Lettland: Flüchtlinge unerwünscht

Demonstration der Nationalen Allianz. Bild: Facebookseite der NA

Politiker der mitregierenden Nationalen Allianz wollen gegen die Einquartierung von Flüchtlingen vor dem Verfassungsgericht klagen

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Am 4.8.2015 demonstrierte die mitregierende Nationale Allianz (NA) mit anderen rechten Gruppen vor dem lettischen Ministerkabinett in Riga. Das Webportal delfi.lv schätzte etwa 1000 Teilnehmer, lsm.lv nur etwas über 200. Das ist in der kleinen Baltenrepublik bereits eine medienwirksame Größe.

Mit Rufen wie "Lettland ist unser Land", "Die Regierung begeht Verrat", "Lettland ist nicht die EU, Lettland ist Lettland", "Stopp Islam", "Kein Genozid am lettischen Volk" oder dem Demo-Klassiker "Löst die Saeima auf!" protestierten die überwiegend älteren Demonstranten mit lettischen Fahnen vor dem Portal der Regierung.

Die Regierung hatte nach langem Zaudern Anfang Juli beschlossen, in den nächsten beiden Jahren "freiwillig" 250 Flüchtlinge aus Südeuropa aufzunehmen. Gemäß den EU-Quotierungsplänen, gegen die sich Lettland wie andere osteuropäische Mitgliedstaaten sperrt, müssten die Letten mehr als 700 Asylsuchenden Zuflucht gewähren.

Die Nationalkonservativen und Rechtsradikalen weigern sich, wollen die "besondere Situation" ihres Landes berücksichtigt wissen. Damit meinen sie den Anteil Russischstämmiger und anderer ethnischer Minderheiten, die zur Sowjetzeit in lettischen Städten angesiedelt wurden. Diese werden von der lettischen Rechten immer noch als "Fremde" und "Okkupanten" diffamiert. Die NA will die Aufnahme von Flüchtlingen generell verhindern. Ihre Antiflüchtlingskampagne verursacht Spannungen in der Regierungskoalition.

Die sowjetische Fremdherrschaft wirkt nach

Rihards Kols, NA-Abgeordneter der Saeima, hatte bereits in einer Parlamentsdebatte im Januar die spezielle Sicht seiner Fraktion dargelegt. Das schrumpfende Zwei-Millionen-Einwohnerland müsse keine Flüchtlinge aufnehmen, weil es mit 260.000 Nichtbürgern jegliche EU-Quote übererfülle.

Nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991 hatte Lettland jenen die Staatsbürgerschaft verweigert, die nach der sowjetischen Okkupation im Juni 1940 ins Land gekommen waren. Stalin und seine Nachfolger ließen Bürger aus anderen Sowjetrepubliken als Fabrikarbeiter in lettischen Städten ansiedeln. Bis zum Zusammenbruch der UdSSR sank der lettische Anteil an der Gesamtbevölkerung der hiesigen SSR auf 52 Prozent. Die lettische Mehrheit musste die Russifizierungspolitik ertragen, die Sprache Lettisch wurde aus dem Arbeitsleben und dem öffentlichen Raum weitgehend verdrängt.

Der aktuelle Nationalismus lässt sich als Reaktion auf das erklären, was die Letten unter jahrzehntelanger sowjetischer Fremdherrschaft erlebt hatten. Nun ist Lettland seit einem Vierteljahrhundert wieder eine souveräne Republik. In Riga und anderen Städten leben längst Russischstämmige, die in Lettland geboren wurden. Doch statt deren Integration voranzutreiben, agitieren nationalkonservative Kreise gegen Überfremdung, träumen wie ihr Vorbild Kārlis Ulmanis, der Staatsgründer, der sich 1934 zum nationalistischen Diktator erhob, von einem monoethnischen Land, das Lettland nie war.