Wie aus einem "gemeinsamen Haus Europa" eine Ruine wurde

Elmar Altvater über marktkonforme, repräsentative und direkte Demokratie

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Elmar Altvater, emeritierter Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin, hat gemeinsam mit dem Schriftsteller Raul Zelik den Gesprächsband Vermessung der Utopie veröffentlicht. Darin widmen sie sich den Verlaufsformen und Widersprüchen des Kapitalismus und den jeweiligen Gegenkräften.

Herr Altvater, die großen Unternehmen können sich politische Macht kaufen, eine Bewegung muss diese erst entwickeln und sich erkämpfen. Wie müssen die Bedingungen der Möglichkeit beschaffen sein, damit die Linke auf Augenhöhe mit den Global Players agiert?

Elmar Altvater: Auf Augenhöhe? Das geht nicht. Linke sind geneigt, arrogant auf die global player herabzublicken. Sie haben die Macht, aber keine Kultur. Sie beherrschen die Vergangenheit mit ihren historischen Hofschreibern, aber haben keine Zukunft. In der Gegenwart muss man sich mit ihrem Geld auseinandersetzen. In Kämpfen. Linke sind zwar arrogant, aber da die meisten intelligent sind, wissen sie um ihre Unterlegenheit bei der Verfügung über traditionelle Machtmittel - vom Geld und Kapital über die Medien bis zu Polizei und Militär. Angesichts dieser Verhältnisse ist Vorsicht geboten, wenn die Machtfrage gestellt wird.

In der Linken ist daher das Konzept der Hegemonie verbreitet und gut ausgearbeitet: Eine Vielfalt von Strategien und politischen Initiativen, mit denen die "dicken Bretter" gebohrt werden können, die einzelne Bohrer nicht schaffen. Beim Bohren dicker Bretter braucht man einen langen Atem und viel Frustrationstoleranz. Denn der ständige Begleiter linker Projekte ist die Niederlage. Und dann triumphieren die großen Unternehmen über die Arroganz der Linken. Das ist so wie Schäuble über Varoufakis triumphiert, armselig, mit hässlicher Mine, bösartig, und doch eigentlich bemitleidenswert.

"Das ist doch dummes Geschwätz"

Wie ist die politische Macht zu erreichen, wenn sich die parlamentarische Demokratie als Durchsetzungsforum für Lobbypositionen entpuppt und Bürgerbewegungen und Sozialforen "Pipifax" (Ronald M. Schernikau) sind?

Elmar Altvater: Arroganz Linker gegen Linke ist häufig nur Ausdruck mangelnden analytischen Tiefgangs. Sind Bürgerbewegungen und Sozialforen "Pipifax"? Das ist doch dummes Geschwätz. Entweder hat der kritische Kritiker viel zu viel von diesen Organisationsformen erwartet und ist nun enttäuscht oder er gibt ein berechtigtes Urteil ab, dann aber müsste er wegen dessen normativer Aufgeladenheit zumindest ansatzweise dessen Alternative andeuten.

Ein anderes Argument ist die Kritik an der parlamentarischen Demokratie als Lobby-affin. Das ist ja eine ziemlich verbreitete Kritik, die ihre volle Berechtigung hat. Es handelt sich da um eine der Varianten der richtigen These, dass Kapitalismus und Demokratie letztlich nicht vereinbar sind. Das "letztlich" aber muss in seriösen Analysen genauer bestimmt werden. Mir fällt dabei ein, dass es heute wieder sinnvoll sein könnte, Johannes Agnolis "Transformation der Demokratie" zu lesen.

Elmar Altvater. Foto: Bertz+Fischer

Innerhalb der Linken klafft zumindest nach meiner Meinung eine riesige Lücke zwischen Theorie und Praxis. Können Sie bei den Linken Praxis-Ansätze ausmachen, in denen Spurenelemente marxistischen Denkens zu finden sind?

