Erfuhr der Verfassungsschutz in Baden-Württemberg doch 2003 von NSU?

Ein Informant bestätigt Aussagen eines Ex-LfV-Mitarbeiters, die er bisher bestritt

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Wusste der Verfassungsschutz (VS) in Baden-Württemberg seit 2003 vom "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU), Mundlos und Böhnhardt? Diese Frage hängt an zwei Personen: dem früheren LfV-Beamten Günter S. und seinem Informanten Torsten O. Bisher hat Torsten O. die Version von Günter S. bestritten - jetzt bestätigt er sie in weiten Teilen.

Günter S. berichtete im September 2012 vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages Folgendes: Im August 2003 habe er von einem Informanten Hinweise auf eine rechtsextreme Terrorgruppe in Ostdeutschland namens NSU bekommen. Der Informant habe fünf Namen genannt, darunter Mundlos. Seinen Bericht über dieses Treffen habe er im Amt vernichten müssen. Die Namen NSU und Mundlos habe er sich aber merken können.

Dagegen erklärte der LKA-Vertreter aus Stuttgart, Axel M., während des selben Ausschusstages, jener Informant habe bei seiner Vernehmung am 2. Dezember 2011 bestritten, gegenüber Günter S. Aussagen über NSU und Mundlos gemacht zu haben. Außerdem hätten die Ermittler im LfV keinen Hinweis auf eine Vernichtung des angeblichen Berichtes gefunden.

Die Spur Günter S. blieb ungeklärt und widersprüchlich. Auch, als der frühere VS-Beamte zweieinhalb Jahre später erneut vor einem Untersuchungsausschuss als Zeuge geladen ist, am 16. März 2015 in Stuttgart. S. bleibt dabei bei seiner Version, jener Informant habe ihm von NSU und Mundlos berichtet. Er mache sich deshalb im Nachhinein Vorwürfe, weil er ihn nicht ernst genug genommen habe.

Am selben Tag lernt die Öffentlichkeit zum ersten Mal auch jenen Informanten leibhaftig kennen: Torsten O., der in Handschellen in den Saal geführt wird. Er sitzt eine mehrjährige Haftstrafe wegen sexuellen Missbrauches von Minderjährigen sowie illegalen Munitionsbesitzes ab.

Torsten O. bestreitet die Angaben von Günter S. in nahezu allen Punkten. Er habe mit ihm nicht über Rechtsterrorismus gesprochen, erklärt er, die Namen NSU und Mundlos habe er nicht genannt, das Treffen habe auch nicht drei bis vier Stunden gedauert, sondern "zehn bis 15 Minuten". Übereinstimmung besteht lediglich darin, dass dieses Treffen stattfand, und wann und wo es stattfand: am 11. August 2003 in Räumlichkeiten der evangelischen Kirche in Flein bei Heilbronn.

Doch nun rückt Torsten O. von dieser seiner Aussage ab und schwenkt zur Version von Günter S. über. Im Gespräch mit dem Autor erklärt er im Juni 2015 auf die Frage, worüber er damals mit S. geredet habe, wörtlich:

[…] Im letzten Themenkomplex habe ich den Bereich des Rechtsspektrums angesprochen und habe dem Herrn S[…] Sachen mitgeteilt, die ich von einem verdeckten Ermittler des Bundeskriminalamtes mir berichtet bekommen habe. Und unter anderem sind in diesem Zusammenhang auch die Namen Böhnhardt und Mundlos gefallen. Ich habe vom Thüringer Heimatschutz [THS] und von dem Nationalsozialistischen Untergrund gesprochen.

Frage: "Wie lange hat das Gespräch gedauert?" - Antwort: "Ich würde mal sagen, nicht unter zwei bis drei Stunden. Die Aussage von S[…], dass es drei bis vier Stunden gedauert hat, könnte schon zutreffend sein."

Torsten O. war 1989/90 unter dem Decknamen "Erbse" für das LfV in Baden-Württemberg tätig. Er wurde im Bereich Rechtsextremismus eingesetzt. Dieser Hintergrund macht vielleicht seine Erklärung verständlicher, warum er bisher über das Gespräch mit dem Verfassungsschützer Günter S. vollkommen anders ausgesagt habe.

Nach dem Auffliegen des NSU am 4. November 2011 in Eisenach hätten ihn wenige Tage darauf drei Verfassungsschützer aus dem Bett geklingelt und ihm erklärt, er dürfe mit niemandem über das Gespräch mit Günter S., in dem von NSU, Mundlos und Böhnhardt die Rede war, sprechen. Das sei streng geheim. Die Geheimhaltungs- und Schweigepflichtserklärung, die er als V-Mann 1989 abgegeben habe, gelte auch für dieses Gespräch im Jahre 2003. Würde er sich nicht daran halten, wäre das Landesverrat und Geheimnisverrat. Torsten O. im Juni 2015 gegenüber dem Autor weiter: "Dann wurde mir noch angedroht, wenn ich nur piep sage, würde man mich aus dem Verkehr ziehen und ich würde irgendwo in einem Gefängnis vergammeln."

