Wohin führt die "Freiwirtschaftslehre"?

Ist gut, wer Geld am schnellsten ausgibt?

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Ideen der Freiwirtschaftslehre (FWL) von Silvio Gesell (1862-1930) finden immer wieder, wenn auch nicht dominant, unter denjenigen Anklang, die nach Alternativen zum Kapitalismus suchen. Die Auseinandersetzung mit der Freiwirtschaftslehre ist oft von Attacken auf Gesells Antisemitismus und Sozialdarwinismus geprägt. Im Unterschied dazu mache ich die Probleme einiger ökonomischer Essentials dieses Konzepts zum Thema.

Silvio Gesell (1895)

Gesell nimmt eine Überlegenheit des Geldes gegenüber den Waren an. Anbieter von Waren könnten die verderblichen Waren nicht horten. Anders die Besitzer von Geld.

Aus Gold hergestellt, … widersteht es (das Geld - Verf.) siegreich allen Zerstörungskräften der Natur. - Das Gold rostet nicht und fault nicht, es bricht nicht und stirbt nicht. Frost, Hitze, Sonne, Regen, Feuer - nichts kann ihm schaden. Das Geld, das wir aus Gold machen, schützt seinen Besitzer vor jedem Stoffverlust.

Gesell 1991, 188

Der Besitzer des Goldes wird nicht von seinem Eigentum zum Verkauf gedrängt. Er kann warten; freilich verliert er den Zins, solange er wartet. Aber kommt der Zins nicht vielleicht daher, dass der Besitzer des Goldes warten kann?

Gesell, ebd., 189

Die FWL sieht die Hauptprobleme der Wirtschaft in der Zurückhaltung und Hortung des Geldes. Aus diesen Ursachen verringere sich der Austausch und infolgedessen auch die Produktion. In einer affirmativen Darstellung der FWL heißt es:

Der Zins hat seine tiefere Wurzel in der Überlegenheit der Gold-(Geld-)Besitzer gegenüber den Besitzern anderer Waren. Aus dieser Überlegenheit heraus können die Gold-(Geld)-Besitzer von anderen, die auf das Fließen des Goldes (Geldes) im Wirtschaftskreislauf angewiesen sind, einen Zins erpressen. Ist der Zins in ihren Augen nicht attraktiv genug, dann halten sie das Gold (Geld) einfach noch eine Weile länger zurück und warten, bis den anderen die Luft ausgeht und sie bereit sind, einen hinreichend attraktiven Zins zu zahlen.

Senf 2001, 162

Das Rezept: Das private Halten von Geld soll dadurch teuer werden, dass das nicht ausgegebene Geld einer Entwertung unterliegt. Wer sein Geld festhält, hat - dem freiwirtschaftlichen Vorschlag zufolge - infolge dieser veranstalteten Inflation innerhalb eines Jahres ein paar Prozent Wertverlust. Das vorgeschlagene Geld heißt deshalb "Schwundgeld". Wer Geld "parke", also der Zirkulation entziehe, solle eine "Parkgebühr" zahlen oder eine "Geldumlaufsicherungsgebühr" (Senf). Sozial erwünscht verhält sich diesem Konzept zufolge, wer das Geld möglichst schnell ausgibt.

Geld ist nicht unverderblich

Gesells These von der Überlegenheit des Geldes gegenüber den anderen Waren hängt an der Voraussetzung, das Geld sei unverderblich. Diese für die FWL zentrale Annahme bezieht sich auf die naturale Gestalt (Gold, Geldschein). Der "geizige" Hüter seines Geldschatzes muss allerdings in der kapitalistischen Realität erleben, dass das Geld, das der Zirkulation vorenthalten wird, gerade insofern an Wert verliert, als allein durch die "produktive" Anlage des Geldes in Mehrwert produzierende Betriebe der Wert des Geldes erhalten, indem er vermehrt wird. Der gleiche Geldbetrag ist in einer sich an der Verwertung des Kapitals orientierenden, also wachsenden Wirtschaft nach fünf Jahren zwar nominell gleich, real aber schon deshalb weniger wert, da das Vermögen insgesamt gestiegen ist.

Die Vermehrung des abstrakten Reichtums wird im Kapitalismus dadurch praktiziert, dass das Kapital Arbeitskräfte anstellt, sie zum Wert ihrer Arbeitskraft bezahlt und länger arbeiten lässt, als dies erforderlich wäre, um den Wert ihrer Arbeitskraft zu erwirtschaften. Die Gleichheit des Äquivalententausches ist nicht durch den Mehrwert gestört, den der Arbeitende produziert und der dem Kapitalist zufällt.

Der Gebrauchswert der Arbeitskraft, die Arbeit selbst, gehört ebenso wenig ihrem Verkäufer, wie der Gebrauchswert des verkauften Öls dem Ölhändler. … Der Umstand, dass die tägliche Erhaltung der Arbeitskraft nur einen halben Arbeitstag kostet, obgleich die Arbeitskraft einen ganzen Tag wirken, arbeiten kann, dass daher der Wert, den ihr Gebrauch während eines Tags schafft, doppelt so groß ist als ihr eigener Tageswert, ist ein besondres Glück für den Käufer, aber durchaus kein Unrecht gegen den Verkäufer.

Marx, MEW 23, 208

Die Mittel zur Erzielung des Mehrwerts, der auf der Verkürzung der für die Reproduktion der Arbeitskraft aufzuwendenden Arbeitszeit beruht, führen zu eigenen Widersprüchen. Deren Bewältigung zieht wiederum Folgezwänge und -dynamiken nach sich. Wachstum wird im Kapitalismus nötig, um den bei Produktivitätserhöhung relativ vergrößerten Anteil von Technik an den Produktionsfaktoren, die gestiegene Kapitalausstattung des Arbeitsplatzes, zu finanzieren.

Die Produktivitätssteigerung verändert das Gefüge zwischen den verschiedenen, vom Kapital eingesetzten Faktoren. Das Gewicht der Arbeitskraft sinkt und damit sprudelt auch die Quelle des Mehrwerts weniger. Am einzelnen Produkt wird durch Produktivitätssteigerung weniger Mehrwert gewonnen, also müssen mehr Produkte hergestellt werden. Die Nachfrage nach Arbeit müsste absolut zunehmen, weil sie relativ sinkt (Marx, MEW 26.2, 469).

Die FWL erklärt demgegenüber das Wachstum aus dem Machtverhältnis zwischen dem Geldbesitzer als Kreditgeber und der produktiven Wirtschaft. Letztere benötigt (außer bei Eigenfinanzierung) zur Vorfinanzierung von Auslagen und Investitionen, die erst bei Verkauf der gefertigten Produkte sich auszahlen, Kredite. Der FWL zufolge nutzen die Kreditgeber die Abhängigkeit der Kreditnehmer von den Kreditgebern. Jegliche Verzinsung, die der FWL ja als Kernübel des Wirtschaftens gilt, führe per Zinseszins zu einer ständigen Vermehrung des Geldbetrags.