Wikipedia und der Sexismus - ein Vorwurf, wenig Argumente

Wikipedia, die Online-Enzyklopädie, soll eine sexistische Männerveranstaltung sein, wird derzeit behauptet. Nur fehlen letztendlich Fakten, die dies belegen.

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In der Zeitung "Die Welt" wurde erneut die Frage aufgeworfen, wieso so wenige Frauen an der Online-Enzyklopädie mitwirken. Die Tageszeitung Die Welt hat dies mit der griffigen Überschrift "Wikipedia ist eine sexistische Männerwelt" versehen, was den Artikel bereits durch diese Wortwahl zum sogenannten "Clickbait" werden lässt; einem Artikel, der viele Klicks und viele Forenbeiträge generieren soll. Die Argumente, die der Welt-Autor Hannes Stein dabei in den Artikel eingepflegt hat, sind jedoch wenig überzeugend.

Im Internet ist jeder ein Hund

Er beginnt damit, dass es mehr Artikel über Pornodarstellerinnen gibt, als über deutschsprachige Lyrikerinnen, dass ferner diese per Suchmaschine lediglich über den Eintrag der deutschen Lyriker zu finden sind und dass der Eintrag zum Thema lieblos und ungepflegt sei. Er bemängelt, dass bei den Pornodarstellerinnen viele Details eingepflegt werden, während dies bei den Lyrikerinnen nicht geschieht.

Nun ist der Ausspruch "The internet is for porn" (Das Internet ist für Pornographie gedacht) nicht nur eine kurzweilige Anmerkung, sondern weist darauf hin, dass großes Interesse an Pornographie existiert und es daher auch nachvollziehbar ist, dass Menschen über Pornodarstellerinnen (eine Seite mit Pornodarstellern existiert bisher nicht, obgleich es von John Holmes über Rocco Siffredi durchaus nennenswerte Akteure gibt) auch Einzelheiten kennen und diese bei Wikipedia einpflegen.

Anzunehmen, dass derartige Einträge und auch Ergänzungen von Männern kommen, ist legitim, jedoch angesichts der Tatsache, dass bei vielen Wikipedia-Autoren das Geschlecht nicht einmal bekannt ist, nicht verifizierbar. So fehlt bei den Pornodarstellerinnen beispielsweise die im asiatischen Bereich bekannte "Little Miss Kitty", die auf Grund ihres kindlichen Aussehend umstritten und erfolgreich gleichermaßen war. Ein entsprechender Artikel wird bereits seit Monaten von mir vorbereitet - bei Wikipedia wird dies nicht ersichtlich sein.

Aufgrund der Annahme, dass Artikel über Pornodarstellerinnen eher von Männern geschrieben werden, wird dieser Eintrag dann, (so er nach Prüfung der Relevanz übernommen wird) dem Argument "wieder ein Eintrag von einem Mann" zugeordnet werden, obwohl er tatsächlich von einer Frau verfasst wurde.

Bildredakteurs-Stichprobe mit ganz anderem Ergebnis als bei Hannes Stein: Der deutsche Wikipedia-Eintrag der Nachkriegslyrikerin Friederike Mayröcker ist deutlich länger als der der Indieporn-Pionierin Joanna Angel. Foto Mayröcker: Wolfgang H. Wögerer, Wien, Austria. Lizenz: CC BY-SA 3.0. Foto Angel: © Glenn Francis, www.PacificProDigital.com. Lizenz: CC BY-SA 3.0

Die Tatsache, dass bei vielen Einträgen im Internet nicht klar ersichtlich ist, ob sie von einem Mann oder einer Frau getätigt werden, wird mit dem Satz "In the internet nobody knows you are a dog" (Im Internet weiß niemand, dass du ein Hund bist) umrissen, der auf einen Comic zurückgeht. Um also die Ableitung "viele Einträge zu Pornodarstellerinnen + wenige Einträge zu deutschen Lyrikerinnen = zu wenig Frauen beteiligen sich an den Einträgen" auf eine solide Grundlage zu stellen, müsse zunächst einmal überlegt werden, welche Vorurteile hinter der Annahme, dass Pornodarstellerinneneinträge nur (bzw. vorwiegend) von Männern, Einträge zu deutschen Lyrikerinnen dagegen nur von Frauen getätigt werden, stecken. Ferner müsste nachgeforscht werden, wie viele der monierten Einträge tatsächlich von Frauen bzw. Männern stammen. Diese Zahlen und Hintergründe sind im Artikel nicht zu finden.

