Facebook first

Die Koppelung von Massenmedien und Daten

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Am 15. Mai 2015 stellte das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) seine nun schon 20-jährige Nachrichtensendung "heute nacht" ein und ersetzte sie durch "heute+". Die neue Newssendung soll sich vor allem an jüngere Generationen richten. Und deshalb wurden für das neue Konzept nicht nur das traditionelle Nachrichtenformat und der lineare Sendungsablauf aufgegeben. Fortan - so erklärte der stellvertretende ZDF-Chefredakteur Elmar Theveßen - würden die Inhalte zuerst über die sozialen Medien "verteilt": "Die Fernsehausstrahlung ist das Nachrangige".

"Facebook first" nannte der Mediendienst "turi2" die verjüngte Nachrichtenstrategie des ZDF. Und in der Tat: Die neue Newssendung könnte den Beginn einer neuen Medienepoche markieren: Die traditionellen Massenmedien Presse, Radio und Fernsehen betreten (still und) systematisch die "Walled Gardens" der internationalen (Kommunikations-)Konzerne Facebook, Google, YouTube, Twitter, Instagram, WhatsApp, Snapchat. Ob öffentlich-rechtlich oder privat verfasst, scheint dabei gegenwärtig gleichgültig zu sein.

Presse und Öffentliche Meinung

1922 publizierte Ferdinand Tönnies seine 600-seitige "Kritik der öffentlichen Meinung" - und wagte eine verblüffende Diagnose: In den modernen Gesellschaften, so Tönnies, würden die gesellschaftlichen Funktionen von Religion durch die Öffentliche Meinung übernommen. Sie sei die moderne, "nach innen verbindende Kraft" geworden, unsichtbar und doch machtvoll.

"Das bedeutendste 'Ausdrucksmittel' der öffentlichen Meinung" - so der Kieler Soziologe - sei "ohne Zweifel" die Presse, insbesondere die "Tagespresse". Im 17. Jahrhundert wurde sie erfunden, im 19. Jahrhundert eine "allgemein anerkannte, tief wirkende Macht". Doch erst im 20. Jahrhundert habe man ihre "furchtbare Stärke" wirklich zu erkennen begonnen.

Radio und Fernsehen

1923, ein Jahr nach Tönnies' Analyse, begann der Hörfunk mit der Ausstrahlung seines akustischen Programms, 1935 (bzw. 1952) folgte audiovisuell das Fernsehen (Militär und Massenmedien) - und mit den neuen Massenmedien und der zunehmenden Medialisierung wuchs irgendwann die Überzeugung, dass moderne Gesellschaften ohne technische Informationsmittel kaum realisierbar seien. "Die Demokratie", so formulierte kürzlich der ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio, "braucht den massenmedial organisierten und damit geordneten öffentlichen Raum nicht nur als Kontrollinstrument gegen verdeckten Machtmissbrauch, sondern um überhaupt als Demokratie sichtbar und wirksam werden zu können". Erst Massenmedien "konstruierten" die "Einheit einer Gesellschaft".

Die Herstellung dieser "Einheit" hat sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder radikal gewandelt. Die Medienlandschaft veränderte sich grundlegend, neue Medien und Mitspieler kamen hinzu, Themen, Bedeutungen, Wertungen wurden wieder und wieder variiert. Der mediale Rahmen aber blieb weitgehend national, deutsch. Neben der massenmedial hergestellten Öffentlichkeit existierte weiterhin eine eigene Sphäre der Privatheit, die durch die Kommunikationsrevolutionen - so schon Vilém Flusser - längst durchlässiger geworden war: Presse, Radio, Fernsehen liefern die Informationen schließlich in die private Umwelt.

Noch fanden die politischen, ökonomischen, kulturellen, medialen, juristischen Entscheidungen vor allem auf (maximal) nationaler Ebene statt. Medien kontrollierten vor allem nationale Organisationen und Institutionen. Und konstruierten nationale "Einheit".

Globalisierung

Spätestens seit den 1990er Jahren verließen Presse, Radio und Fernsehen die nationalen Verbreitungswege - und wurden international. Die Angebote waren nun auch über (eigene) Homepages weltweit zu nutzen. Das World Wide Web musste für Lesen, Sehen oder Hören nicht mehr verlassen werden, die Herkunftsadressen waren weiterhin national, deutsch, ard.de oder zdf.de.

Die ersten Internet-Generationen wuchsen heran. Und nicht nur für sie galt zunehmend "Internet first". Auch die Presse, das uralte Medium für Öffentlichkeit und Demokratie, Vielfalt und Standardisierung, Irritation und Vereinheitlichung veränderte die Prioritäten: Seit 2007 heißt es etwa bei der Welt-Gruppe: "Online first"; aber "first" fand auf der eigenen Homepage statt.

