Einreise in die EU und nach Deutschland verweigern. Dabei ist der Westen, ist Deutschland für die katastrophale wirtschaftliche Situation, welche der Abwanderung zugrunde liegt, mitverantwortlich.

Über zehn Jahre verwalteten UN und EU Kosovo als internationales Protektorat. Dabei wurde das Land, das seit jeher zu den ärmsten Regionen Jugoslawiens gehört und Ende der 1990er Jahre unter Bürgerkrieg und Bombardierung der NATO gelitten hatte (manche Folgen, wie die Verwendung von abgereichertem Uran, sind bis heute spürbar), im Interesse internationaler Konzerne nachhaltig umgestaltet. Die Provinzbetriebe, aber auch die meist albanischen Arbeitern gehörenden Industrieanlagen, wurden enteignet und über die Kosovo-Treuhand-Agentur verkauft, Zölle gesenkt und Importbeschränkungen aufgehoben. Lokale Produzenten in Landwirtschaft, Handwerk und Industrie wurden dadurch in den Ruin getrieben. Die hohe Arbeitslosigkeit im Kosovo ist eine direkte Folge der Wirtschaftspolitik von UN und EU.

Privatisierungsstrategie, Entwertungsstrategie: Kosovos Wirtschaft wird nach neoliberalem Vorbild umgebaut

Als die UNMIK, die UN-Verwaltung im Kosovo, nach dem Ende des NATO-Krieges 1999 in der von der KFOR besetzten Provinz ihre Arbeit aufnahm, setzte sie von Anfang an auf die Privatisierung sämtlicher noch in der Hand der Provinz oder der Arbeiter (nach dem Prinzip der Arbeiterselbstverwaltung waren Arbeiter die Aktionäre ihres eigenen Betriebs) liegenden Betriebe.

Um maximale Gewinne zu erzielen, fand eine Entwertungsstrategie Anwendung, bei der die UNMIK versuchte, den Wert der zu versteigernden Betrieben zu senken, um sie dann billig an internationale Interessenten zu verkaufen.8 Dabei wurde durchaus auch nachgeholfen: So erhielt z.B. das Baukombinat Ramiz Sadiku aus Pristina mit einst 5.000 Beschäftigten nach Kriegsende keine öffentlichen Bauaufträge mehr, welche stattdessen an mazedonische, griechische und deutsche Unternehmen gingen.

Ähnlich erging es dem in der rein albanischen Region Drenica ansässigen Industriegigant Ferronikel, der bis zu seiner Privatisierung rund 2.000 Arbeiter beschäftigte. 2005 wurde er trotz Protestdemonstrationen von Arbeitern, welche von den Bürgermeistern der Gemeinden Drenas und Skenderaj unterstützt wurden, enteignet. Und dies, obwohl das Management den zuständigen UNMIK-Stellen wiederholt konkrete Pläne übergeben hatte, wie die Arbeiter mit einer Anschubfinanzierung die Produktion wieder hätten aufnehmen können.9

Die Metallarbeitergewerkschaft schätzte den Wert der Anlagen auf mehr als 300 Millionen Euro, der deutsche UNMIK-Wirtschaftsminister Joachim Rücker verkaufte den Betrieb schließlich für 33 Millionen. Den Zuschlag erhielt die britische Firma Alferon von International Mineral Ressource mit Geschäftssitz in Kasachstan, an der Thyssen-Krupp beteiligt ist.10

Angesichts des drohenden Verkaufs der Stahlröhren-Fabrik in Ferizaj klagten 2006 912 Angestellte gegen die angebliche Verschleuderung ihres Betriebes vor dem Obergericht in Pristina, welches in seiner Entscheidung den Wert auf mindestens 25 Millionen Euro festsetzte. Die Treuhandagentur AKM unter ihrem Vorsitzenden Rücker verkaufte den Betrieb um 3,6 Millionen Euro.11 Michael Schäfer, damals Direktor im Auswärtigen Amt der Bundesrepublik, erklärte die Geschäftspraxis seines Freundes Joachim Rücker damit, dass es Zeit werde, dass die Investitionen endlich politische und wirtschaftliche Rendite brächten.12 Rücker wiederum wurde am 1. September 2006 zum UNMIK-Chef befördert.

Schlussendlich wurden die Arbeiter aber nicht nur durch erzwungene Privatisierung und Entwertungsstrategie, sondern auch noch durch die Aufteilung des Verkaufserlöses benachteiligt. Basierend auf einem jugoslawischen Gesetz aus der Zeit der Milošević-Regierung (eines der wenigen jugoslawischen Gesetze, das die UNMIK übernahm), das die Arbeiter als vormalige Besitzer eines Betriebes zu Aktionären mit einem maximalen Anteil von 20 Prozent am Aktienpaket gemacht hatte, erhielten diese schlussendlich aus dem ohnehin eher niedrigen Verkaufswert ihrer Betriebe nur noch 20 Prozent. Die Mehrheit des Geldes ging an ausländische Investoren, die zuvor Anteile erworben hatten.13 Bei unklarer Eigentumsfrage setzte die UNMIK trotzdem die Zwangsenteignung durch, das Geld floss inzwischen auf ein Treuhandkonto.

