Die Rückkehr des "Schmutzigen Krieges"

In der Türkei scheinen die zaghaften demokratischen Fortschritte der vergangenen Dekade im Gefolge der massiven Militäroperation gegen die Kurden rasch zu erodieren

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Die Türkei befindet sich auf Zeitreise. Das Land scheint in die finstere Epoche der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts zurückzufallen, als Zehntausende von Menschen zu Opfern des "Schmutzigen Krieges" wurden, den der türkische Staatsapparat gegen die kurdische Unabhängigkeitsbewegung und die türkische Linke führte.

Auf ihrer Internetpräsenz erinnerte die Die Zeit im Juni 2009 an diesen mörderischen türkischen Staatsterror dem nahezu ausschließlich kurdische Zivilisten zum Opfer fielen:

Ein Land, in dem die Armee Krieg gegen die eigene Bevölkerung führte. Ein Land, wo im "Kampf gegen den Terror" der kurdischen PKK-Guerilla Tausende Dörfer ausgelöscht, Zehntausende Menschen umgebracht wurden, fast unbemerkt von der Welt, die damals auf die serbischen Verbrechen in Bosnien schaute. Ein Land, in dem Schafhirten und Anwälte, Bauern und Menschenrechtler einfach verschwanden. Ein Land, in dem Felsspalten, Holzöfen und Brunnen voller Säure ordentliche Beerdigungen ersetzten. Hier in Südostanatolien, zwischen den Cudi-Bergen und den Ufern des Tigris, liegt diese Landschaft der Hinrichtungen, der Todesschächte, der unbeschränkten Gendarmenherrschaft.

Die Zeit

Die Armee des NATO-Staates Türkei konnte völlig unbehelligt von westlichen Menschenrechtswächtern eine Terrorkampagne entfachen, bei der Massenmorde und Massenvertreibungen ineinandergriffen, um hierdurch eine Fluchtwelle im Südosten des Bürgerkriegslandes zu entfachen. Durch die gezielte Entvölkerung dieser ländlichen Gebiete, die durch staatliche Killerkommandos wie JİTEM betrieben wurde, sollte die kurdische Guerilla der Unterstützung seitens der Bevölkerung beraubt werden.

Mit einem Abstand von zehn Jahren kann somit sogar Die Zeit der Wahrheit auf die Spur kommen: Während die - westliche - Welt damit beschäftigt war, kosovarische Mafiosi der UCK als Freiheitskämpfer aufzubauen und den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien vorzubereiten, konnte die Türkei ihre Terrorkampagne gegen die Kurden ungehindert entfalten, wobei die PKK im Westen zu einer Terrororganisation gestempelt wurde. "Tausende" von Dörfern wurden damals niedergebrannt, erinnerte Zeit-Online im besagten Bericht über die türkische Repressionswelle, die - ähnlich dem Vorgehen der Todesschwadronen bei den Bürgerkriegen in Mittelamerika - genozidale Ansätze aufwies.

Und wieder steigen Rauchsäulen über dem Südosten der Türkei auf. Diesmal legen türkische Militärs Feuer in den Wäldern der Region, um der Guerilla die Deckung zu nehmen, wie Spiegel Online in einer Reportage aus der umkämpften Stadt Cizre im Südosten der Türkei berichtete. Inzwischen ist Schusswaffengebrauch seitens der türkischen "Sicherheitskräfte" zur blutigen täglichen Routine geworden, wie "Einschusslöcher in den Wänden und zerstörte Mauern" bezeugten.

Auch die Praxis staatlicher Morde an kurdischen Zivilisten wurde von den türkischen Sicherheitskräften wieder aufgenommen:

Ein Mann geht eine Straße entlang. Plötzlich sackt er zusammen. Aus seiner Brust quillt Blut. Eine Kugel hat ihn in den Rücken getroffen und seinen Körper durchdrungen. Der Schütze, vermuten Männer, die herbeieilen, ist ein Polizist.

SPON

Die türkischen Polizeieinheiten postieren Scharfschützen in vielen, mehrheitlich von Kurden bewohnten Städten, die mitunter willkürlich das Feuer eröffnen. Allein in Cizre sind binnen eines halben Jahres acht Jugendliche von den Polizeikräften erschossen worden - zumeist bei Solidaritätsdemonstrationen für das nordsyrische Kobane (Massakerpolitik), die zu einem Symbol für den erfolgreichen antifaschistischen Widerstand gegen den Klerikalfaschimus des Islamischen Staates wurde. SPON berichtete von einer solchen extralegalen Hinrichtung durch türkische Polizisten, die den 17-jährigen Schüler Hasan Nerse auf offener Straße erschossen:

Er war vergangenen Mittwoch zu später Stunde mit drei Freunden unterwegs. Sie fuhren mit dem Auto, als Polizisten sie in der Stadt stoppten und zum Aussteigen auffordern. Die Freunde liefen weg, Hasan blieb stehen. Trotzdem eröffneten die Polizisten das Feuer und trafen ihn in beide Knie. Hasan fiel zu Boden, schrie vor Schmerzen. Die Polizisten legten ihm Handschellen an und fesselten seine Füße. "Bist du Kurde oder Türke?", brüllte ihn ein Polizist an. "Kurde", antwortete Hasan. Der Polizist zückte seine Pistole und drückte ab. Eine Kugel traf Hasan in die Brust. Er verblutete.

