Das gefährliche Spiel der türkischen Regierung

Die von der Türkei im Verein mit den USA geplante Zone zwischen den von Kurden kontrollierten Gebieten. Bild: DuckZz/GFDL

Die USA versuchen in der Region, eine Fehleinschätzung durch eine weitere zu kompensieren, Europa und Rest-Nato schauen weg, obwohl die Situation nur noch schlimmer zu werden droht

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Washington hat mit der Türkei einen Deal beschlossen, der zeigt, wie ungehemmt der türkische Präsident Erdogan seine auch der (relativen) Niederlage im Wahlkampf geschuldete Strategie verfolgen kann. Die USA dulden die Angriffe auf Kurden im Nordirak und auch in Syrien, mit denen bislang mehr oder weniger offen kooperiert wurde, weil sie einen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung und Eindämmung des Islamischen Staats in Syrien und dem Irak waren. Gerade erst meldet die YPG, sie habe den Islamischen Staat nach langen Kämpfen aus der Stadt Hasakah vollständig vertrieben. Europa schaut dem Spiel tatenlos zu, dessen Ergebnis die Situation in der Region - und auch in der Türkei selbst - weiter verschlechtern und zu neuen Flüchtlingsströmen führen wird. Damit erweist sich Europa wieder einmal als Vasall der amerikanischen Interessen, unfähig zu einer eigenständigen Politik.

Zwischen Washington und Ankara war vereinbart worden, den IS von dem Gebiet an der türkischen Grenze gemeinsam zu vertreiben und dort einen Korridor zu errichten. Was auf den ersten Blick noch als Unterstützung des Kampfs der von den USA geleiteten Koalition gegen den IS erscheint, da damit die poröse Grenze geschlossen werden würde, über die sich der IS mit Nachschub auch an Waffen und Kampfbereiten versorgt, entlarvt sich jedoch als doppeltes Spiel.

Der geplante Korridor, schon lange von Ankara als Flugverbotszone gefordert, ist nämlich just das Territorium, das die von syrischen Kurden kontrollierten Gebiete Rojava und Afrin noch trennt. Mit den Erfolgen der bislang von den USA unterstützen Kurden hätte die Möglichkeit bestanden, dass diese den IS vertreiben und damit ein zusammenhängendes Territorium erlangen, das sich an fast der ganzen Grenze zur Türkei entlangzieht und bis zu den kurdischen Gebieten im Nordirak reicht. Die IS-freie Zone sollte dann von den "gemäßigten" syrischen Rebellen, nicht Kurden, kontrolliert werden. Damit würde der Schritt zu einem kurdischen Staat, der sich aus Syrien und dem Irak abspaltet, noch wahrscheinlicher.

Die Türkei, die lange dem Treiben des IS zugeschaut hat, auch wenn das Land um die 1,8 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen hat, reagierte schnell, als sich die Gelegenheit mit dem Anschlag ausgerechnet auf Kurden in Suruc bot, gegen die PKK und die mit dieser verbundenen PYD bzw. der YPD als deren militärischem Arm in Syrien einzuschreiten. Nach Angaben aus Rojava haben türkische Panzer und Flugzeuge Stellungen der YPD in den letzten Tagen angegriffen.

Nach der Zahl der Bombardierungen ist die Bekämpfung der Kurden offenbar weiterhin wichtiger als die des IS. Die USA, die mit dem Deal mit Erdogan auch wieder Angriffe von türkischen Militärflughäfen starten, akzeptiert nicht nur den Krieg gegen die Kurden, der einen der gefährlichsten Gegner des IS schwächt, sondern auch den von der Türkei verlangten Sturz des Assad-Regimes. Die USA hatten für den eigentlich völkerrechtswidrigen Kampf gegen den IS in Syrien die Duldung von Assad in Kauf genommen, der seinerseits die Kurden tolerierte, aber die Gelegenheit nutzte, vereinzelt gegen den IS, vor allem gegen andere bewaffnete syrische Gruppen vorzugehen.

YPJ-Kämpferin. Bild: YPG

Strategische Schieflage

Wie schief die US-Strategen mitsamt ihren mächtigen Geheimdiensten liegen, zeigt sich auch daran, dass bislang nur 56 "gemäßigte" Kämpfer ausgebildet und bewaffnet wurden. Kaum auf syrisches Gebiet vorgedrungen wurde die Einheit, zusammen mit anderen Angehörigen der Division 30, nicht von Truppen Assads oder dem IS angegriffen, sondern von der al-Qaida-Gruppe al-Nusra, die man irgendwie nicht als gefährlich betrachtete. Zur Pentagon geführten Division 30 wurden einige kleinere Gruppen von syrischen Aufständischen zusammengeschlossen, die mit den extra Ausgebildeten eine größere Schlagkraft erhalten sollte.