Umbau der kosovarischen Wirtschaft als Kriegsziel 1999 - westliche Konzerne als Kriegsgewinnler

Dieser nach neoliberalem Vorbild und unter Missachtung der Interessen der Menschen im Kosovo erfolgte Umbau der Wirtschaft war allerdings keine "glückliche Fügung" für die UNMIK und die westlichen Konzerne, sondern ein Kriegsziel. So war die Öffnung Jugoslawiens nach den Regeln des freien Marktes, die den Privatisierungen zugrunde liegt, schon vor Kriegsbeginn im Rambouillet-Vertrag festgeschrieben worden war: "The economy of Kosovo shall function in accordance with free market principles."14 Artikel I fordert die "freie Marktwirtschaft", Artikel II die Privatisierung sämtlichen Staatsbesitzes. Bis heute ist allerdings die Verwunderung darüber überschaubar geblieben, was solche Artikel zur Umwandlung der Wirtschaft in einem Vertrag zu suchen hatten, der den Kosovo-Albanern angeblich eine politische Autonomie bringen sollte.

Dass sich Krieg und Wirtschaft verzahnen, unterstreicht die besondere Rolle, welche US-Diplomaten und Militärs im Privatisierungsprozess spielten. So kehrten viele nach dem Ende ihres Mandats als Lobbyisten in den Kosovo zurück, insbesondere in den Kohlesektor und in die Telekommunikation, darunter Wesley Clark, Madeleine Albright, James Pardew und Mark Tavlarides. Albright gehörte als US-Außenministerin zu den vehementesten Befürwortern der Luftangriffe von 1999, Wesley Clark zeichnete als NATO-Oberkommandierender für ihre Ausführung verantwortlich. Und Pardew wiederum genießt laut New York Times unter Bezugnahme auf ein regierungsinternes Memo bei Kosovos Eliten besondere Wertschätzung für seine Rolle "on the ground" während des Krieges.15

Tavlarides war in der Clinton-Administration Legislative Director im National Security Council im Weißen Haus, er fädelte den auf eine Milliarde Dollar bezifferten Auftrag des Baus eines Autobahnteilstücks von Pristina zur albanischen Grenze ein, der dem Joint Venture der Konzerne Betchel aus San Francisco und dem türkischen Unternehmen Enka erteilt wurde, während einheimische Betriebe leer ausgingen.

Dabei schadet diese fragwürdige Verbindung von Investment und Diplomatie letztlich sogar dem vom Westen aufgezwungenen neoliberalen Wirtschaftskurs, denn die Verbindungen zahlreicher Ex-Diplomaten und Militärs beeinträchtigen den Wettbewerbsgedanken. Dem Journalisten und Chef der Antikorruptionsorganisation Cohu in Pristina, Avni Zigiani, zufolge ist das Interesse seriöser Firmen, im Kosovo zu investieren, inzwischen angesichts der Verwicklungen ehemaliger Offizieller in die Vergabe von Konzessionen deutlich gesunken.16

Zuhause bleiben und das Land wieder aufbauen?

Es ist zynisch, wenn westliche Regierungsmitglieder wie Bayerns Innenminister Joachim Hermann angesichts der von IWF, Weltbank, EU und USA durch ihre Umstrukturierung der kosovarischen Wirtschaft herbeigeführten Verarmung den Menschen aus dem Kosovo ein Leben in Deutschland mit der Begründung verweigern, den Anträgen lägen "in erster Linie rein wirtschaftliche Motive zugrunde".17 Dass Hermanns österreichische Kollegin Johanna Mikl-Leitner bei ihrem Besuch in Pristina anfangs März 2015 die Menschen vor laufenden Fernsehkameras aufrief, zuhause zu bleiben und ihr Land wieder aufzubauen, "so wie unsere Großeltern nach dem Krieg Österreich wieder aufgebaut haben"18, wirkt wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge.

Und auch das von CDU (Peter Tauber) und Bild-Zeitung befürwortete Punktesystem wird das sozioökonomische Problem des Kosovo nicht lösen, sondern nur verschärfen: Es sei, so Roland Tichy in der BamS vom 14. Februar 2015, "das gute Recht des Einwanderungslandes, nur die hereinzulassen, die für uns einen "Mehrwert" schaffen," weshalb man ein Punktesystem brauche, das "die Tüchtigen (viele Punkte für Ausbildung und Qualifikation") ins Land hole. Damit bringt die Zeitung die Wünsche der deutschen Wirtschaft auf den Punkt: Deutschland soll von gut ausgebildeten jungen Leuten profitieren, die dem Staat nichts gekostet haben - die Kosten hat das Ausland, den Gewinn Deutschland. Wovon das durch die Abwanderung immer ärmer werdende Kosovo zukünftig noch die Ausbildung seiner Menschen finanzieren soll, liegt allerdings in den Sternen.

Will man die Aufforderung der österreichischen Innenministerin, das Land wieder aufzubauen, ernst nehmen, dann wird es ohne Arbeitsmigration nicht gehen. Aus diesem Grund braucht es anstelle von juristisch korrekter Ablehnung der Asylanträge legale Einwanderungsmöglichkeiten in die EU, wodurch wiederum Geld in die Provinz kommt.

Vor allem aber ist eine Abkehr von der bisherigen Wirtschaftspolitik notwendig. Es braucht internationale Investitions- und Kreditprogramme, die tatsächlich dazu dienen, die lokale Wirtschaft im Kosovo, Landwirtschaft, Handwerk und Industrie, wieder aufzubauen und zu stärken. Zukunftsperspektiven für die Menschen im Kosovo sind das einzige, das dauerhaft den Migrationsdruck lindert, denn: "Wohlstand nur in Mitteleuropa und wachsendes Elend in seinen südlichen und östlichen Randstaaten, das kann und wird auf die Dauer nicht funktionieren. Da werden auch keine noch so hohen Mauern um die EU helfen."19