SPON

Dies ist beileibe kein Einzelfall. Kurdische Medien berichteten über drei tote Einwohner der Stadt Silopi, die bei einer Polizeirazzia ums Leben kamen. Zehn Menschen sollen bei den Polizeiübergriffen durch scharfe Munition verwundet worden sein. Mitunter wurden Fahrzeuge von der Polizei beschossen, die verwundete Bewohner in Krankenhäuser bringen wollten. Die "Sicherheitskräfte" haben mehrere Häuser in der Stadt in Brand gesetzt.

Gefährlicher Moment für die Menschenrechte in der Türkei

Die exzessive Repressionswelle, die von dem kommissarisch regierenden islamistischen AKP-Kabinett und Staatschef Erdogan entfacht wurde, hat inzwischen selbst die US-NGO Human Rights Watch (HRW) zu einer kritischen Stellungnahme veranlasst. Hierin bezeichnete HRW die zunehmenden "Spannungen" als einen "gefährlichen Moment für die Menschenrechte in der Türkei".

Bei der landesweiten staatlichen Verhaftungswelle, die nach dem gegen kurdische und türkische Linke gerichteten Terroranschlag von Suruç initiiert wurde, seien laut HRW hauptsächlich kurdische und türkische Linke verhaftet worden. Eine "kleinere Anzahl" der Verhaftungen richtete sich gegen Sympathisanten des Islamischen Staates, so die NGO. Zudem weise der türkische Staat die Tradition auf, mittels exzessiver Auslegung seiner Anti-Terror-Gesetze auch "friedliche kurdische Aktivisten festzunehmen und sie zu verfolgen, als wären die Mitglieder der verbotenen PKK".

Zudem kritisierte HRW die umfassende Medienblockade des türkischen Staates, die das Recht auf freie Meinungsäußerungen außer Kraft setzte, wie auch die zahlreichen Demonstrationsverbote, die während der Verhaftungswelle gegen die Linke in der Türkei erlassen wurden. Das Massaker von Suruç nutzte der türkische Staatsapparat letztendlich dazu, um zu einem schweren Schlag gegen die türkische und kurdische Linke auszuholen (Schlag gegen die linke Opposition in der Türkei).

Die Militarisierung der Innenpolitik geht somit mit einer raschen Erosion bürgerlich-demokratischer Freiheiten einher, wie etwa an den im Netz kursierenden Videoaufnahmen von einer Massenverhaftung von Bauarbeitern aus der Grenzstadt Gever ersichtlich wird. Mittels der Eskalation soll die bedrohte Machtstellung des türkischen Präsidenten Erdogan gefestigt werden, dessen AKP-Partei bei den jüngsten Wahlen ihre absolute Mehrheit verloren hat. Die New York Times etwa sieht in dieser Kriegsstrategie der türkischen Islamisten einen Versuch, ihre erodierende Machtstellung durch vorgezogene Neuwahlen zu festigen.

Al Nusra scheint derzeit zum bevorzugten terroristischen Kooperationspartner Erdogans avanciert zu sein

Die Präsenz des extremistischen Islamismus in der Region stellt tatsächlich einen neuen Faktor dar, der in dieser Intensität während des "Schmutzigen Krieges" in den 90er Jahren nicht gegeben war. Die Islamisten der Al-Qaida und des Islamischen Staates verschaffen dem türkischen Staatsapparat die Möglichkeit, gemäß dem neoliberalen Zeitgeist eine Art des Outsourcing des antikurdischen Terrors zu betreiben.

Die Kooperation zwischen dem türkischen Staat und dem Islamischen Staat wurde schon vielfach thematisiert - und sie gilt als einer der entscheidenden Faktoren, der die militärischen Erfolge des extremistischen Islamismus in dieser Region erst ermöglichte. Mitunter sollen verwundete Extremisten des Islamischen Staates in türkischen Krankenhäusern medizinisch versorgt worden sein.

Inzwischen scheinen sich die Präferenzen der islamistischen AKP etwas gewandelt zu haben. Nachdem Ankara den USA einen Luftstützpunkt für die Bombenkampagne gegen den Islamischen Staat in Syrien zur Verfügung stellte - und im Gegenzug offensichtlich von Washington grünes Licht für ihre Angriffe gegen die Kurden erhielt -, scheint der syrische Al-Qaida Ableger Al Nusra zum bevorzugten terroristischen Kooperationspartner Erdogans avanciert zu sein.

Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten in Nordsyrien (YPG) berichteten am 8. August auf einer Pressekonferenz über einem skandalösen Vorgang: Türkische Sicherheitskräfte sollen sechs verwundete YPG-Angehörige, die in der Türkei medizinisch versorgt werden sollten, nach Syrien abgeschoben - und den Islamisten der Al Nusra übergeben haben. Die verwundeten syrischen Kurden sollen Berichten zufolge bei der Erstürmung der Zentrale der türkischen Bildungsgewerkschaft in Ankara durch Polizeikräfte Ende Juli festgenommen worden sein, wo sie provisorisch behandelt wurden.

Ibrahim Ayhan, Abgeordneter der linken prokurdischen Partei HDP aus der Provinz Urfa, erklärte gegenüber kurdischen Medien, dass die verletzten syrischen Kurden eigentlich am Grenzübergang zum syrisch-kurdischen Kanton Afrin über die Grenze gebracht werden sollten: "Stattdessen wurden sie der Al-Nusra Front übergeben und somit in den sicheren Tod geschickt", so Ayhan.