Ermittlungen gegen Netzpolitik.org dienen objektiv der Einschüchterung von Journalisten und Informanten

Bundesrichter Dieter Deiseroth über das Vorgehen des Generalbundesanwalts und Whistleblowing

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Es kann "kein rechtliches Erfordernis geben, etwas gegen das Recht zu sichern (z.B. durch Geheimhaltung), was nach der verfassungsmäßigen Ordnung Unrecht ist." So sieht es Dieter Deiseroth, Richter am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, der im Telepolis-Interview auf die Bedeutung von Whistleblowern verweist, die geheime Unterlagen von Behörden der Öffentlichkeit zugänglich machen, um Unrecht aufzudecken.

Bei den geheimen Plänen zur Überwachung des Internets, über die Netzpolitik.org berichtete, handelt es sich aus Sicht von Deiseroth "um schwerwiegende Eingriffe unseres Inlands-Geheimdienstes in wichtige Grundrechte". Im Interview verdeutlicht er, dass ein großes öffentliches Interesse daran besteht zu erfahren, was es mit diesen Plänen auf sich hat.

Der Vorwurf des Landesverrats gegen die beiden Journalisten von Netzpolitik.org ist für Deiseroth "nach der bisherigen Informationslage in keiner Weise nachvollziehbar." Das Ermittlungsverfahren "hat objektiv die Wirkung, investigative Journalisten und unbequeme Kritiker sowie ihre Informanten einzuschüchtern".

Herr Deiseroth, Sie setzen sich seit Jahren dafür ein, dass Whistleblower und das Whistleblowing rechtlich abgesichert werden. Was halten Sie im Hinblick auf das Whistleblowing von den Ermittlungen gegen Netzpolitik.org?

Dieter Deiseroth: Die beiden Journalisten Andre Meister und Markus Beckedahl vom Online-Portal "Netzpolitik.org", gegen die sich das von Generalbundesanwalt Range eingeleitete Ermittlungsverfahren wegen des angeblichen Verdachts von Landesverrat richtet, waren keine Whistleblower. Sie waren lediglich die Boten, die Übermittler der Enthüllungen, die offenbar auf Whistleblower zurückgehen.

Beim Whistleblowing geht es um das Aufdecken von Missständen und Fehlentwicklungen z.B. in einer Behörde, einem Unternehmen oder einer anderen Organisation durch Beschäftigte oder andere Insider. Diese Insider wollen auf Gefahren oder erhebliche Risiken für Leben, Gesundheit, Demokratie, das friedliche Zusammenleben von Menschen oder andere gewichtige Rechtsgüter hinweisen, um für Abhilfe zu sorgen.

Whistleblower waren hier diejenigen Insider aus dem Bereich des Bundesamtes für Verfassungsschutz oder einer anderen staatlichen Behörde, die den Journalisten die dann von Netzpolitik.org publizierten Daten und Informationen zugespielt haben. Diese Whistleblower waren offenbar der Auffassung, dass die Öffentlichkeit über bestimmte Vorgänge und Fehlentwicklungen im Bundesamt für Verfassungsschutz informiert werden müsse.

Um welche Missstände und Fehlentwicklungen geht es?

Dieter Deiseroth: Nach den Medienberichten bezieht sich das von der Bundesanwaltschaft eingeleitete strafrechtliche Ermittlungsverfahren auf zwei Blog-Publikationen: Am 25. Februar 2015 um 10:40 Uhr wurde der Artikel mit der Überschrift "Geheimer Geldregen: Verfassungsschutz arbeitet an 'Massenauswertung von Internetinhalten' (Updates)" veröffentlicht. Anschließend erschien am 15. April 2015 um 9:05 Uhr ein Beitrag mit dem Titel "Geheime Referatsgruppe: Wir präsentieren die neue Verfassungsschutz-Einheit zum Ausbau der Internet-Überwachung", der seit dem 15. April 2015 um 20:10 Uhr auch in englischer Sprache abrufbar ist.

Auf der Grundlage von Insider-Informationen setzten die Netzpolitik.org-Journalisten mit diesen beiden Artikeln also die Öffentlichkeit über Vorgänge bei der geplanten oder praktizierten geheimdienstlichen Internet-Überwachung in Kenntnis.

Die Veröffentlichung der beiden Artikel ist durch die Meinungs- und Pressefreiheit grundrechtlich geschützt

Also es geht um Vorgänge, die alles andere als unproblematisch sind.

Dieter Deiseroth: Richtig, es geht um schwerwiegende Eingriffe unseres Inlands-Geheimdienstes in wichtige Grundrechte. Dies betrifft das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 u. Art. 1 GG), also die Befugnis des Einzelnen, auch wenn er sich im Internet bewegt, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Ferner geht es um Eingriffe in das Grundrecht auf Wahrung der Vertraulichkeit und der Integrität informationstechnischer Systeme (Art. 2 Abs. 1 u. Art. 1 Abs. 1 GG).

Es kann unter Umständen auch um Verletzungen des Grundrechts auf die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art.13 GG) gehen, wenn durch den Inlandsgeheimdienst in dieses mit akustischer und optischer Wohnraumüberwachung oder mit der Messung von elektromagnetischer Abstrahlung, die mit der Nutzung von IT-Systemen verbunden ist, eingegriffen wird. Es ist von großem öffentlichem Interesse, dass insbesondere investigative Journalisten und unsere Parlamentarier sich die konkreten Rechtfertigungen für diese schweren Grundrechtseingriffe näher ansehen und dass diese öffentlich diskutiert werden.