Türkei-Syrien: Neue Eskalationsstufe?

Grau: Islamischer Staat (IS). Gelbgrün: Syrische Kurden. Karte: Haghal Jagul. Lizenz: CC0 1.0.

Nach den jüngsten militärischen Erfolgen der Kurden gegen den Islamischen Staat wird in der Türkei eine militärische Intervention in Nordsyrien diskutiert

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ende Juni gab der türkische Präsident Erdogan den Startschuss für eine hitzige Interventionsdebatte in der türkischen Öffentlichkeit. Die Türkei werde die "Gründung eines neuen Staates an unserer Südgrenze in Nordsyrien nicht erlauben", warnte Erdogan: "Wir werden in dieser Hinsicht weiterkämpfen, was auch immer die Kosten sein sollten."

Nach dieser am 26. Juni gehaltenen Rede überschlugen sich türkische Medien mit Spekulationen über diene bevorstehende Militäroperation der türkischen Streitkräfte in Syrien, die auf die unilaterale Schaffung einer Pufferzone in Nordsyrien abzielen sollte. Regierungsnahe Zeitungen wie Yeni Safak berichteten von Marschbefehlen für 18.000 Soldaten, die bis zu 30 Kilometer tief in Nordsyrien eindringen sollten, um den letzten, rund 100 Kilometer breiten Grenzstreifen zu sichern, der noch nicht von den Einheiten der kurdischen Miliz YPG erobert wurde.

Diese Drohungen aus Ankara folgten einer Reihe spektakulärer militärischer Erfolge der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG und ihrer syrischen Verbündeten im Kampf gegen den Islamischen Staat. Die Kurden konnten Mitte Juni die Grenzstadt Tall Abyad befreien und hierdurch eine wichtige Nachschublinie der Islamisten zur Türkei - wo der Islamische Staat einen Großteil seines Nachschubs und neuer Kämpfer erhält - durchtrennen. Zudem konnte so eine Landverbindung zwischen den selbstverwalteten Kantonen Cizire und Kobane hergestellt werden.

Bei einem Vergeltungsschlag gelang es Terroristen des Islamischen Staates, in die Stadt Kobane einzudringen und mehr als 230 Menschen zu massakrieren - zumeist Zivilisten. Türkische Stellen widersprachen den kurdischen Anschuldigungen, die Terroristen hätten ihren Angriff aus der Türkei gestartet.

Ankara sein nun "besorgt, dass die Kurden ihre Aufmerksamkeit dem Gebiet westlich von Kobane zuwenden werden", berichtete der Türkeikorrespondent Thomas Seibert, um eine Landverbindung mit dem westliche Kanton Afrin herzustellen. Hierdurch würde die gesamte türkische Grenzregion durch die YPG kontrolliert: "Erdogan erwartet, dass die syrischen Kurden, deren Vormarsch durch Luftschläge der US-Koalition beschleunigt wurde, ihren eigenen Staat gründen werden, da Syrien nach vier Jahren Bürgerkrieg zerfällt." Die syrischen Kurden haben diese Anschuldigungen stets bestritten. Der türkische Präsident erhalte nun seine Pufferzone in Syrien, für die er so lange sich einsetzte, "aber sie werde nicht von den Rebellen kontrolliert, die er favorisiert, sondern von kurdischen Kämpfern, die die Türkei als Terroristen brandmarkt", hieß es in einer weiteren Analyse.

Der drohende Einmarsch in der sogenannten "Mare-Line" zwischen den Kantonen Kobane und Afrin stellt somit für Ankara eine Option dar, um ein geschlossenes selbstverwaltetes Gebiet an seiner Südgrenze mittels militärischer Gewalt zu verhindern. Dabei ist es gerade die enge Koordination zwischen den USA und den kurdischen Volksverteidigungskräften, die von der Türkei mit zunehmendem Misstrauen beobachtet wird. Während die Türkei ihre Priorität in der Entmachtung des Assad-Regimes sieht, wollen die USA hauptsächlich den Islamischen Staat zerschlagen.

Das größte Problem innerhalb der syrischen Opposition "besteht darin, Typen zu finden, die gegen den IS kämpfen wollen. Sie wollen alle gegen Assad kämpfen", erklärte ein US-amerikanischer Regierungsvertreter gegenüber der New York Times, die in einem Hintergrundbericht die enge militärische Koordination zwischen den USA und den Kurden Syriens darstellte:

Die Vereinigten Staaten führen jetzt eine intensive Überwachung Nordsyriens mit Drohnen und Flugzeugen durch, um den kurdischen Milizen zu helfen. Amerikanische Spezialkräfte haben Kommunikationskanäle aufgebaut, die die Kurden mit Informationen versorgen und durch die Luftschläge durch die US-geführte Koalition angeordnet werden können.

