Oh, erstarktes Deutschland

Ein Plädoyer für eine stärkere weltpolitische Rolle Deutschlands

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In diesen Tagen wird in der Welt sehr viel über das "erstarkte" Deutschland diskutiert und debattiert. Wolfgang Schäuble gilt als die Verkörperung preußischen Führungsstils, Angela Merkel wird als die mächtigste Frau der Welt gekürt und Deutschland als Export- und Fußballweltmeister steht für Effizienz, Disziplin und Tugendhaftigkeit.

Deutschlands Stärke ist unbestritten und an sich nicht neu. Das Neue ist das Auftreten Deutschlands als starke und selbstbewusste Nation, was der Welt durch seine unverrückbare Position in der Griechenlandkrise bewusst wurde. Eine Tendenz zur generellen Erstarkung Deutschlands lässt sich aber nicht erkennen.

Denn der schüchterne Umgang in der NSA-Affäre, die Unbeholfenheit in der Ukrainefrage, die Ahnungslosigkeit in der Nahostkrise und die falsche Bewertung der Flüchtlingsproblematik (deren Lösung eine außenpolitische Angelegenheit ist) zeigen wenig von einem "erstarkten" Deutschland und spiegeln seine chronische Angst vor dem Betreten der Weltbühne als eine große Nation wieder.

Im Schatten des großen Bruders

Jahrzehntelang wurde ein starkes Auftreten Deutschlands auf dieser Bühne nicht angestrebt. Das war nicht mal notwendig. Deutschland hatte sich, wie andere europäische Länder auch, in den Schatten des großen Verbündeten, der USA, gestellt. Die USA haben sich als Schutzmacht und als "großer Bruder" der Europäer verstanden und sowohl im eigenen als auch in deren Interesse Weltpolitik betrieben.

Auch wenn die Interessen nicht immer deckungsgleich waren, konnten sich die Europäer weltpolitisch immer auf den "großen Bruder" verlassen. Das änderte sich mit der Wahl Barak Obama als der vierundvierzigste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.

Nach der Lehman Brothers Krise und der gescheiterten Kriegspolitik seines Vorgängers trat Barak Obama mit dem Ziel an, das Augenmerk auf die inneren Themen Amerikas zu richten (Banken- und Gesundheitsreform, Arbeitsmarkt- und Umweltpolitik). Für Obama stand, zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte der USA, nicht mehr im Vordergrund, die Probleme der Welt zu lösen. Er wollte sich nicht mehr in Konflikte verwickeln lassen oder in die verhasste "Weltpolizistenrolle" schlüpfen.

Dass diese neue Haltung Amerikas katastrophale Folgen für die Welt hat, ist unbestritten: V. Putin hätte die Krim nicht annektiert, der Iran hätte sich nicht getraut, sich in der Region des Mittleren Osten auszudehnen. Der einzige "beachtliche" weltpolitische Erfolg der USA in der Obama Ära ist in dem Erzielen eines Atomabkommens mit dem Iran zu sehen. Obama hatte sich für diese Aufgabe nur deshalb so stark eingesetzt, weil die einzige Alternative dazu ein Krieg mit dem Iran gewesen wäre, was niemand in der westlichen Welt wollte, auch Obama nicht.

Heraus aus dem Geschichtsloch: Engagiertere Entwicklungspolitik

Die Gründe für die deutsche außenpolitische Schüchternheit sind jedem bekannt und vorwiegend in der Geschichte des Landes zu suchen. Das wurde so lange akzeptiert, bis sich der große amerikanische Bruder von der weltpolitischen Bühne zurückzog. Die Zurückhaltung Deutschlands wäre auch weiterhin vertretbar, hätte einer der großen europäischen Partner, wie Frankreich oder Großbritannien, sich getraut, die Lücke, die die Amerikaner hinterlassen haben, mindestens teilweise zu schließen.

Unter diesen Gesichtspunkten hat Deutschland heute gar keine andere Wahl, als aus dem Geschichtsloch herauszukriechen und sich den globalen Herausforderungen wie eine große Nation zu stellen. Die außenpolitische Auferstehung Deutschlands ist keine Option, sondern eine Notwendigkeit - eine in erster Linie innerdeutsche und innereuropäische Notwendigkeit.

Diese lässt sich am Beispiel der Flüchtlingskrise perfekt erläutern: Deutsche Politiker und Medien beschränken sich beim Umgang mit dieser Krise auf die Aspekte Unterbringung, Abschiebung, Integration und Besänftigung aufgebrachter Bürger. Dabei geht die Frage nach der Rolle Deutschlands und Europas im Hinblick auf die Ursachen für die Flüchtlingsströme vollständig verloren.

