"Die Große Transformation hat gerade erst angefangen"

Fabian Scheidler über die Schranken des kapitalistischen Weltsystems und den Niedergang des mächtigsten und auch gefährlichsten Systems, das die Weltgeschichte je erlebt hat

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Fabian Scheidler, geboren 1968, studierte Geschichte und Philosophie an der Freien Universität Berlin und Theaterregie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt/M. Seit 2001 arbeitet er als freischaffender Autor für Printmedien, Fernsehen, Theater und Oper. 2009 gründete er mit David Goeßmann das unabhängige Fernsehmagazin Kontext TV, das regelmäßig Sendungen zu Fragen globaler Gerechtigkeit produziert. 2009 Otto-Brenner-Medienpreis für kritischen Journalismus. Programmkoordinator für das Attac-Bankentribunal in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (2010). 2015 erschien sein Buch "Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation", das die Wurzeln der Zerstörungskräfte freilegen will, die heute die menschliche Zukunft bedrohen.

Sie verwenden in ihrem Buch für das gegenwärtige kapitalistische Weltsystem das Bild einer riesigen, weltumspannenden Maschine, der titelgebenden Megamaschine. Können Sie diesen Begriff etwas erläutern? Zielt er auf technische Aspekte ab, oder ist es ein Herrschaftsbegriff?

Fabian Scheidler: Megamaschine ist eine Metapher für ein ökonomisches, politisches, militärisches und ideologisches System, das vor etwa 500 Jahren in Europa entstanden ist und sich seither um den ganzen Globus verbreitet hat. Wir wachsen mit dem Mythos auf, dass Europa der Ausgangspunkt von allem Fortschritt ist, dass wir der Welt die Wissenschaft, die Freiheit, die Demokratie, den Wohlstand, die Zivilisation und so weiter gebracht hätten. In meinem Buch geht es ein Stück weit darum, diesen Mythos zu demontieren und zu zeigen, dass die Expansion der Megamaschine von Anfang an mit extremer Gewalt, Ungleichheit und Naturzerstörung verbunden war, und dass viele unserer heutigen globalen Krisen genau aus dieser Dynamik entspringen.

Dieses System ist unter verschiedenen Namen bekannt - kapitalistische Weltwirtschaft, modernes Weltsystem, die "Moderne" usw. Ich benutze die Metapher einer Maschine, weil dieses System teilweise wie eine Maschine zu funktionieren scheint, wenn man sich etwa die internationale Arbeitsteilung anschaut, das Finanzsystem, die globale Energieversorgung, Medien- oder Militärapparate, die ja alle eng miteinander verflochten sind.

Der Kern dieses Systems, sein übergeordnetes Gesetz, ist die endlose Akkumulation von Kapital. Das ist sein Hauptzweck, dem alles andere untergeordnet wird. Mensch und Natur werden dafür benutzt, aus Geld mehr Geld zu machen, und deswegen werden wir tendenziell zu Maschinenrädchen in diesem Getriebe degradiert.

Natürlich darf man die Metapher nicht zu wörtlich nehmen, denn letztlich besteht das System aus Menschen, die sich zwar teilweise wie Maschinenteile verhalten, aber trotzdem nicht aufhören, menschliche Wesen zu sein. Die meisten Lebensbereiche sind zwar von der Macht der Maschine infiziert, aber wir haben auch Freiheiten, ein Leben jenseits der Maschine, und das gilt es zu verteidigen und zu erweitern.

Sind Sie da nicht etwas zu optimistisch? Mir scheint es eher, dass die letzten nichtkapitalistischen Nischen, die letzten Freiräume gerade in der Krise verschwinden. Alles scheint der Verwertungslogik unterworfen zu werden, selbst die Subkultur. Wo sehen sie noch ein "Leben jenseits der Maschine"?

Fabian Scheidler: Der Druck, die Kommerzialisierung, die Ausbeutung, all das nimmt tatsächlich zu. Aber das bleibt auf Dauer nicht ohne Reaktion. Die Geschichte verläuft nicht linear. Schauen Sie nach Südeuropa, da gibt es enormen Aufruhr, neue Subkulturen. Auch in den USA übrigens.

Der Widerstand, der Wille zur Freiheit beginnt ja im Kopf. Und wir können beobachten, wie der Glaube an das System langsam bröckelt, ja teilweise in sich zusammenbricht. Der Lack ist ab, die Leute sehen zunehmend die Gewalt und auch die Sinnlosigkeit dahinter. Damit schwindet ein Stück weit die ideologische Macht, die ja ein wichtiger Teil der Herrschaft ist. Wo das hingeht, ist vollkommen ungewiss, aber die Risse im System werden immer deutlicher.

Verzahnung von Militärstaat und Geldverwertungslogik

Ich fand den langfristigen Ansatz ihres Buches interessant. Sie versuchen, die Genese des gegenwärtigen Systems über einen langen historischen Zeitraum zurückzuverfolgen. Wie weit reichen Ihrer Ansicht nach die "Ursprünge" der "Megamaschine"?

