Bundeswehr bildet im Irak ezidisches Peschmerga-Bataillon aus

Ein Meilenstein in der Befreiung Shengals oder ein Versuch, die Jesiden zu vereinahmen?

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Die Bombardements des türkischen Militärs auf Stellungen der PKK im Nordirak und im Südosten der Türkei beherrschten vor kurzem die Berichterstattung. Immer deutlicher kam zutage, dass Staatspräsident Erdogan und die AKP nicht dem IS den Kampf angesagt haben, sondern der PKK und der linken türkisch-kurdischen Oppositionsbewegung - mit der Unterstützung der NATO und der Bundesrepublik. Ungeachtet dieser brisanten Situation gehen die Angriffe des IS auf Shengal weiter.

Am Montag, den 27.7.2015, konnten ezidische (jesidische) Widerstandskämpfer, YPG und Peschmerga gemeinsam einen Angriff auf ein Grenzdorf im Norden Shengals erfolgreich abwehren.

Am vergangenen Montag, den 3.8, jährte sich der Genozid an den Eziden zum ersten Mal. Bundesweit fanden viele Gedenkfeiern statt. Die Angehörigen der ezidischen Glaubensgemeinschaft haben in den letzten 12 Monaten das 74. Massaker ihrer Geschichte erlebt: Männer, Frauen und Kinder wurden vom IS ermordet, versklavt oder verkauft, mit dem Ziel der Auslöschung des ezidischen Glaubens und der Konversion oder Ermordung seiner Anhänger. Damit handelt es sich nach internationalem Recht um einen Genozid.

Geflüchtete Eziden auf dem Berg Sindjar mit einem USAID-Vertreter, 13. August 2014. Foto: USAID/gemeinfrei

Ein Jahr nach Beginn des Mordens und des tatenlosen Zusehens der Bundesregierung erscheinen nun Meldungen über die Ausbildung ezidischer Einheiten durch die Bundeswehr. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wer diese Unterstützung im Shengal (in der deutschen Presse auch oft als Sinjar bezeichnet) erhält. Es ist momentan sehr schwierig, genaue Informationen aus der Region zu erhalten.

Nach internationalem Recht, wie auch aufgrund der Selbstdarstellung der Auszubildenden, scheint es sich dabei um ezidische Peschmerga-Einheiten unter dem Kommando des Peschmerga-Ministeriums der südkurdischen/nordirakischen Regionalregierung von Präsident Masud Barsanî von der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) zu handeln.

Ausbildung im "Kurdistan Training Coordination Center" und Konflikte zwischen Eziden und Peshmerga

Nun ist die PDK eine Kraft, die in den Augen vieler Eziden jegliche Legitimität verloren hat. Nach Angaben des Volksratssprechers von Shengal, Seid Hesin, wird die große Mehrheit der Verteidigungskräfte von Shengal, welche sich in der YBȘ organisieren, nicht mit einbezogen; möglicherweise deshalb, weil sich diese Kräfte am multiethnischen und multireligiösen, basisdemokratischen Modell der "Demokratischen Autonomie" von Rojava orientieren.

Durch die Unterstützung der ezidischen Peschmerga werden dagegen die feudalen Kräfte der KDP unterstützt und gegen fortschrittliche Kräfte ausgespielt.1 Zusammen mit Soldaten der multinationalen Koalition werden angeblich im "Kurdistan Training Coordination Center" 250 Eziden ausgebildet. Sie sollen der "Sinjar-Brigade der Peschmerga" unterstehen.

Zu diesem Bataillon sollen vier Kampfkompanien und eine Stabs- und Versorgungskompanie gehören. Auf der Internetseite der Bundeswehr wird ein ezidischer Offizier zitiert, der erklärt:

Wir fühlen uns als Peschmerga und wir sind Peschmerga im gemeinsamen Kampf gegen das Terrorregime des IS - und wir werden siegen!

Allerdings gibt es keinen Quellenhinweis, geschweige denn eine Erklärung darüber, aus welchen ezidischen Kämpfern dieses Bataillon angesichts der verschiedenen existierenden Einheiten rekrutiert wurde. Diese Information wäre wichtig, da von Menschenrechtsorganisationen sowohl den Peschmerga als auch der Regionalregierung schwere Menschenrechtsverletzungen von Folter über "ethnische Säuberung" bis hin zu politischen Morden vorgeworfen werden.

