Steht die Ukraine wieder vor dem vollen Ausbruch des Kriegs?

Die Kämpfe verstärken sich, finanziell und innenpolitisch versinkt das Land im Chaos, Verschwörungstheorien der Regierung blühen auf

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Die USA werden der Ukraine weitere 500 Millionen US-Dollar Militärhilfe für die Ausbildung von Soldaten geben, wurde gestern von ukrainischen Medien berichtet und von russischen wiederholt. Derweilen gibt es Berichte, dass sich die Kämpfe verstärken, betroffen scheinen vor allem die Gegend um Mariupol und die Umgebung von Donezk wie in Shyrokyne zu sein. Wie üblich werfen sich beide Seiten den Bruch des Waffenstillstands vor, der mehr und mehr nur noch auf dem Papier steht.

Schäden, die die Separatisten durch Beschuss des Dorfes Hranitne bei Mariupol verursacht haben sollen. Bild: Viacheslav Abroskin, Leiter des Direktorats des Innenministerium in der Region Donezk

Nach dem ukrainischen Generalstab würden sich 10.000 russische Soldaten und 30.000 bewaffnete Separatisten in den "Volksrepubliken" befinden. Wieder einmal wird vor einem bald bevorstehenden Angriff gewarnt. Man habe vorrückende Separatisten bei Starohnativka und Marinka in der Umgebung von Donezk zurückgeschlagen und sei wieder bis Novolaspa vorgerückt. Noch sei dies ohne den Einsatz der Luftwaffe geschehen, sagte der Pressesprecher des Generalstabs Vladyslav Selezniov. Und er warnte, das könne in Zukunft anders werden. Man darf allerdings davon ausgehen, dass die Wiederaufnahme des Luftkriegs scharfe Reaktionen in Moskau hervorrufen würde, zudem dürfte damit das Minsker Abkommen endgültig gescheitert sein, womit auch die deutsche und französische Regierung düpiert wären.

Offenbar kämpft der Rechte Sektor weiter an der Front zusammen mit den regulären Truppen. Wegen einer Schießerei in Transkarpatien stehen einige Kämpfer vor Gericht, die vom Rechten Sektor als Helden verklärt werden. Erst einmal waren Rufe laut geworden, nun endgültig den Rechten Sektor zu entwaffnen oder ihn in die regulären Streitkräfte einzugliedern. Obgleich dies bei anderen Milizen auch eher pro forma geschehen ist, um scheinbar das Minsker Abkommen einzuhalten, stemmen sich die Rechtsnationalisten vom Rechten Sektor auch gegen diesen symbolischen Schritt. Sie verlangen, rechtmäßig als selbständige und unabhängige Miliz anerkannt zu werden, rufen eine nationale Revolution aus und versuchen gerade, ein Referendum zustandezubringen, um der Regierung das Misstrauen auszusprechen.

Die Separatisten verweisen auf Artilleriebeschuss seitens der ukrainischen Truppen. Bild: novorussia

Der Rechte Sektor baut inzwischen weitere Einheiten auf und veranstaltet Militärshows, in denen für den Beitritt zur Miliz geworben und die nationale Ideologie propagiert wird. Gerade bedroht der Rechte Sektor die in Odessa geplante Aktion "Odessa Pride". Die LGBT-Veranstaltung vom 14.-16. August stelle eine Provokation angesichts der Kämpfe in der Ostukraine dar. Die Veranstaltung mit einem "Marsch der Gleichheit" könne zu Unruhen führen, wird gewarnt: "Selbst wenn niemand kommt, um zu verhindern, dass das Ereignis stattfindet, werden viele Kriegsveteranen, Ultras und normale Bürger in der Stadt ihre Augen nicht verschließen", so Serhiy Sternenko, der Leiter des Rechten Sektors in Odessa.

Die Demonstration solle nur provozieren, was dann von den russischen Medien berichtet und dazu führen werde, dass weniger Touristen kommen. Da bräuchte sich eigentlich nur der Rechte Sektor zurückhalten. Man werde sich zurückhalten, aber gleichwohl werde die Veranstaltung nicht stattfinden, so Sternenko sybillinisch. Aber es ist klar, dass er Gewalt androht. Am 6. Juni hatten erst Anhänger des Rechten Sektors den "Marsch der Gleichheit" in Kiew angegriffen. Für die militanten Nationalisten in der Ukraine sind Schwule, Lesben und Transgender ähnlich wie für die Rechten in Russland ein Stein des Anstoßes.

Inzwischen ist alles, was nicht im Sinne der ukrainischen Regierung ist, eine russische Provokation. Eine rechtmäßige und anerkannte politische Opposition kann es unter der Einschüchterung auch durch Milizen wie den Rechten Sektor nicht mehr geben, zumal bereits einige oppoisitionelle Politiker und Journalisten getötet wurden, was heißt, dass die Ukraine sich weiter davon entfernt, ein demokratischer Rechtstaat zu sein.

Der ehemalige Übergangspräsident und jetzige Vorsitzende des mächtigen Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats (NSDC) Turtschinow übt sich auch gerade wieder darin, den Konflikt zuzuspitzen, um die Unterstützerländer hinter der Ukraine zu halten. Nach ihm gebe es Informationen, dass die russischen Geheimdienste Provokationen in den "Volksrepubliken" mit hohen Verlusten planen würden. Vermutlich spielt er darauf an, dass gerade Fahrzeuge der OSZE-Beobachtermission in Donezk abgefackelt wurden. Unklar ist allerdings, wer dafür verantwortlich ist. Kiew sagt, die Separatisten wollen die Beobachter vertreiben, um ungehindert handeln zu können, für die Separatisten war es ein Anschlag seitens Kiew. Nach Turrtschinow würden die "blutigen Verbrechen" dann so dargestellt werden, als seien die ukrainischen Streitkräfte dafür verantwortlich, die "auf zahlreiche Provokationen" reagieren würden.

Die Logik ist letztlich, dass durch False-flag-Aktionen die "Terroristen" sich selbst angreifen, um die ukrainischen Streitkräfte international zu diskreditieren und die Aufmerksamkeit davon abzulenken, dass Russland für den Abschuss von MH17 verantwortlich ist. Zudem soll damit Russlands "Aggression" gerechtfertigt werden, während "die Ukraine der Unterstützung der Welt beraubt und international isoliert" werde solle. Die Russen würden, so Tutschninow, der sich damit jeder Glaubwürdigkeit beraubt, sollte er jemals eine beansprucht haben können, provozieren, dass dieselbe Zahl von Zivilisten wie beim Abschuss der MH17 getötet würden. Die russischen Geheimdienste würden "Kindergärten, Ausbildungseinrichtungen, Infrastruktur und andere perfekte Szenarien für künftige terroristische Angriffe auswählen".

Allerdings scheint nicht nur wegen der dramatischen Finanzlage der Ukraine (Showdown vor der Ukraine-Pleite?) ein kritischer Punkt erreicht zu sein. Präsident Poroschenko hat seinen Außenminister Klimkin beauftragt, schnell ein Treffen im Normandie-Format mit den Außenministern von Frankreich, Deutschland und Russland zu arrangieren. Angeblich haben Fabius und Steinmeier zugestimmt, Klimkin hatte auf die sich schnell zuspitzende Lage in der Ostukraine aufmerksam gemacht. Die Frage ist auch, ob die militärische Lage mit dem verlangten Schuldenschnitt verbunden ist.