So wie in der Griechenlandkrise muss Deutschland Europa bei der Gestaltung und Umsetzung einer gesamteuropäischen und effektiven Entwicklungspolitik führen - eine Entwicklungspolitik, die Hungersnöte in Afrika und Asien bekämpft, dort für Bildung sorgt und autoritäre Regime in die Schranken weist. Darüber hinaus ist Deutschland aufgefordert, bei der Lösung der akuten Konflikte im Nahen Osten - aktuell kommen von dort die meisten Flüchtlinge - aktiv mitzuwirken.

Stabilisierung im Nahen Osten

Die Nahostthematik ist vielschichtig und komplex und für die Laien nicht mehr verständlich. Kenner wissen jedoch, dass das Löschen der meisten lokalen Brände in der Region lediglich durch das Lösen eines einzigen und ganz konkreten Konfliktes zu erreichen ist. Die Rede ist von dem Machtkampf der Saudis und der Iraner um die Vorherrschaft in der Region.

Die beiden regionalen Mächte führen seit Jahren verheerende Stellvertreterkriege und messen ihre Kräfte in Syrien, im Irak, im Jemen und im Libanon. In Syrien ist aus dem Diktator al-Assad eine iranische Puppe geworden, die mit dem täglichen Abwurf von mit Sprengstoff und Metallstücken gefüllten Fassbomben auf Städte und Dörfer versucht, das seit viereinhalb Jahren rebellierende Volk zu zähmen.

Dagegen werden die moderaten, aber auch die islamischen Rebellen, die gegen al-Assad kämpfen, von Saudi Arabien unterstützt. Im Jemen kämpfen saudische und jemenitische Regierungstruppen gegen die vom Iran finanzierten und bewaffneten Huthi Rebellen. Der Libanon ist seit dem April 2014 ohne einen Präsidenten, weil die pro-saudischen und die pro-iranischen Kräfte im Parlament unversöhnlich gegenüberstehen und sich gegenseitig blockieren. Und im Irak herrscht Anarchie, die unter anderem auf den iranisch- saudischen Konflikt zurückzuführen ist.

Die Versöhnung zwischen den Saudis und den Iranern würde die Bürgerkriege in Syrien und im Jemen beenden, sie würde zur Stabilisierung des fragilen Staatsgebildes im Irak führen, sie würde dem Libanon einen Präsidenten bescheren und sogar das Ende des IS Kalifats einleiten (was das Zusammenwirken der beiden regionalen Mächte erfordert). Es ist sowieso ein Trugschluss, der Islamische Staat lasse sich lediglich durch Bombardement (mit oder ohne Bodentruppen) vernichten. Das wäre so, als wolle man das Rauchen mit dem Verbot von Aschenbechern bekämpfen.

Es ist keine Frage, dass das Zusammenbringen der beiden regionalen Mächte, Iran und Saudi Arabien, an einen Tisch eine Herkulesaufgabe darstellt. Die Versöhnung dieser Erzfeinde ist schwierig. Auf der anderen Seite hat sich das jahrelange Ringen um ein Atomabkommen mit dem Iran offensichtlich ausgezahlt.

Das Lösen des Atomkonflikts ist der beste Beweis für den großen Nutzen intensiver diplomatischer Bemühungen. Selbstverständlich wäre das Abkommen ohne das Engagement der USA nicht erzielt worden. Dieses Engagement fehlt jedoch im iranisch- saudischen Konflikt. Deutschland und Europa können zudem nicht tatenlos zusehen, wie dieser Elefantenkonflikt die gesamte Mittelmeerregion destabilisiert und Millionen von Flüchtlinge produziert, die alle nach Europa wollen.

Nur, weil die USA die Lösung dieses Konflikts falsch angeht und nicht auf die Tagesordnung setzt. Schließlich stellt der Atlantik ein für Schleuserbanden unüberwindbares Hindernis dar. Die Europäer, an vorderster Stelle Deutschland, müssen die Initiative ergreifen und auf die Abhaltung einer iranisch- saudischen Konferenz, zu dem die USA und Russland eingeladen werden müssen, hinarbeiten, ja sogar drängen.

Die Europäer, insbesondere Deutschland, stehen in der Pflicht zu beweisen, dass sie in der Lage sind, eine aktive Weltpolitik zu betreiben.

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