Habermas: Deutsche Zuchtmeister haben politisches Kapital verspielt

Der Philosoph wirft der deutschen Regierung vor, dass sie Politik an eine eingeengte Zombierolle verraten hat

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Die deutsche Regierung, einschließlich der sozialdemokratischen Fraktion, habe in einer Nacht alles politisches Kapital verspielt, das ein besseres Deutschland in einem halben Jahrhundert angehäuft habe, befürchtet der deutsche Philosoph Jürgen Habermas.

Gegenüber dem Guardian erneuerte Habermas seine Kritik an der "Verwandlung von Politikern in Zombies". Ende Juni hatte Habermas in der SZ kritisiert, dass sich Politiker in Brüssel und Berlin weigern, ihren Kollegen aus Athen als "Politiker zu begegnen". Wenn die deutschen Verhandlungspartner auch aussehen wie Politiker, so sind sie nur in einer Rolle ansprechbar: als Gläubiger.

Die Einengung der politischen Diskussionspunkte, die überhaupt nur gelten und anderes wird erst gar nicht angehört ("Das vollständige Fehlen aller demokratischen Skrupel"), hält Habermas, der für seine Theorie des kommunikativen Handelns berühmt wurde, für einen Skandal. Wenn sich die Auseinandersetzung mit Griechenland auf die Frage des Gläubigers konzentriert, ob die Schuldentragfähigkeit (Schäuble) gewährleistet ist, dann sei eine Verwandlung im Gange, so Habermas in der SZ.

Diese Verwandlung in Zombies hat den Sinn, der verschleppten Insolvenz eines Staates den Anschein eines unpolitischen, vor Gerichten einklagbaren privatrechtlichen Vorgangs zu geben.

Wie man aus der Camouflage einer quasi-neutralen, an Regeln ausgerichteten Position des Gerichtsapparates heraus spricht, dafür gab Finanzminister Schäuble gestern Anschauungsunterricht (Griechenland: Schäuble hält befristeteten Euro-Ausstieg weiter für die bessere Option).

Habermas hält dieser Politik nicht nur mangelnde Sensibilität vor, die politisches Vertrauen in Deutschland kaputt macht, das deutsche Nachkriegspolitiker mühsam aufgebaut haben, vielmehr er spricht auch er dem Guardian gegenüber von einem Zuchtmeistergehabe und "hegemonialen Anspruch", das die deutsche Regierung "schamlos" offenbart habe.

Ihm geht es darum, das Gewicht bei der Auseinandersetzung über Griechenland, die eine Auseinandersetzung über die Zukunft Europas ist, auf politische Gestaltungsmöglichkeiten zu verlagern, die Technokraten nicht in den Blick nehmen. Deren Vorschläge zu Griechenland seien ein toxischer Mix, die eine erschöpfte griechische Regierung entmutigen und jeden Wachstumsimpuls abtöten.

Habermas kritisiert dabei auch das Vorgehen der griechischen Regierung, er spricht sie nicht frei von Dilettantismus und macht ihr den Vorwurf zu wenig an eigenen Konzepten vorgebracht zu haben:

Die linke Regierung hätte ganz im Sinne des wirtschaftswissenschaftlichen Nobelpreisträgers eine keynesianische Entmischung der Merkel'schen Medizin vornehmen und alle neoliberalen Zumutungen konsequent zurückweisen können; aber gleichzeitig hätte sie ihre Absicht glaubhaft machen müssen, die fällige Modernisierung von Staat und Wirtschaft durchzuführen, einen Lastenausgleich vorzunehmen, Korruption und Steuerflucht zu bekämpfen usw.

Doch ist seine Sicht auf die griechische Position ein grundlegend andere als die der deutschen Regierung. Während etwa Schäuble einzig davon ausgeht, dass die Griechen aus Unwillen gegen die Reformen sind und SYRIZA das "ausgenutzt" habe, um an die Macht zu kommen, hebt Habermas hervor, dass die griechischen Wähler einen "Wechsel der Politik" haben wollten. Das ein anderer Ansatz als derjenige, der von Anfang an den Willen erkennen ließ, auf Strafmaßnahmen gegen die neue Regierung zu setzen.

Mit einer solchen politischen Ausrichtung, so Habermas, verstärke man nationale Zentrifugalkräfte. Sein Gegenrezept, die Verstärkung gemeinschaftlicher Elemente Europas, etwa mit einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik, findet auch seine Kritiker. Die Frage wäre, ob diese gemeinschaftliche Politik dann ähnlich funktionieren soll wie der Lastenausgleich im föderativen System der Bundesrepublik.