Das Handeln des Schwarms

Kollektive Willensbildung im Netz - Teil 2

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Eine Community benötigt in erster Linie die Möglichkeit zum Small Talk, der alle Mitglieder einbezieht. Dazu braucht sie einfache Nachrichten, die weitererzählt werden können. Und sie braucht ein Verfahren, Zustimmung symbolisch und öffentlich zu signalisieren.

Zu Teil 1

Nach diesen Bedürfnissen hat sich die moderne Gesellschaft die so genannten "sozialen Medien" des Internet geschaffen. Es wäre weit gefehlt, würde man vermuten, dass die Betreiber dieser Plattformen bestimmen, wie wir in ihren Netzwerken kommunizieren. Es ist genau umgekehrt: Es geht darum, die Wünsche der Benutzer so gut wie möglich zu antizipieren und eine Plattform bereitzustellen, auf der das auf einfache Weise möglich ist: Small Talk und Beifall.

Kollektive Aktion und der Wille des Schwarms

Twitter ist der paradigmatische Fall einer solchen Plattform, Facebook und viele andere funktionieren nach dem gleichen Prinzip. Sie treten der Community bei, indem sie die Äußerungen anderer Personen abonnieren. Meist ergibt es sich ganz automatisch, dass sie in eine bestehende Community hineingeraten. Es ist, als wenn sie in einen Saal kommen, in dem sich, vielleicht aus Anlass einer großen Geburtstagsfeier, viele Menschen versammelt haben, die in kleinen Gruppen beieinander stehen und reden. Einige kenne Sie vielleicht bereits, mit anderen kommen Sie zufällig am Buffet ins Gespräch. Sie können sich hier und dort dazustellen, Sie können versuchen, den Gesprächen verschiedener Gruppen gleichzeitig zu folgen. Irgendwann werden Sie sich entscheiden, sie werden den Gesprächen lauschen, hin und wieder zustimmend nicken, lachen, wenn die anderen lachen, vielleicht auch bald einen Satz, eine Anekdote, einen Gedanken beisteuern.

So funktioniert Twitter. Das zustimmende Nicken ist das "Favorisieren", und das "Retweeten", welches gleichzeitig zum Weitererzählen des Gesprächs beiträgt. Und so, wie Sie am Ende des Abends sagen: "Wir haben uns gut unterhalten" oder "Wir haben viel gelacht" so gewinnen Sie auch bei Twitter nach einiger Zeit das Gefühl, dass da ein Wir entstanden ist, zu dem sie gehören.

Was unterscheidet nun die Community vom Schwarm (oder, bissig formuliert, von der "Herde"?).

Der Small Talk der Community bleibt folgenlos. Das Wir ist flüchtig und inaktiv. Der Schwarm bewegt sich in eine Richtung, wie auch die Herde. Der Schwarm handelt. Der Schwarm, so können wir vielleicht sagen, will etwas und tut etwas, vielleicht sogar etwas, was keiner von denen, die dazu gehören, gewollt hat. Diesem Willen des Schwarms möchte ich als nächstes auf die Spur kommen.

Wir kennen verschiedene Formen von kollektiven Handlungen. Das Agieren einer Fußballmannschaft etwa gehört dazu. Die gemeinsame Aktion ist hier bestimmt durch eingeübte Techniken, die geplant, verstanden und trainiert sind. Ähnlich ist es bei der Aufführung eines Musikstücks durch ein Orchester.

Foto Quartl. Lizenz: CC BY-SA 3.0

Wir können bei solchen gemeinsamen Handlungen zu Recht von einer Handlung des Kollektivs sprechen, denn nur in der abgestimmten, gleichzeitigen Aktion der Teilnehmer, die sich buchstäblich als Teil eines Ganzen betrachten, entsteht etwas, das auch eine Wirkung erzielt, sei es eine ästhetische oder eine praktisch folgenreiche, wie etwa ein gewonnenes Fußballspiel. Die gemeinsame Handlung muss aber nicht Mittel zu einem äußeren Zweck sein. Sie kann Selbstzweck für das Kollektiv sein, das nicht mehr als das Erleben des Wir durch das Handeln dieses Wir zum Ziel hat. Auch dann sind wir berechtigt, dem Tun und Wirken dieses Kollektivs eine Eigenständigkeit zuzusprechen, die nicht auf die Wünsche und Ziele der Einzelnen reduziert werden können. Vielmehr deformiert das Wollen des Kollektivs den Willen des Einzelnen.