Es ist auch wichtig, weil der größte Teil der ezidischen Bevölkerung den Peschmerga sehr skeptisch gegenübersteht, nicht zuletzt deshalb, weil sie beim Überfall des IS auf den Shengal im August 2014 die Eziden alleine gelassen haben. Die Verteidigung des Shengal haben anfänglich nicht die Peschmerga übernommen, sondern die Guerilla der PKK (HPG) und die YPG/YPJ. Diese hatten einen Korridor nach Rojava freigekämpft, durch den die Eziden flüchten konnten. Dies ist durch zahlreiche Presseberichte und Filmdokumente ausführlich belegt.

Es gibt deutliche Indizien dafür, dass es sich bei den ezidischen Peschmerga um Überreste der Verteidigungskräfte des Shengal, HPȘ handelt, welche vor seiner zeitweiligen Festnahme (und Erpressung?!) durch die PDK, von den deutschen Staatsbürgern Haydar Sheisho und Qasim Sheisho geführt worden waren. Vor seiner Freilassung durch die KDP Regierung hatte Haydar Sheisho, der Anführer der ezidischen Verteidigungskräfte des Shengal, HPȘ, zwar einerseits das Fortbestehen der Einheiten betont, aber andererseits den Angehörigen seiner Miliz die Möglichkeit eingeräumt, sich dem Peschmerga-Ministerium anzugliedern.

Nach Angaben des Volksratssprechers von Shengal, Seid Hesin, löste sich nach der Sheiso-Festnahme die HPȘ praktisch auf. Ihre Mitglieder gingen nach Europa zurück oder unterstellten sich dem Peschmerga-Ministerium. Auch nach Angaben von Ezidipress handelt es sich bei den ausgebildeten Peschmerga u.a. um Personen unter der Führung von Qasim Sheisho.

Pikant ist dies auch deshalb, weil in Europa eine Kriminalisierungswelle gegen "Internationalisten" begonnen hat, die den Kampf gegen den IS in den Reihen der YPG/YPJ führen. Sowohl in Spanien, als auch in England kam es deswegen zu mehreren Festnahmen nach dem Antiterrorgesetz. Man verfährt nämlich nach der Gleichung die YPG/YPJ kooperiere mit der PKK und sei deswegen eine Terrororganisation auf der gleichen Stufe wie der IS (Sind YPG-Kämpfer gegen den IS Terroristen?).

Selektive Anwendung der Antiterrorgesetzgebung

Die Bundespolizei in Deutschland geht sogar noch weiter: Die Aktivistin Sofie K. von "Young Struggle", die an einem Krankenhaus in Kobanî Aufbauarbeit leisten wollte, wurde am Flughafen in Düsseldorf festgehalten, von Staatsbediensteten stundenlang verhört und bedroht. Anschließend wurde ihr der Pass entzogen und sie erhielt ein Ausreiseverbot.

In gewohnter bundesdeutscher Tradition werden somit die angeblich gegen Dschihadisten verabschiedeten Gesetze direkt gegen linke, zivile Oppositionelle angewandt. Würde man diese Kriterien, welche auf linke Aktivisten angewandt werden, auch auf die Peschmerga im Shengal anwenden, die auf eine enge Zusammenarbeit mit HPG und YBȘ angewiesen sind, dann müssten diese ebenfalls als Terroristen klassifiziert werden - und ihre Ausbildung würde formal eine Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland nach § 129b darstellen.

Das Gleiche gilt für die Peschmerga an vielen anderen Orten in Südkurdistan. Präsident Barsanî war am 14.08.2014 sogar gezwungen, Kommandanten der PKK Guerilla HPG in Maxmur zu treffen und ihnen dafür zu danken, dass sie den Vormarsch des IS auf Erbil gestoppt hatten.

Die Terrorargumentation wird, wie in der Geschichte der Antiterrorgesetzgebung angelegt, aus politischen Interessen sehr selektiv angewendet. Die "Guten", die vom Westen und der Regionalmacht Türkei abhängigen Kurden unter der PDK Führung, bekommen Waffen, die "Bösen", die linken Kurden, die für eine basisdemokratische Selbstverwaltung und eine antikapitalistische Alternative einstehen, bekommen gar nichts. Die Vorbedingung für die Ausbildung der ezidischen Einheiten unter Qasim Sheisho und anderer Milizen war wahrscheinlich ihre Unterordnung unter das Peschmerga-Ministerium.

