"In der Ukraine sehe ich in der nächsten Zeit keine Zukunft"

Der nächstmögliche Westen: Ukrainer in Polen

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Ein wenig ukrainische Akkordeonmusik dringt in den Übungsraum des "Ukrainischen Hauses" mit den rund zwanzig Eleven. Dmytro F. liest seine Hausaufgaben in polnischer Grammatik vor. Eigentlich studiert der Ukrainer hier in Warschau Betriebswirtschaft, doch sein Polnisch will er weiterhin verbessern und nutzt so den durch Stiftungen finanzierten Sprachunterricht. "In der Ukraine sehe ich in der nächsten Zeit keine Zukunft." Noch in diesem Jahr will er seinen Abschluss schaffen.

Polen ist für die Ukraine der "erreichbare Westen", die Sprache ist verwandt und die Lebenshaltungskosten sind nicht so hoch. Das Land gilt als die erste Möglichkeit, dem krisengeschüttelten Land zu entgehen, das mittlerweile anderthalb Millionen Binnenflüchtlinge bewältigen muss. Insgesamt 23.000 Ukrainer studieren in Polen, wie die polnischen Behörden Anfang April vermeldeten. Dies ist die Hälfte aller ausländischen Studenten an der Weichsel.

Dmytro F. im "Ukrainischen Haus" in Warschau, wo er Polnisch lernt. Bild: J. Mattern

Doch der 22-Jährige aus dem Westen der Ukraine kennt auch viele Landsleute, die bereits zurück mussten. Denn die Hrwyna, die ukrainische Währung, hat in den letzten Monaten dramatisch an Wert verloren. In einem öffentlichen Brief an die polnische Premierministerin Ewa Kopacz haben darum ukrainische Studenten aus dem ostpolnischen Rzeszow dafür appelliert, eine Form der staatlichen Unterstützung zu bekommen - "um diese schwierige Zeit zu überbrücken und um sich später für die Ukraine einsetzen zu können". Schließlich werden die meisten ukrainischen Studenten von ihren Eltern unterstützt. Den Männern drohen bei ihrer Rückkehr zudem die Rekrutierung und der Einsatz an der Front in der Ost-Ukraine.

Auch Dmytro F. hat unterschieben, auch wenn er selbst den Abschluss noch schaffen wird. Er studiert an einer Privatuni - wie fast alle Ukrainer, denn dies ist in Polen billiger als eine staatliche, da das Land ausländische Studenten kräftig zur Kasse bittet. "Eine Arbeitsgenehmigung bekommen die wenigsten", so der 22-Jährige. Sie sei mit einem schwierigen Behördengang verbunden, der derzeit reformiert werden soll. Rund 1.500 polnische Zloty ( 370 Euro ) muss der Student aus der Oblast Tarnopol monatlich aufwenden. Den polnischen Staat, so betont er, belaste er dabei nicht.

Dmytro F. will sich zur Zeit nicht mehr mit der Politik in der Ukraine auseinandersetzen, sonst könne er nicht mehr lernen. Schon vor dem Abschluss hat er einen Job bekommen - er wird in einem kleinen Unternehmen als Berater versuchen, den Start ukrainischer Firmen in Polen zu erleichtern.

Bislang hat die polnische Regierung auf die Anfrage zur Unterstützung der ukrainischen Studenten nicht reagiert. Denn unumstritten ist die Bitte um nicht. Vor allem in ostpolnischen Universitätsstädten wie in Lublin oder in Rzeszow hat die große Anzahl an Ukrainern bereits viele Negativreaktionen unter polnischen Studenten hervorgerufen, forciert durch die geringen Chancen auf einen guten Job nach dem Abschluss. Die Foren der Regionalmedien sind voller Empörung über die "Dreistigkeit" der Ukrainer.

Auch einige ukrainische Studenten, die sich in Polen mit der UPA-Flagge fotografieren ließen, sorgten in den Sozialen Medien Polens für entsprechenden Aufruhr. Die ukrainisch-polnischen Beziehungen sind historisch belastet, wenn es auch in jüngster Zeit Versöhnungsgesten gab. Die ukrainische Partisanenbewegung "UPA" griff 1943 in dem noch von deutschen Truppen besetzten Land polnische Dörfer in der Westukraine an und ermordete tausende Zivilisten. Die polnische Partisanenorganisation "Heimatarmee" schlug zurück. 1947 wurde die ukrainische Bevölkerung im neuen polnischen Staat aus ihren Siedlungsgebieten im Südosten in den Norden Polens zwangsdeportiert

Konkrete Zahlen über die Anzahl der Ukrainer in Polen gibt es nicht. Doch sie wächst. Ukrainer finden sich überwiegend in den großen Städten, da es auf dem polnischen Land nichts zu verdienen gibt. Lange blickten die Polen auf die Ukrainer wie die Deutschen auf die Polen - als billige Arbeitskräfte, mit denen man eine schwierige Geschichte teilt.

Mit den Majdan-Prostesten stiegen die Ukrainer im polnischen Ansehen, wenn es auch bei den Protestkundgebungen auf der Straße gegen Janukowitsch wenig polnische Beteiligung gab.

Nach einer Umfrage empfinden 40 Prozent der Polen Sympathie für die Ukrainer, allerdings glauben auch 35 Prozent der Befragten, dass von dem Nachbarvolk eine Gefährdung ausgehe. Eine andere Umfrage fand heraus, dass Polen auf die Ukrainer am emotionalsten reagieren, positiv wie negativ.

Dabei scheinen die Ukrainer in Polen eher unsichtbar. Diejenigen, die legal arbeiten, sind sprachlich und auch sonst assimiliert, ihre Zahl wird auf über 40.000 taxiert. Diejenigen, die illegal beschäftigt sind, wollen nicht weiter auffallen. Schätzungen gehen von über einer Million saisonal und schwarz arbeitenden Ukrainern aus.

Zunehmend werden Ukrainerinnen auch in der polnischen Pflege gebraucht - ähnlich wie Polinnen in Deutschland. Es gibt nun verschiedenen Initiativen, den Aufenhaltsstatus und die Arbeitsbewilligung für Ukrainer und weitere Osteuropäer zu liberalisieren. Offiziell als Flüchtling kommen die wenigsten, in Polen gibt es kaum Chance, einen solchen Status zu erhalten.