Die griechische Katastrophe

Athanassios Giannis über die humanitäre Lage in Griechenland und dafür verantwortliche Schreibtischtäter

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Stellen Sie sich vor, Sie sind ein griechisches Kind in Athen, wurden von einem Auto angefahren und benötigen dringend medizinische Hilfe. Ihre Mutter ist wie drei Millionen andere Griechen jedoch nicht mehr im Besitz einer Krankenversicherung. Sie kann sich die Police nicht mehr leisten. Jetzt einen Krankenwagen zu rufen, ist außerdem längst zum Glücksspiel verkommen, denn ein Großteil der diesbezüglichen Infrastruktur wurde aus Kostengründen stillgelegt. Aber auch wenn es Ihre Mutter mit Ihnen in ein Klinikum schaffen würde, müsste sie Wartezeiten von bis zu zwölf Stunden in Kauf nehmen und würde erst dann behandelt, wenn sie das Geld für die Not-Operation vorab in bar bezahlen kann.

In dieser Situation sterben jeden Tag Menschen in Griechenland, während die Troika dem Land unlängst noch weitergehenden Sozialkahlschlag aufgezwungen hat. Jens Wernicke sprach hierzu mit Prof. Athanassios Giannis von den Universitäten Leipzig und Patras, der zurzeit in Griechenland weilt.

Herr Giannis, Sie sind griechischstämmiger Professor an der Universität Leipzig, unterhalten aber nach wie vor engste Verbindungen nach Griechenland und sind auch Mitglied des Hochschulrates der Universität Patras. Wie ist die Situation aktuell in Griechenland? In deutschen Medien wird zwar über eine "humanitäre Katastrophe" berichtet, zugleich jedoch darauf insistiert, dass diese wohl "alternativlos" sei…

Athanassios Giannis: Wenn es den Zahlen gut geht und dennoch Menschen sterben, dann läuft etwas grundsätzlich falsch in unserer Gesellschaft. Das ist furchtbar, es ist inhuman. Der Mensch ist das Maß aller Dinge! Vielleiht besinnt man sich wieder und denkt an solche alten Weisheiten.

Wenn eine humanitäre Katastrophe als alternativlos betrachtet wird, dann ist das ein Akt des Zynismus und der Barbarei. Die Frage ist nun: Welche Art von Gesellschaft, welches Europa wollen wir? Wie wäre es, wenn wir Begriffe wie "Solidarität" oder "Solidargemeinschaft" wieder mit Leben füllen würden? Das täte aktuell wirklich dringend not.

Und wenn Sie nach dem Warum fragen - nun, die Zustände im Griechenland dieser Tage werden selbst in den bürgerlichen Medien in Deutschland wie in der Zeit treffend skizziert: "Mütter, die in Müllcontainern nach Essensresten wühlen, um sie ihren Kindern zu geben. Rentner, die um Geld betteln. Krankenhäuser, die vergammeln, weil der Staat kein Geld mehr für sie hat. Es sind solche Bilder aus Griechenland, die um die Welt gehen und deutlich machen: Die Krise ist mehr als eine Debatte um den Fortbestand einer Währung, sie trifft die griechische Bevölkerung längst bis ins Mark."

Hunderttausende sind inzwischen in ihrer Existenzgrundlage bedroht und stürzen immer mehr in Armut und Elend hinab.

Wie hat sich das in den letzten Jahren denn vollzogen? Welche Veränderungen im Alltag brachten die letzten sogenannten "Sparprogramme" mit sich? Welche Auswirkungen konkret hatten und haben sie auf die griechische Bevölkerung?

Athanassios Giannis: Folgende harten Fakten und Zahlen verdeutlichen die Situation in meinem Land: Mehr als drei der insgesamt rund 11 Millionen Griechen sind momentan ohne Krankenversicherung und also ohne Zugang zu medizinischen Leistungen und Medikamenten. 3,8 Millionen Griechen leben an der Armutsgrenze mit rund 430 Euro pro Monat und weitere 2,5 Millionen unterhalb derselben. Letztere versuchen mit durchschnittlich 230 Euro pro Monat zu leben und überleben. Das bedeutet: Rund 60 Prozent der griechischen Bevölkerung leben in Armut oder an der Grenze derselben.

Zudem haben um die 10.000 Menschen in den vergangenen fünf Jahren Selbstmord begangen. Und das in Griechenland, das heißt, im Land mit der bisher niedrigsten Suizidrate Europas. Und auch die Sterblichkeitsrate von Leuten über 55 Jahre hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen.

All diese Trends stehen in direktem Zusammenhang mit der Austeritätspolitik in Griechenland, mit der daraus resultierenden Arbeitslosigkeit und dem fehlenden Zugang zu medizinischen Leistungen und Behandlungen für chronisch kranken Menschen.

Athanassios Giannis

Und wie geht es der Jugend im Land?

Athanassios Giannis: Hier erscheint es mir besonders wichtig zu erwähnen, dass heutzutage Kinder in Griechenland hungern. 7 Prozent von diesen leben in Familien ohne Elektrizität; früher waren es 3 Prozent. Eltern geben ihre Kinder inzwischen an öffentliche Einrichtungen, damit diese überhaupt noch etwas zu essen bekommen.

Für viele Leute ist Hunger der große Feind. Kinder und insbesondere Kinder von Flüchtlingen sind davon am stärksten betroffen Und Hunger zerstört auch Teile des kindlichen Gehirns mit absehbaren Folgen für die geistige Entwicklung dieser Kinder, ihre Familien und schließlich für die Gesellschaft im Allgemeinen. Hunger schwächt den Menschen und macht ihn empfänglich für Krankheiten: Tuberkulose und andere Infektionskrankheiten sind deshalb auf dem Vormarsch zurzeit!

Das heißt, es gibt mehr Kranke als früher… Wie ist es denn um das griechische Gesundheitssystem bestellt?

Athanassios Giannis: Unsere Krankenhäuser sind inzwischen permanent unterbesetzt, es fehlen Ärzte und Krankenschwestern und Medikamente und Verbandsmaterial sind längst Mangelware. Patienten müssen daher private Krankenschwestern engagieren, um in den Krankenhäusern überhaupt noch eine Grundversorgung erhalten zu können. Hier springen dann sehr häufig Familienmitglieder ein.

Und einen funktionierenden Rettungsdienst, wie man das in Deutschland kennt, gibt es im ganzen Land nicht mehr. Das Personal wurde schlicht entlassen. Das hat häufig tragische Konsequenzen, die kaum mehr vorstellbar sind: Die Menschen sterben einfach in der Not, Hilfe gibt es kaum mehr.