Ziel der selektiven Unterstützung ist es einerseits durch waffentechnischen Fortschritt den Ruf der Peschmerga in Shengal wiederherzustellen. Andererseits sollen alternative Selbstverwaltungsmodelle im Shengal verhindert werden. Schließlich liegt das Übergreifen des Modells der Demokratischen Autonomie in Rojava (Das Modell Rojava) weder im Interesse des Westens, noch der Regionalmächte, noch der PDK. Anscheinend nimmt man dafür auch gerne in Kauf, dass noch mehr Eziden nach Europa fliehen, weil sie angesichts ihrer negativen Erfahrungen mit den KDP-Strukturen kein Vertrauen mehr haben, sich selbst im Shengal verteidigen zu können.

Schon jetzt liegt die Hauptlast der Kämpfe mit dem IS bei den Einheiten der YBȘ und der Guerilla der PKK (HPG). Die von der Bundeswehr ausgebildeten Peschmerga-Einheiten scheinen bis jetzt eher virtuell zu existieren und haben die Sollstärke von 6.000 Kämpfern bei Weitem nicht erreicht. Jedenfalls bleiben die eigentlichen Befreier des Shengal-Gebirges, die nordsyrische YPG/YPJ, die HPG (PKK-Einheiten) und die unabhängige ezidische Volksverteidigungsarmee YPŞ bei der Ausbildung außen vor.

Ein politisches Spiel der Bundesregierung und der Peschmerga-Kommandos

Am 03.07.15 nahmen die Verteidigungskräfte YBȘ und YPJ-Ș (Frauenverteidigungskräfte des Shengal) Stellung zu diesem Projekt der Bundesregierung und des Peschmerga-Kommandos, ein neues ezidisches Heer aufzubauen und erklärten:

Auf dem Șhengal gibt es schon eine Verteidigungskraft, welche aus Eziden besteht. Die gemeinsamen Pläne von Deutschland und dem Peschmerga-Kommando stellen ein politisches Spiel dar.

Der YBȘ-Kämpfer Sîpan Êzîdxan erklärte:

Ich bin schon lange bei der YBȘ. Wir sind jetzt sehr weit an den Feind vorgerückt und wir haben viele Gefallene in diesem Kampf. Jetzt erst kommen sie und wollen eine andere aus Eziden bestehende Kraft aufbauen. Wir sind schon eine Kraft hier und diese reicht aus. Viele sagen die einzige Verteidigungskraft von Eziden sind YBȘ und YPJ-Ș. Sie berichten, dass die Eziden von 2003 bis heute betrogen worden sind. Wenn Eziden aus anderen Städten und Ländern den Șengal verteidigen wollen, sollen sie kommen und sich der YBȘ und YPJ-Ș anschließen. Wir kämpfen jetzt an vorderster Front. Wir werden keine andere Kraft akzeptieren.

Diese Ablehnung anderer Kräfte auf dem Shengal hat den Hintergrund, dass YBȘ und YPJ-Ș keine Parteiorganisationen sind, sondern dem Volksrat von Shengal und damit demokratischer Kontrolle unterstellt sind. In der kurdischen Autonomieregion der KDP gibt es dagegen nur Parteimilizen, einen zwischen der PDK und der PUK aufgeteilten Sicherheitsapparat und zwei verschiedene Peschmerga-Armeen mit einer latenten Bürgerkriegsgefahr. Der kurdische Journalist Șerwan Șerwanî beschreibt diese Situation gegenüber dem Deutschlandradio folgendermaßen:

Die Bezeichnung "Peschmerga" wird in Kurdistan wie ein Inbegriff des Patriotismus verwendet. Ich habe lange über diese Truppen recherchiert. Nach meinen Informationen kann man nur einen kleinen Teil der Peschmerga tatsächlich als patriotisch motiviert ansehen. Die größten Gruppen unterstehen den politischen Parteien. Der Kurdisch Demokratischen Partei KDP von Präsident Barzani und der Patriotischen Union Kurdistans PUK von Jalal Talabani. Und selbst innerhalb der KDP-Partei-Milizen gibt es wieder Unterverbände, die einzelnen Personen unterstehen. Etwa Barzanis Neffen Necirvan Barzani. Eine andere Truppe gehört Barzanis Sohn, wieder eine andere Barzani höchstpersönlich. Die Einheit Nummer 70 ist Teil der PUK, der Patriotischen Union Kurdistans, und die Einheit 80 Teil der KDP, der Kurdisch Demokratischen Partei.

Ähnliche Entwicklungen will man in Rojava und im Shengal-Gebiet verhindern.