Als eine der wenigen Kampfformationen, die bereit ist, zuverlässig gegen "IS und nicht gegen die syrische Regierung von Präsident Baschar al-Assad zu kämpfen", nehmen die syrischen Kurden eine wichtige Rolle bei dem Kampf gegen den IS ein. Die militärischen Erfolge der YPG im Kampf gegen IS hätten aber "die Beziehungen zur Türkei weiter belastet", so die New York Times.

Gewarnt wird vor großen Risiken

Der miserable Zustand der türkisch-amerikanischen Beziehungen wurde etwa Anfang Juni offensichtlich, als US-Präsident Obama erstmals öffentlich die Türkei dafür kritisierte, den Zustrom ausländischer Kämpfer zum Islamischen Staat nicht energisch genug einzudämmen.

Eine türkische Intervention entlang der besagten Mare-Linie könnte unter anderem auch darauf abzielen, diese Vorhaltungen Washingtons öffentlichkeitswirksam zu entkräften, spekulierte der private Nachrichtendienst Stratfor. Die außenpolitische Motivation der Intervention in der letzten vom Islamischen Staat gehaltenen Grenzregion wäre klar:

Durch einen Schlag gegen den Islamischen Staat würde die Türkei ihre Beziehungen mit den Vereinigten Staaten substanziell reparieren, die die Türkei beschuldigt haben, willfährig gegenüber der extremistischen Gruppe zu agieren. Dass die Türkei dabei das von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten kontrollierte Gebiet vermeiden würde, könnte die Beziehungen weiter verbessern. Und der Angriff auf die Flanke des Islamischen Staates, vor allem die Jarabulus-Azaz -Zone, würde den Rebellen in der Aleppo-Provinz zugutekommen...

Stratfor

Gegen eine Intervention sprächen aber die "ungeheuren Risiken" eines solchen Vorhabens, so Stratfor. Der Islamische Staat würde der türkischen Armee heftigen Widerstand entgegensetzen, da dies die letzte verbliebene Verbindung zu seinen Nachschubwegen sei, was zu hohen türkischen Verlusten führen würde. Noch wichtiger sei, dass die Islamisten wahrscheinlich mit massenmörderischen Terrorakten innerhalb der Türkei auf eine solche Intervention reagieren würden, da sie mit der Zeit eine "Untergrundpräsenz" in der Türkei aufgebaut hätten, erläuterte Stratfor.

Außerhalb des Machzirkels um Erdogan werden die Risiken einer unilateralen Intervention in Syrien auch von weiten Teilen der türkischen Funktionseliten wahrgenommen. Das türkische Militär "spielt auf Zeit", um den Forderungen Erdogans nach einer Intervention in Nordsyrien den Wind aus den Segeln zu nehmen, berichtete die türkische Zeitung Hürriyet.

Der Generalstab wolle erst die Bildung einer Koalitionsregierung abwarten, erläuterte die Zeitung. Die türkische Regierung forderte demnach eine "aktive Unterstützung" der Freien Syrischen Armee auf syrischem Territorium, die sich gegen "Regimetruppen, kurdische und dschihadistische Kräfte" richten sollte. Hierbei sollten Artillerieschläge, Luftschläge und auch Bodeneinsätze durchgeführt werden:

Der Generalstabschef, General Necdet Özel, hat die Direktiven der Regierung mit Verweisen auf das internationale Recht, die politische Lage und die Unwägbarkeiten bei den Reaktionen des Assad-Regimes, wie auch durch dessen Unterstützer Russland sowie der USA verzögert.

Harsche Kritik an dem Vorgehen der türkischen Übergangsregierung übte auch der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kılıçdaroğlu, der sich gerade in Koalitionsverhandlungen mit Erdogans islamistischer Partei (AKP) befindet. Die AKP versuche, die Außenpolitik zur Erreichung innenpolitischer Zille zu instrumentalisieren, warnte der konservative Politiker.

Solange in der Türkei die Regierungsbildung noch nicht abgeschlossen ist, scheint die Gefahr einer neuen Eskalationsstufe im syrischen Bürgerkrieg somit gering. Der einzige öffentliche Kommentar der USA zu dieser Interventionsdebatte in der Türkei bestand darin, sie als substanzlos zu bezeichnen. Er sehe "keine handfesten Beweise" für eine Intervention, erklärte ein Sprecher des State Department am 30. Juni.