Günter S. hatte sich, bereits im Ruhestand, im November 2011 nach Bekanntwerden des NSU von sich aus an das Bundeskriminalamt (BKA) gewandt und die Geschichte seines Informanten Torsten O. und dessen Hinweis auf NSU und Mundlos erzählt. Er wollte mithelfen, sagt er heute, die Mordserie aufzuklären.

Am 25. November 2011 wurde S. offiziell polizeilich vernommen. Am Abend jenes Tages, so Torsten O. weiter, seien die drei Verfassungsschützer erneut vor seiner Wohnung aufgetaucht, hätten ihn unter Druck gesetzt und ihm Instruktionen für eine anstehende Vernehmung durch die SoKo Parkplatz gegeben: "Ich sollte sagen, wenn ich gefragt werde: Das Gespräch mit dem Herrn S[...] hätte zehn bis 15 Minuten gedauert und soll alles dementieren, was mit dem Rechtsspektrum im Zusammenhang steht."

Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg teilt dazu auf Anfrage mit: "Die Angaben von Herrn O., LfV-Mitarbeiter hätten ihn im November 2011 (oder später) aufgesucht, können nicht bestätigt werden."

Am 2. Dezember 2011 wurde O. dann vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg im Auftrag des BKA tatsächlich selber vernommen und gab die gewünschte Version zu Protokoll. Seine jetzige, korrigierte Version über das Gespräch mit Günter S. weicht in einem wichtigen Punkt aber immer noch von der des Ex-Verfassungsschützers ab.

Der hat seinen Informanten O. bisher stets so zitiert, er habe in persönlichem Kontakt zur NSU-Gruppe gestanden und für sie eine Bank in Heilbronn ausspionieren sollen. Das jedoch bestreitet Torsten O. auch im Juni 2015. Die Hinweise auf NSU, THS, Mundlos und Böhnhardt will er von jenem ehemaligen BKA-Mann bekommen haben - und zwar privat, wie er betont.

Warum korrigiert er jetzt seine Aussage? Antwort O-Ton Torsten O.: "Weil es mir darum geht, die Sache aufzuklären. Insgesamt überwiegt bei mir der Verdacht, dass die Behörden hier etwas vertuschen wollen. Und da bin ich einfach der Überzeugung, dass von diesen Behörden eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, weil nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, ob nicht in anderen Fällen, derzeit aktuell, auch noch irgendwelche Gefährdungen für die Bevölkerung bestehen."

Torsten O. hat inzwischen ans LKA in Stuttgart geschrieben und seine Aussage vom 2. Dezember 2011 zurückgenommen - "in Gänze", wie er formuliert. Das LKA nimmt dazu nicht Stellung. Es möchte nicht einmal bestätigen, ob der Brief eingegangen ist. Das Amt verweist auf den Generalbundesanwalt, der die "Hoheit im NSU-Verfahren" habe. Die Karlsruher Behörde erklärt, sie erteile "zum Inhalt der Korrespondenz von etwaigen Zeugen grundsätzlich keine Auskünfte."

Ein zum Schweigen verpflichteter NSU-Zeuge bricht die staatliche Omertà - so sieht es aus. Und das wäre etwas Neues. Torsten O. bestätigt nun in wesentlichen Teilen, was der Verfassungsschützer Günter S. - allen Anfeindungen zum Trotz - wiederholt geschildert hat. Damit kann als belegt gelten, dass das Amt spätestens seit 2003 Wissen über den NSU gehabt hat. Und die Frage, die sich nun aufdrängt, ist: Warum qualifiziert diese Behörde zusammen mit dem verantwortlichen Ministerium seinen früheren Mitarbeiter für dessen Aussage ab? Darf sie nicht sein?

Torsten O. hat auch an den Untersuchungsausschuss in Stuttgart geschrieben. Er nimmt auch da seine Aussage zurück und erklärt sich bereit, vor dem Gremium öffentlich neu auszusagen. Der Ausschussvorsitzende Wolfgang Drexler sagte dazu vor Beginn der letzten Sitzung am Montag, 6. Juli, gegenüber der Presse: Man wolle von O. nun vor allem wissen, ob seine Aussage vom März falsch gewesen sei und was damit geschehen solle. Denn einfach zurückziehen könne er sie nicht, sie sei nun mal gemacht worden.