Europa und die Spieltheorie

Die Konkurrenz-Programmierung vernebelt den Verstand auch dann, wenn es zum "Gemeinsam-Gewinnen-Spiel" keine Alternative gibt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Als es noch Konservative und Sozialdemokraten gab, die ihre Namen verdienten, bestand die Möglichkeit einer Verständigung über "Werte" jenseits des Lagerdenkens. Doch heute müssen wir Politik nolens volens als Dienstleistung oder als Spiel verstehen. Besonders im letzten Fall gibt es ungezählte Varianten. Auf dem Spielfeld können z.B. Dilettanten und knallharte Zocker agieren. Beide Rollen sind in Personalunion spielbar.

Unbedingt sind in spieltheoretischer Hinsicht unterschiedliche Phasen zu bedenken. Dies ist bei einer Betrachtung zum "Europa der Spieler" leicht einsehbar: Mit lukrativen Krediten gehätschelte "Importnationen" können sich z.B. anfänglich als konspirative Partner jener "Exportnation" verstehen, die die Architektur eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes maßgeblich bestimmt. Im weiteren Spielverlauf stellt sich dann aber - zu spät - heraus, dass den willigen "Knechten" (als vermeintlichen Juniorpartnern) vom Spielleiter von Anfang an eine Opfer- bzw. Verliererrolle zugeteilt worden ist. Wie das Spiel weitergeht, weiß vielleicht noch keiner. Am Ende kann natürlich auch der "Herr" als Verlierer dastehen ...

Unwillkürlich ist mir in diesen Wochen, in denen sich für das ehedem vielbeschworene "gemeinsame Haus Europa" ein Abgrund auftut, die Erfahrung eines Spielexperimentes zur letzten Jahrhundertwende wieder in den Sinn gekommen. Schauplatz war ein professionelles Teamtraining für Hauptberufliche aus sozialen Arbeitsfeldern. Der "Coach", der in der Regel für Wirtschaftsunternehmen arbeitete, hatte in sein Seminarprogramm ein Spiel integriert: In seinen Kursen teilte er die Anwesenden (so auch uns) in mehrere Gruppen auf. Jede Gruppe erhielt mit der Maßgabe, möglichst viele Punkte zu sammeln, den gleichen Aufgabenzettel. Jede Spielrunde war mit einer Verhandlungsrunde von Vertretern der einzelnen Gruppen verbunden.

In den Anweisungen stand beschrieben, wie eine mit den anderen Gruppen abgestimmte Lösungsvariante jeweils für alle gleichermaßen einen beträchtlichen Punktzuwachs einbringt. Verhält sich eine einzelne Gruppe dennoch gegen eine in diesem Sinne getroffene Verhandlungsabsprache, bekommt sie auf Kosten der anderen Gruppen, die dann leer ausgehen, eine festgesetzte - "suboptimale" - Punktzahl.

Entscheidend ist, dass dieses Spiel von allen Beteiligten nur gemeinsam gewonnen bzw. gelöst werden kann. Um das zu durchschauen, wäre an sich allein eine denkbar bescheidene mathematische Intelligenz erforderlich. Es bedürfte dazu keiner Tugenden. Solidarität oder Gemeinschaftssinn werden in unserem Beispiel nicht zwingend verlangt! (Ein "Vertrauensbrecher" kann bei dem besagten Spieldesign nie einen Vorteil erringen.) Und doch sind wir in unserer Kultur offenbar so sehr vom Konkurrenzprinzip infiziert, dass ein rationales Vorgehen bei diesem Spiel zu den großen Ausnahmen gehört.

Tatsächlich wird das klare Denken schon beim Lesen der Spielanweisung für alle Gruppen außer Kraft gesetzt. Auf der Anleitung steht: "Sammeln Sie möglichst viele Punkte!" Die weitaus meisten Beteiligten aber lesen, was dort gar nicht steht: "Sammeln Sie mit Ihrer Gruppe mehr Punkte als die anderen." Möglichst viele Punkte kann jede Gruppe in diesem Spiel aber eben nur in einer völlig unkomplizierten und zuverlässigen Absprache mit den anderen erzielen. Die Aufgabe kann mit einem Konkurrenzblickwinkel schlichtweg nicht gelöst werden!

Erschreckend viele Kurse, so sagte damals der Coach, brauchen zu dieser einfachen Erkenntnis den leidvollen Erfahrungsweg aller vier Spielrunden, ohne ans Ziel zu kommen. Von "höherer Warte" aus kann man sich leicht vorstellen, welcher Verzweiflung in diesem Prozess ein einzelnes Gruppenmitglied ausgesetzt ist, das von Anfang an bzw. sehr früh die Spielregel des gemeinsamen Gewinnens durchschaut hat. Es wird mit all seinen Möglichkeiten rational argumentieren. Vielleicht überzeugt es in der zweiten Runde die eigene Gruppe. Doch dann steht immer noch die mühevolle Aufgabe an, in den übergeordneten Verhandlungsrunden aller Gruppendelegierten der Unvernunft zu begegnen und den Konkurrenzwahnsinn zu heilen.

Ich verstehe von Mathematik und Spieltheorie nicht viel. Aber ich kann lesen. Unter etwa zwanzig Seminarteilnehmern war ich vor anderthalb Jahrzehnten der einzige, der die Spielanleitung schon in der ersten Runde richtig gelesen hatte. Indessen wurde mir bis zur zweiten Runde signalisiert, als katholisch-emotionaler Gutmensch und Theologe hätte ich von den Aufgaben, die jetzt zu lösen wären, einfach keine Ahnung ...

Der Neoliberalismus basiert auf keinem rationalen Modell, sondern ist eine Religion. Diese Religion, deren menschenverachtenden und terroristischen Potenzen offen zutage liegen, kommt uns teuer zu stehen. Ein einfaches Spielexperiment könnte die Unbelehrbaren im "Hause Europa" zur Besinnung und zur entscheidenden Erkenntnis bringen: Die Konkurrenz-Programmierung vernebelt den Verstand auch dann, wenn es zum "Gemeinsam-Gewinnen-Spiel" einfach keine Alternative gibt.