Damit hatte man nicht gerechnet, offenbar ging man davon aus, dass auch weniger gemäßigte islamistische Gruppen im Kampf gegen Assad und den IS die von den Amerikanern ausgebildeten und befehligten Kämpfer als Verbündete betrachten würden. Al-Nusra kämpft, auch nach dem Schisma mit dem IS, nach wie vor um eigenen Einfluss und machte in einer Erklärung deutlich, dass die Division 30 vernichtet werden soll, bevor sie überhaupt Fuß fassen kann. Oberst Patrick S. Ryder, ein Pentagon-Sprecher, meinte gleichwohl, man mache Fortschritte und gab der Hoffnung Ausdruck, dass durch den Angriff und die Gefangennahme von Kämpfern die Syrer nicht davon abgehalten würden.

Die schon zuvor mangelnde Bereitschaft dürfte noch verstärkt werden, immer deutlicher wird, dass die USA eine Fehlschätzung durch eine weitere kompensieren, jetzt also durch eine Kooperation mit der Türkei, die einen Korridor an seiner Grenze unter Kontrolle bringen will, was den IS zwar schwächt, aber eben vor allem gegen die Kurden gerichtet ist. Allerdings unterstützt Washington weiterhin neben den Peschmerga auch die syrische, mit der PKK verbundene YPG in ihrem Kampf gegen den IS, will aber ebenso wie die Türkei die Etablierung eins kurdischen Staats verhindern.

Erdogan im Kampf gegen den IS, die Kurden und die Atheisten

Erdogan strebt Neuwahlen an, da bislang keine Koalition zusammenkam, und will möglichst die bei den Wahlen überraschend stark gewordene HDP, die seine Präsidialträume verhindert hat, kriminalisieren, den Friedensprozess mit der PKK beenden und mit dem Krieg und der wachsenden Terrorgefahr die nationale Einheit zum Machterhalt erzwingen. Kaum nachvollziehbar, dass Washington bereit ist, das waghalsige Spiel, das die Region weiter in den Abgrund treibt, mitzuspielen. Das US-Außenministerium betont das Recht auf Selbstverteidigung der Türkei, was offenbar Angriffe auf den Nordirak einschließt, und will zwischen der Mitwirkung der Türkei bei der Anti-IS-Koalition und den Angriffen auf die PKK keinen Zusammenhang sehen. Einseitig wird die PKK aufgefordert, zum Friedensprozess zurückzukehren, die PKK forciert indes die Angriffe auf Polizisten und Soldaten.

Am Samstag sollen bei einem Luftangriff auf das Dorf Zerkel im Nordirak auch Zivilisten getötet worden sein (Kurden werfen Türkei Dorfbombardement vor). Die türkische Regierung streitet dies ab. Bei den Luftangriffen seien bislang mehr als 290 PKK-Kämpfer getötet worden, so die türkische Regierung. Die PKK oder eine andere Gruppe hat am Sonntag indes zu einem Selbstmordanschlag in der Türkei gegriffen. Ein mit Sprengstoff beladener Traktor wurde von einem Selbstmordattentäter in eine Polizeistation in Dogubayezit in der Nähe der iranischen Grenze gefahren. Bei der Explosion starben neben dem Attentäter zwei Polizisten, mehr als 30 wurden verletzt.

Selahattin Demirtas, der Vorsitzende der HDP, den die türkische Regierung der Zusammenarbeit mit den Terroristen bezichtigt und dem sie deswegen seine Immunität entziehen will, forderte gestern die türkische Regierung und die PKK zur Einstellung der Angriffe und zur Fortsetzung der Gespräche auf.

Erdogan versuchte sein Machtstreben kürzlich bei seinem Besuch in Indonesien auch als Schutz des Islam gegen seine Widersacher darzustellen. Die Angriffe gegen die PKK und deren Unterstützer in der Türkei haben natürlich nichts mit ihm und seiner AKP zu tun:

Wir haben nur eine Sorge. Das ist der Islam, der Islam und der Islam.

Der Kampf gegen die PKK wird von ihm nicht nur als einer gegen Terroristen bezeichnet, es geht ihm dabei auch um die Bedrohung durch den Atheismus, den die PKK und ihr Führer Öcalan vertreten.

Wir können unmöglich die Überschattung des Islam akzeptieren. Der Islam wird durch all das, was jetzt getan wird, beschädigt. Wir müssen alle unseren Willen zeigen, den Terrorismus kategorisch abzulehnen, ohne auf seine Grundlage oder Identität zu schauen.

Die komplizierte Rhetorik wird auch deshalb notwendig, weil Erdogan die PKK und den IS mitsamt der HDP und anderen oppositionellen Kräften in einen Hut stecken muss. Einige Menschen, so wird er von Hürriyet zitiert, die verschiedenen Sekten angehören, würden sogar "atheistische und terroristische Organisationen" verteidigen, die damit identifiziert werden. Das Sektierertum sei das primäre Problem, aufgrund dessen der Islam an einem Wendepunkt stehe. Der IS sei eine Terrororganisation und würde das Ansehen des Islam beschädigen. Man habe den IS nie unterstützt, versicherte er, das würden nur "dunkle Mächte" behaupten.