Vor allem aber wurden politische und ökonomische Kompetenzen an Europa und an Weltorganisationen abgegeben; die bundesdeutschen Herrschaftsstrukturen erhielten neue Hierarchien, die Gesellschaften wurden vielfältiger und unübersichtlicher. "Die europäische Demokratie des 21. Jahrhunderts", so diagnostizierte ausgerechnet der Jurist Di Fabio, "hat sich so verändert, dass sie einer medialen Einheitsfiktion und Einheitskonstruktion kaum noch entsprechen kann."

Die (Makro)Ursachen der heutigen Medienkrise und "Medienkritik" dürften tatsächlich in dieser mangelnden "Passung" liegen - und so versuchen die dort Verantwortlichen, die Programme zu modernisieren und so neue Anschlüsse zwischen "Gesellschaft" und "Medien" zu finden. Technische Neuerungen führten etwa zur Nutzung kleinerer Kameratypen (Kameras sehen Kameras), neue Marketingkonzepte zur Verlesung von Tweets in Fernsehsendungen (Knappe Botschaften), neue Lehr- und Auswahlverfahren veränderten auch die Spiel- und Quizformen des Fernsehens (Quizshows und die Herstellung von Ordnung), neue Bildungs- und Grafiksoftware führte zu einer Powerpointisierung von Nachrichten und Informationen (PowerPoint).

Walled Gardens

Doch dies war noch nicht alles: Die Kommunikation wurde zunehmend auch mobil, neue Kommunikationsmedien wie iPhone oder Smartphone entstanden. Neben das World Wide Web trat das Web 2.0 und neben dem schon traditionellen Internet entstanden neue, geschlossenere Netzwerke wie Facebook (2004), YouTube (2005) oder Twitter (2006).

2009 richtete die ARD einen eigenen Kanal auf der Videoplattform YouTube ein. Erstmals lag öffentlich-rechtliches Material auf Servern, die amerikanischem Recht unterlagen. Erstmals generierte öffentlich-rechtlicher Content - im Hintergrund - Daten für den amerikanischen Internetkonzern Google.

2015 erhielt das ZDF-Newsformat "heute+" als wohl erste Sendung seine Heimat bei Facebook und Twitter. Und auch die "Tagesthemen" (Das Erste) scheinen regelmäßig mit "Facebook first" zu experimentieren. Doch die User, die hier mitreden wollen, müssen sich zuerst anmelden, Daten freigeben und weiteren Datenfluss ermöglichen. Was mit den Daten, dem neuen Reichtum, passiert, bleibt den Mitwirkenden verschlossen. Ähnlich wie den Lesern jener Zeitungen, die das neue Facebook-Angebot "Instant Articles" nutzen. Die Verlage liefern den (exklusiven) Content, Facebook die Daten.

Daten und Demokratie

Offenbar gelingt es den Massenmedien immer weniger, ihre traditionellen Aufgaben wahrzunehmen. Ihre Rolle als "Vierte Gewalt" und Einheitsproduzent ist brüchig geworden, und die neuen Konzepte reagieren darauf. Doch was auf den ersten Blick wie eine einfache Modernisierung, eine Anpassung an die Umwelten der jüngsten Generationen aussieht, ist tatsächlich ein Prozess, der die alte, konstitutive Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit aufgibt.

Den Planern des neuen ARD-ZDF-Jugendkanals scheint diese radikale Veränderung sehr bewusst sein. Ihr noch namenloses Projekt ist "Online only" verpflichtet; es soll keine eigene (Start)Plattform mehr haben, sondern auf "relevanten Drittplattformen" ("Stand heute: YouTube, Facebook, Instagram, Twitter, WhatsApp und Snapchat") platziert und vernetzt werden.

In ihrem - von der Zeitschrift "Horizont" geleakten - Konzeptpapier heißt es sicherheitshalber schon einmal: "Das Angebot verfolgt nicht den Zweck, über die Sammlung von Daten Persönlichkeitsprofile zu erstellen, die zielgerichtete Werbung erlauben." Und: "Allerdings werden derartige Funktionalitäten zunehmend ein selbstverständlicher Teil vieler Angebote, zu denen das Jugendangebot konkurrenzfähig sein muss". Öffentlich-rechtliches Massenmedium und (kommerzielle) Datenakquise scheinen kaum mehr trennbar zu sein.

Die fünfte Gewalt: Daten

Welche Form der neue Online-Jugendkanal erhalten wird, wird sich erst 2016 zeigen. Doch wenn nicht alle Zeichen trügen, erleben wir gegenwärtig erste lose "Koppelungen" von "Demokratie" und "Daten", von vierter Gewalt und einer neuen, noch weitgehend unbekannten fünften Gewalt.

Was gegenwärtig gestartet wird, könnte - in den Worten des französischen Philosophen Michel Serres - auf eine "Neuordnung der gesellschaftlich-politischen Gewaltenteilung" hinauslaufen, auf "das Heraufziehen einer von den vier anderen Gewalten - der exekutiven, legislativen, judikativen, medialen - unabhängigen fünften Gewalt, jener der Daten".