Ein einzelner Fußballspieler etwa mag berühmt und reich werden wollen. Es mag sein, dass er dem Publikum als Individuum auffallen möchte, dass man seine persönliche Geschicklichkeit bewundert. Im Spiel muss er diese Wünsche aber zurückstellen, denn das wichtigste, letztlich sogar die Voraussetzung für die Erfüllung seiner eigenen Wünsche, ist, dass die Mannschaft gewinnt. Er muss bereit sein, den Ball an einen anderen Spieler abzugeben, damit dieser das Tor schießt, statt unbedingt mit den eigenen Fähigkeiten des Toreschießens aufzutrumpfen. Der Wille des Wir dominiert den Willen des Einzelnen.

Ähnlich ist es auch etwa bei politischen Parteien und bei Unternehmen. Allerdings ist hier das Prinzip der Organisation der gemeinsamen Aktion ein anderes, es ist, zumindest im operativen Bereich, durch Hierarchie, Führung und Koordination geprägt. Bei hierarchischen Organisationen kann man die Frage stellen, ob es nicht der Wille des Einzelnen, der Wille der Führungspersonen ist, welcher sich durchsetzt.

Aber zurück zur Community, die zum Schwarm wird, indem sie beginnt, aktiv zu werden. Hier finden wir weder eingeübte, trainierte, geplante Techniken, noch die Koordination durch Führung. Trotzdem können wir auch beim Schwarm von kollektivem Handeln, von gemeinsamer Aktion sprechen. Um das zu verstehen, schauen wir uns noch einmal ein wenig außerhalb des Internet um. Betrachten wir eine Zuschauermenge, etwa die Fankurve beim Fußballspiel. Sie wissen, dass es auch dort zu eindrucksvollen und wirkmächtigen gemeinsamen Handlungen kommen kann: Jubelgesänge, Pfeifkonzerte und Laolawellen. Diese Handlungen haben zum einen eine ästhetische und unterhaltende Komponente, sie beeinflussen aber auch die Spieler auf dem Rasen. Hier ist der Schwarm am Werk: Er will, dass die Mannschaft gewinnt, und er will das Gefühl der Gemeinschaft erleben. Und für diese Ziele inszeniert er sich selbst als Schwarm.

Was ist Voraussetzung, damit ohne Training und ohne Führung eine kollektive Aktion des Schwarms entsteht? Es ist ein Wechselspiel von Erfahrung und unproblematischem Ausprobieren. Denken Sie an das Fußballstadion oder einen Konzertbesuch. Durch Zusehen und Mitmachen lernen Sie, wann man klatscht, wann man "Oh" ruft, wann man pfeift. Wer aus Versehen mal zu früh klatscht, fällt meistens gar nicht auf, wer ein Lied anstimmt, in das keiner einfällt, ist eben wieder still. Aber wenn die Stimmung richtig ist, dann wird schnell aus der einzelnen Stimme ein Chor.

Was die Community braucht, um zum Schwarm zu werden, ist ein einfaches und überschaubares Set von symbolischen und öffentlichen Beifallsbekundungen. Missfallensbekundungen kann es auch geben - die sind allerdings nur in bestimmten Fällen bedeutungsvoll. Ob Beifall oder Ablehnung - immer geht es um darum, die Zustimmung zur Schwarm-Meinung öffentlich signalisieren zu können.

In den sozialen Online-Medien gibt es genau diese Funktionen auch: Der Daumen nach oben, das Favorisieren, das weiterverteilen. Sie haben genau den Solidarisierungs-Effekt, den die Community braucht, um sich des Wir-Gefühls der Gemeinschaft zu versichern.

Das Beispiel der Justine Sacco zeigt: Dieses gemeinsame Handeln zeigt auch Wirkung, es richtet etwas aus in der Welt. Die Wirkung geht dabei über die Aus-Wirkung auf die einzelne Person hinaus. Denn wir können annehmen, dass das Exempel, welches der Schwarm an Justine Sacco statuiert hat, das öffentliche Verhalten vieler Menschen nachhaltig geprägt hat. Sie haben gelernt, dumme Scherze und zweideutigen Aussagen zu vermeiden. Sie haben erfahren, dass es Themen und Begriffe gibt, die für scherzhafte Aussagen ungeeignet sind.

Trotzdem ist die Wirkung des virtuellen Schwarms von seinen Verwandten in der leiblichen Welt wohl zu unterscheiden. Wir werden gleich noch einmal darauf zurückkommen.

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