Fabian Scheidler: Die Ursprünge der kapitalistischen Weltwirtschaft reichen bis ins Spätmittelalter zurück. Eine der Keimzellen waren die hoch militarisierten Stadtstaaten Genua und Venedig, die sich damals zu Handelsimperien entwickelten, die von Spanien bis zur Krim reichten. Einen erheblichen Teil ihres Reichtums ging auf Raubzüge zurück. Genua und Venedig etwa finanzierten viele der Kreuzzüge, einschließlich ihrer Massaker, und bekamen dafür als Rendite einen Teil der Beute, Monopole und Militärstützpunkte. Die Handelshäuser gründeten dann Banken, die etwas von diesem erbeuteten Reichtum verliehen, nicht nur an andere Händler sondern auch an Staaten.

Es gibt ja den hartnäckigen Mythos, dass Staat und Markt Gegenspieler seien, dass sich der Kapitalismus aus dem Pioniergeist freier und friedlicher Händler entwickelt hätte, jenseits staatlicher Despotie. Aber Kapital und moderner Staat waren von Anfang an eng verflochten, sie haben sich gemeinsam, ko-evolutionär entwickelt und konnten niemals ohne einander auskommen. Die Kapitalbesitzer brauchten die physische Macht des Staates für ihre gewaltsame Expansion und auch für das Niederschlagen von Widerstand in der Bevölkerung gegen die zunehmende Ausbeutung, der von Anfang an massiv war. Und die Staaten brauchten das Handels- und Finanzkapital, um ihre Söldnerarmeen zu finanzieren.

Der moderne Staat war ja vor allem ein Militär- und Repressionsapparat, und es brauchte enorm viel Geld, um die neuen Armeen mit Hunderttausenden von Soldaten und großen Kanonen aufzubauen, mit denen man die Welt erobern konnte. Diese Verzahnung von Militärstaat und Geldverwertungslogik hat dann die ungeheure Aggressivität des Systems hervorgebracht, die sich durch die gesamte Geschichte der letzten 500 Jahre zieht.

Die Conquista, die gewaltsame Eroberung Mittel- und Südamerikas, etwa wurde von den Banken in Genua, Augsburg und Antwerpen finanziert. Ihr "return on investment" waren die ungeheuren Gold- und Silbermengen, die dort erbeutet wurden und wiederum die europäische Geldökonomie antrieben. Für die Indigenen Amerikas war das Ergebnis der größte Völkermord, den die menschliche Geschichte bis dahin erlebt hatte. Oft waren staatliche und ökonomische Gewalt in denselben Händen konzentriert, zum Beispiel in den frühen Aktiengesellschaften, die über eigene Armeen, ja eine Art eigenen Staatsapparat verfügten und auf den Trümmern der von ihnen eroberten Regionen die modernen Kolonialreiche aufbauten.

Sie gehen ja mitunter noch weiter zurück, bis in das frühe Altertum, um die Entstehung von Macht und Herrschaft darzustellen. Worin besteht den Ihrer Ansicht nach der fundamentale, qualitative Bruch zwischen dem Kapitalismus und den vorherigen Gesellschaftsformationen, dem Altertum oder dem Mittelalter?

Fabian Scheidler: Es gab in der Antike auch schon Marksysteme, die eng mit dem militarisierten Staat zusammenhingen. Eine wichtige Rolle hat dabei die Erfindung des Münzgeldes gespielt, das erstmals dauerhafte, große Söldnerheere ermöglichte und zu einer enormen Kommerzialisierung des Mittelmeerraums geführt hat. Ohne diese Erfindung wäre zum Beispiel das Römische Reich mit seinen riesigen Armeen nicht denkbar gewesen.

Trotzdem unterscheidet sich das moderne Weltsystem in einigen wesentlichen Punkten davon. In der Megamaschine hat sich die Kapitalakkumulation verselbständigt, automatisiert, sie ist zur Institution mit einer Eigenlogik geworden. In Rom gab es zwar auch eine enorme Anhäufung von Reichtum in den Händen Weniger, aber es gab so etwas wie einen stabilen Endpunkt, eine maximale Ausdehnung sowohl des Reichs als auch des Reichtums. Die Stabilität dieses Zustands war oberste politische Priorität. Die Megamaschine aber verlangt nach endloser Expansion, endlosem Wachstum.

Einer der Gründe dafür ist, dass das Verhältnis von Staat und privatem Kapital anders ist. Vereinfacht ausgedrückt konnte der Staat in Rom die Ökonomie autoritär kontrollieren, während in der Moderne die international organisierten Kapitalbesitzer von Anfang an die einzelnen Nationalstaaten vor sich her getrieben haben, in eine irrsinnige Standortkonkurrenz und auch militärische Konkurrenz, was wiederum die Akkumulation enorm angeheizt hat.

Eine Besonderheit der Megamaschine ist auch, dass sie irgendwann begonnen hat, ganz neue Energiequellen zu erschließen, nämlich Kohle und später Öl. Das hat ihr überhaupt die technischen Mittel gegeben, den ganzen Planeten zu beherrschen - und uns das Klimadesaster zu bescheren.

Warum aber ausgerechnet in England ab dem 18. Jahrhundert plötzlich Steinkohle verbrannt wurde, die ja seit der Antike bekannt war, kann man nur aus der Eigendynamik des Systems verstehen. Die Produktion, insbesondere die Metall- und Rüstungsproduktion, stieß damals an energetische Grenzen, die Holzkohle wurde knapp und teuer, und deshalb wurde fieberhaft nach neuen Energiequellen gesucht, um weiter akkumulieren und neue Kanonen bauen zu können. Die Kohle war dafür die Lösung.

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