Zwar sind nach Wikimedia 91% der Redakteure bei Wikipedia männlich, dies sagt jedoch nichts über die Anzahl der Frauen bzw. Männer bei den Autoren aus. Eine 2011 veröffentlichte Studie hat ebenfalls ihre Tücken. Die Problematik der Frage, wer denn wann als Mann bzw. Frau gilt, sei hier einmal außen vor gelassen, auch wenn sie gerade in Zeiten von Transgender aktuell ist.

Frauenthemen und Männerthemen

Da Wikipedia eine Männerdomäne ist, fühlen Frauen sich dort nicht vertreten, folglich fallen Einträge über weibliche Themen oft unter den Tisch; darum wird Wikipedia noch mehr zu einer Männerdomäne - und so ausweglos immer im Kreis herum.

Das schreibt Hannes Stein - und er zementiert damit seine Ansicht, dass Frauen über "Frauenthemen" und Männer über "Männerthemen" schreiben, während er aber die Antwort auf die Frage, was eigentlich Frauen- und Männerthemen sind, schuldig bleibt.

Warum sollten beispielsweise die Frauen, die sich (wenn die "Hinderungsgründe" abgeschafft worden sind) bei Wikipedia engagieren, dies ausgerechnet bei weithin unbekannten deutschen Nachkriegslyrikerinnen tun, nicht jedoch beispielsweise bei den bereits oben erwähnten Pornodarstellerinnen, bei Technischem, bei Biologiethemen, Comickultur usw. usf.? Die Unterteilung in "Männer- und Frauenthemen" sowie die Annahme, dass sich Frauen der Frauen- und Männer der Männerthemen widmen, ist letztendlich auch bereits sexistisch. Nimmt man noch die Beispiele "Pornodarstellerinnen und Lyrikerinnen" hinzu, so schimmert hier fast schon eine Art Glorifizierung durch: Der Mann als Proll oder Nerd, die Frau als feingeistige Lyrikfreundin.

Neun Gründe für wenig Frauen - und die Probleme damit

Zum Schluss seines Artikels weist Hannes Stein auf die Seite "Gender Bias on Wikipedia" hin, die neun Gründe dafür aufführt, dass sich so wenig Frauen sich an der Onlineenzyklopädie beteiligen. Diese neun Gründe sind das Resultat entsprechender Studien und sie lassen sich letztendlich in drei Kategorien aufteilen:

  1. Technische Gründe
  2. Gründe, die in der eigenen Befindlichkeit oder aber dem Privatleben zu verorten sind
  3. Gründe, die im Umgang der Wikipedianer untereinander zu verorten sind

Während die erste Kategorie lediglich einen Punkt enthält (nutzerunfreundliche Oberfläche), fallen bereits drei weitere Punkte in die zweite Kategorie (zu wenig Freizeit, zu wenig Selbstvertrauen, fehlende Konfliktfreudigkeit bzw. Sorge vor "Edit-Wars"), sind also letztendlich kein Problem von Wikipedia, sondern der (nicht schreibenden Frauen) selbst. Fünf sind in der dritten Kategorie zu finden, wobei dies schwierig ist, da sie auch auf Befindlichkeiten abzielen.

So wird beispielsweise als Grund für fehlende Mitarbeit angeführt, dass angenommen wird, Änderungen oder Neueinträge würden sowieso wieder zurückgenommen/gelöscht werden. Bereits bei der entsprechenden Studie wurde aber darauf hingewiesen, dass dies nicht automatisch mit dem Geschlecht zu tun haben muss, sondern dass die Gründe hier auch in der Qualität der Einträge/Veränderungen liegen könnten. So verändern die (vermeintlich) weiblichen Autoren häufiger Artikel, deren Inhalte stark umstritten sind, wodurch die Chance/das Risiko, dass die Veränderungen entweder harsch kommentiert oder zurückgenommen werden, steigt. Die Angst davor, dass Einträge rückgängig gemacht werden, geht also hier mit fehlender Konfliktfreudigkeit bzw. der Sorge vor "Edit-Wars" einher.

