Schwelender Showdown in der Ukraine

Die Rhetorik verschärft sich zwischen Regierung und Rechtem Sektor, Poroschenko wirft der rechtsextremen Miliz Kollaboration mit Moskau vor

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Heute ist der Jahrestag des Abschusses von MH17. Man wird kaum annehmen können, dass auch nach dem Vorliegen des abschließenden Untersuchungsberichts und auch nach einem etwaigen UN-Tribunal hieb- und stichfest aufgeklärt sein wird, wer für den Abschuss verantwortlich ist. Ändern an der Situation wird sich nicht viel, wenn es nachweisbar Separatisten gewesen sein sollten, die in Verwechslung mit einer Militärmaschine versehentlich die Passagiermaschine abgeschossen haben, während Kiew beschuldigt wurde, den Luftraum nicht gesperrt zu haben. Schwierig würde es aber, wenn eine direkte russische Beteiligung nachweisbar wäre - oder aber eine ukrainische. Doch nach einem Jahr des Grabenkampfs, einem Minsker Abkommen, das nicht vorankommt, weil es keine der Seiten wirklich umsetzen will, und einem neuen Nato-Russland-Konflikt könnte sich selbst dann nicht viel ändern, zumal durch den Ukraine-Konflikt bislang die Rolle der Vereinten Nationen bzw. des Sicherheitsrats vorerst völlig ausgehebelt wurde: eine höchst gefährliche Situation, die sich eben auch in der der Ukraine spiegelt.

Die Kämpfe zwischen den Separatisten und den ukrainischen Streitkräften werden seit einiger Zeit bereits häufiger und intensiver, es sterben wieder mehr Menschen, beide Seiten bezichtigen sich wie üblich gegenseitig, den Waffenstillstand verletzt und auch auf Wohngebiete geschossen zu haben. Die OSZE bestätigt im Bericht vom 14. Juli den Beschuss von beiden Seiten und auch die Existenz von schweren Waffen in Gebieten, aus denen sie nach dem Minsker Abkommen zurückgezogen sein sollten. Zudem wird von langen Schlangen an Fahrzeugen berichtet, die in die Volksrepubliken oder aus diesen fahren wollen. In der Volksrepublik Lugansk könne die OSZE-Mission keine Beobachtung durchführen, die Drohnen hätten dafür eine zu geringe Reichweite, in der Volksrepublik Donezk sei die Datenübermittlung einer Drohne zeitweise gestört worden.

Poroschenko zeigt sich entschlossen. Bild: president.gov.ua

In Karpatien ist die Situation weiterhin angespannt. Die OSZE berichtet von hoher Polizeipräsenz nach der Schießerei am 11. Juli, in die Kämpfer der rechtsnationalistischen Miliz und Polizei verwickelt waren. Zwei Kämpfer des schwer bewaffneten Rechten Sektors wurden getötet, vier verletzt, es gab weitere Verletzte unter den Polizisten und Zivilisten. Der Rechte Sektor war nicht nur mit Maschinengewehren unterwegs, sondern auch mit einem Granatwerfer, den die Miliz eigentlich zum Kampf gegen die Separatisten erhalten hatte - und die Front ist immerhin 1600 km entfernt. Einige der Kämpfer des Rechten Sektors wurden festgenommen, die politische Führung der Region und die Leitung der Zollbehörde wurden ausgetauscht.

Die Lage ist noch nicht klar. Angeblich wollte der Rechte Sektor, der weiter eine "private" Miliz ist, die sich nicht dem staatlichen Gewaltmonopol unterworfen hat und entgegen dem Minsker Abkommen auch noch an der Front tätig ist, die Schmugglerbanden in Mukacheve eigenmächtig aufmischen. Diese sind verwoben mit Abgeordneten, Oligarchen und der örtlichen Polizei. Der Oblast Transkarpatien wird gelegentlich schon mal als "transkarpatische Schmuggelrepublik" bezeichnet. Die Meinungen gehen allerdings auseinander, ob der Rechte Sektor tatsächlich in einer Säuberungsaktion unterwegs war oder nicht eher die Absicht hegte, sich mit ins Geschäft zu drängen.

Die Zentralregierung wollte zunächst offenbar die Gunst der Stunde nutzen und hart gegen den Rechten Sektor vorgehen, dem eine nicht genauer bekannte Zahl von bewaffneten Kämpfern angehört. Nachdem dieser mit einem Marsch auf Kiew und einem weiteren Maidan gedroht hatte, Demonstrationen (wenn auch kleine) in einigen Städten organisierte und Straßensperren errichtete (und nachdem der Chef Dmitri Jarosch zu Verhandlungen in die Region eilte), wechselte man schnell die Rhetorik - bis hinauf zum Präsidenten. Noch immer sind einige der an der Schießerei beteiligten Männer in den Wäldern um Mukacheve untergetaucht, noch immer bleibt der Rechte Sektor als Organisation bislang unbehelligt.