Elmar Altvater: Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist bekanntlich ein höchst komplexes, ist man geneigt zu kalauern. Und was ist "marxistisches Denken", und davon noch "Spurenelemente"? Alle marxistischen Denkerinnen und Denker haben ihr eigene Denke. Obendrein müsste die Vielfalt der Praxisansätze bedacht werden: Praxis der Arbeiterbewegung, wo, in welcher Tradition, mit welchen Erfahrungen und Organisationsstrukturen? Praxis der Frauenbewegung, in welcher feministischen Tradition, in welchem Verhältnis zum Marxismus, auf welchem kulturellen Hintergrund? Praxis auf der Grundlage eines ökologischen Marxismus? Mit welcher Zielrichtung, zum Schutz eines lokalen Ökotops oder zum Kampf gegen den planetarischen Klimawandel? Auf welcher Ebene, lokal, national, global?

Auf allen diesen Ebenen, in Bezug auf alle diese Fragen haben diverse marxistische Ansätze einiges zu bieten. Man muss sie nur richtig befragen, also auch nicht überfragen und bei der Suche nach Antworten aktiv mitarbeiten. Dann wird man fündig.

"Krasse Utopie"

Wie die rot-grüne Bundesregierung gezeigt hat, stößt die repräsentative Demokratie bei der Umsetzung des progressiven Wählerwillens zunehmend auf ihre Grenzen. Aber kann eine direkte Demokratie die rechte Antwort auf unsere Probleme sein?

Elmar Altvater: Die direkte Demokratie eine rechte Antwort? Das wäre eher die linke Antwort auf die Defizienzen der repräsentativen Demokratie. Allerdings darf man es sich dabei nicht leicht machen. Denn erstens braucht man in einer Massengesellschaft Elemente und vernünftige Verfahren der Repräsentanz, der Delegation, der Teilung von Macht auf verschiedenen Ebenen. Zweitens sind Entscheidungen in Strukturen eingebettet, so dass immer die Frage nach dem Verhältnis der Gremien und Orte beziehungsweise nach den Funktionen der Entscheidungen ansteht.

Beispielsweise geht es um die für Angela Merkel zentrale Frage nach dem Verhältnis von Markt und Demokratie. Sie beantwortet sie klipp und klar: Die Demokratie muss marktkonform sei. Wenn Merkel damit richtig liegen sollte, erübrigt sich Ihre Frage nach der repräsentativen und direkten Demokratie. Der Markt hat das Sagen, der Eigenwert der Demokratie ist unerheblich. Der Historiker Karl Polanyi nennt eine solche Position eine "krasse Utopie".

Halten Sie die Solidarität vieler linker Gruppen mit konservativen Muslimen für richtig?

Elmar Altvater: Ich kenne diese linken Gruppen nicht. Vielleicht gibt es den Versuch des Verständnisses und der Verständigung. Das aber ist etwas anderes als Solidarität, noch dazu mit einer "konservativen Religion". Im Islam gibt es auch sehr progressive Tendenzen. Ihre Frage ist also nicht schlüssig zu beantworten.

Was sind denn die sehr progressiven Tendenzen im Islam?

Elmar Altvater: Ich bin kein Islamwissenschaftler und kenne die islamischen Länder nicht. Ich weiß nur, dass der Islam in Europa auf der iberischen Halbinsel noch heute wunderbare Spuren hinterlassen hat - die Alhambra von Granada, die Moschee von Cordoba oder Sevilla. Unsere Schrift und unser Zahlensystem sind arabisch beeinflusst. Aber wir haben auch die Zerstörung von Kulturdenkmälern in Afghanistan, im Irak und in Syrien gesehen, wir sind Zeugen barbarischer Bestrafungsaktionen zum Beispiel in Saudi-Arabien. Wenn wir danach allein den Islam beurteilen würden, müssten wir die Kultur des Westens an den Gräueltaten der US-Truppen im Irak, wo die Zerstörung von Kulturdenkmälern mit Hilfe der Antiquitätenmafia betrieben worden ist, messen.

Dr. Jekill und Mr. Hyde, Papst Francisco und Präsident Bush sind die paradigmatischen Gestalten des Guten und des Bösen, die wohl auch in der islamischen Welt anzutreffen sind.

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