Die mangelnde Freizeit ist gerade in Bezug auf Wikipedia als Argument wenig überzeugend, da ja nicht zwangsläufig ein ganzer Artikel eingepflegt werden muss. Es können kleine Verbesserungen oder Rechtschreibkorrekturen vorgenommen werden, ein Artikel kann zu nächst offline vorbereitet und später eingepflegt werden etc. Gerade bei Wikipedia gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten der Mitarbeit, die lediglich wenig Zeitaufwand bedeuten.

Drei der fünf Punkte zielen auf Frauenfeindlichkeit bzw. Sexismus ab, wobei auch die männliche Anrede für manche Frauen als Zurückweisung wahrgenommen wird: "Being addressed as male is off-putting to women whose primary language has grammatical gender." Interessant ist, dass unter den Punkten, die Frauen von Wikipedia fernhalten, auch die im Vergleich zu anderen Netzwerken fehlende soziale Interaktion bzw. ein wenig freundlicher Umgangston gegenüber Neulingen zu finden ist. Während der freundliche Umgangston bei Wikipedia allgemein ein Problem darstellt, ist hier anzunehmen, dass sich mancher unter der Wikipedia eher eine Art "Facebook mit Wissen" vorstellt, was letztendlich zu Ernüchterung führen muss, da hier ja die Wissensvermittlung und nicht die soziale Interaktion im Vordergrund steht.

Dass so mancher Wikipedianer eine kleine Einweisung in die Regeln des "freundlichen Miteinanders" gut vertragen könnte, ist keine Neuigkeit und kann so unterschrieben werden. Manch einer scheint bei Wikipedia das Gefühl zu haben, er sei nun "oben" und könne insofern seine bisher unterdrückten Machtwünsche ausleben, was sich z.B. in allzu schnellen, arrogant geäußerten Relevanzanmerkungen bzw. Löschanträgen äußert. Davon abgesehen stellt sich aber die Frage, ob sich so mache Frau nicht einfach schlichtweg selbst im Weg steht (bzw. erwartet, dass die ja in ihrer Befindlichkeit liegenden Problematiken von anderen gelöst werden: fehlende Konfliktfreudigkeit, Angst vor Zurückweisung usw.).

Dass sich auch bei der Wikipedia auch Menschen mit sexistischen Ansichten finden, liegt angesichts der Menge der Wikipedianer nicht fern. Es wird sich innerhalb der Wikipedianer die gesamte Bandbreite des menschlichen Spektrums finden lassen - nur sind die Argumente, die Hannes Stein in seinem Artikel anbringt, kein Beweis dafür, dass Wikipedia im Allgemeinen eine "sexistische Männerwelt" darstellt.

Wikipedia hat noch immer als oberste Regel für das Mitmachen: Trau Dich. Es ist zu hoffen, dass viele dies beherzigen und zur Enzyklopädie wie auch zum freundlich(er)en Miteinander bei der Wissensvermittlung beitragen - doch diesen Schritt muss jeder selbst tun und sich dabei auch bewusst sein, dass, genau wie im "richtigen Leben" es auch bei Wikipedia nicht ohne Konflikte und (gefühlten) Zurückweisungen und Kritik gehen wird. Eine flauschige Wohlfühlatmosphäre mit stetem Schulterklopfen ist illusorisch und die Logik, dass Frauen insbesondere durch das Fehlen dieser Atmosphäre vom Schreiben abgehalten werden, degradiert die Frauen zu Hascherln, die erst einmal an die Hand genommen und mit sanftem Lächeln zur Mitarbeit verleitet sowie stetig betreut werden müssen, anstatt sie als selbstbewusste und starke Frauen anzusehen, die selbst einen Schritt wagen und auch bereit sind, mit Kritik und Zurückweisungen umzugehen.

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