Man fürchtet sich offenbar weiterhin, in einen offenen Konflikt mit dem Rechten Sektor zu treten und die Miliz zu entwaffnen oder zu kriminalisieren. Der Rechte Sektor ist auch eine Partei ist, Jarosch ist zudem unabhängiger Abgeordneter in der Rada und genießt weiterhin Immunität. Zwar wurde erst einmal getönt, dass es keine weitere bewaffnete Macht im Staat als die staatlichen Organe geben dürfe, aber durchsetzen will oder kann man dies nicht. Die Entstehung von Banden oder Milizen, die Gewalt zur entschlossen und bewaffnet sind, ist neben dem bloßen Austausch der politischen Elite von Oligarchen einer der Geburtsfehler des durch die Maidan-Revolte erfolgten Sturzes der - im Übrigen unbestritten demokratisch legitimierten - Janukowitsch-Regierung. Schon während der Proteste bildeten sich die so genannten und teils glorifizierten Selbstverteidigungskräfte des Maidan heraus, zu denen auch der rechtsextreme, gar nicht "Euromaidan" positionierte, sondern durchaus EU- und Nato-kritische Rechte Sektor gehört.

Er war verwoben mit vielen der neuen Machthaber, was sich weiterhin auszahlt, man kennt sich. Zudem hatte der Rechte Sektor schnell die Chance erkannt, sich im Krieg gegen die Separatisten und Russland als patriotische Kraft zu etablieren, die teils kampferprobten, jedenfalls abenteuerlich gestimmten jungen Männer folgten und folgen dem "Führer" Jarosch ergeben. Der ist ein irgendwie ein nationaler Held geworden, auch wenn er als Präsidentschaftskandidat ebenso wie die Partei durchfiel. Aber selbst mit Anhängern, die gerade einmal ein Prozent oder so darstellen, können Menschen, hinter denen ein paar tausend schwer bewaffnete Männer stehen, einen Staat beeinflussen.

Jetzt fordert der Rechte Sektor weiterhin den Rücktritt des Innenministers, seit der Übergangsregierung der Erzfeind, weil er schon bald versuchte, gegen die Miliz vorzugehen, aber sich offensichtlich bis heute nicht durchsetzen konnte. Und überhaupt wirft man der Regierung Versagen und Nachgeben gegenüber dem Feind und der Korruption vor. Gerade in der Zeit, in der es um die Reform der Verfassung, die Dezentralisierung des Staates und vor allem den im Minsker Abkommen vorgesehenen Sonderstatus der von den Separatisten kontrollierten Gebiete geht, wurde die Schießerei fern des militärischen Konflikts zu einem hochpolitischen Konflikt. Der Rechte Sektor kritisiert einen Sonderstatus als Verfassungsverletzung und als Nachgeben gegenüber dem russischen Feind. Auch das Minsker Abkommen wird als "Betrug" abgelehnt. Die Regierung wird beschuldigt, die nationalen Interessen zu verraten, was auch die aktuellen "illegalen Verhaftungen" der Kämpfer des Rechten Sektors beweisen sollen, die doch nur gegen Korruption und Ungerechtigkeit, gegen korrupte Beamte und Oligarchen vorgegangen seien. Poroschenko wird ein Geschacher mit Putin vorgeworfen, was sich auch daran zeige, dass sein Schokoladeunternehmen in Russland weiter tätig sei.

Poroschenko, der in der Verfassungsreform "keinen Hauch von Föderalisierung" sieht, arbeitet hingegen nun vor allem mit der Angst. Kräfte würden versuchen, die Ukraine zu destabilisieren, was in erster Linie heißt, die eigene Macht und die der von Jazenjuk geführten Regierung zu erschüttern. Nach der Schießerei war ein Anschlag auf eine Polizeistation in Lviv erfolgt, der vom Präsidenten mit der Schießerei verbunden wurde. Poroschenko genießt noch ein wenig mehr Vertrauen in der Bevölkerung als Jazenjuk und seine Partei Volksfront, aber nach Umfragen herrscht bereits in Volkes Meinung Instabilität (Ukrainische Regierung ohne Rückhalt in der Bevölkerung). Poroschenko tritt an mit dem Versprechen oder der Drohung, keine "Anarchie" im Land zu dulden und gegen Milizen und Verbrecherbanden vorzugehen. Auch wenn er eine Dezentralisierung vertrete, müsse das Gewaltmonopol beim Zentralstaat bleiben.

Nicht nur in der Ostukraine, auch in Karpatien hat die Ukraine ein Problem mit der Überwachung der Grenze. Auch hier werde man dagegen vorgehen, um die Schmugglerbanden einzudämmen, so der Präsident. Und mittlerweile versucht Poroschenko wie immer, die Probleme im Land nach außen zu schieben, auf den großen Feind Russland, was bislang immer ganz gut funktioniert hat. Russland wolle, so sagte er mit Blick auf die zunehmenden Kämpfe an der Frontlinie, die Ukraine destabilisieren. Moskau habe einen "klaren Plan", so seine Verschwörungstheorie. Und daran würden "bewusst oder unbewusst" auch "gewisse Patrioten", also der Rechte Sektor, teilnehmen. Wer mit Maschinengewehren und Granatwerfern vorgehe, gehöre zu Terroristen und Banditen. Daher sei es wichtig, die illegalen bewaffneten Gruppen auszuschalten. Er als Garant der Verfassung müsse "das Phänomen der illegalen bewaffneten Banden eliminieren", was er allerdings schon längst hätte tun können und müssen.

Das steht in einem interessanten und bemerkenswerten Gegensatz zum Leiter des Geheimdienstes der Untersuchung des Vorfalls in Mukacheve, Hryhorii Ostafiichuk. Nach ihm geht es bei der Auseinandersetzung um die "Kontrolle des regionalen Schmuggelhandels". Man überprüfe die örtliche Polizei, mit Terrorismus habe der Vorfall nichts zu tun.