Vergessenes sozialistisches Computernetz

Sascha Reh über den Versuch, 1972 in Chile die Wirtschaft kybernetisch zu reformieren

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Der Schriftsteller Sascha Reh schildert in seinem Roman Gegen die Zeit den Plan einiger Wissenschaftler, in den frühen Siebziger Jahren mithilfe eines Computernetzes die Produktion einer ganzen Nation - nämlich der Chiles - zu steuern: Die Daten der wichtigsten chilenischen Fabriken sollen dazu zusammengefasst werden, um über diese Vernetzung Engpässe vorauszuberechnen und besser umgehen zu können.

Herr Reh, ist der Plan, die Produktion Chiles über ein kybernetisches System zu leiten, historisch belegt oder Ihrer Phantasie entsprungen?

Sascha Reh: Meine Schilderung des Projekts basiert auf historischen Tatsachen. Es wurde kurz nach der Wahl des Sozialisten Salvador Allende unter dem Namen CyberSyn (für Cybernetic Synergy) von dem britischen Kybernetiker und Unternehmensberater Stafford Beer vorgestellt. Beer, der zum Thema Managementoptimierung durch informationsbasierte Regelkreisläufe bereits mehrere Bücher verfasst hatte, wurde vom damaligen Leiter der chilenischen Wirtschaftsförderungsbehörde, Fernando Flores, der selber Kybernetiker war, nach Chile eingeladen.

Für Beer war das die Gelegenheit, sein Optimierungsmodell nicht nur im denkbar größten Maßstab, nämlich einer ganzen Volkswirtschaft, durchzuführen, sondern auch etwas zu tun, das ihm weitaus sinnvoller erschien als seine Consultingtätigkeit in London.

Beer war mit der Politik Allendes einverstanden?

Sascha Reh: Beer war kein Mitglied einer sozialistischen Partei, aber er war doch ein Anhänger sozialistischer Ideen - und zu diesen gehörte, in Chile einen Beitrag zu leisten, ein unterprivilegiertes Land aus dem imperialistischen Klammergriff der nördlichen Hemisphäre zu befreien, wie es auch Allendes erklärtes Ziel war.

"Eine typische Ausbeutungsgeschichte"

Wie hat es zu dieser Zeit in Chile ausgesehen?

Sascha Reh: Chile war Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts, wie viele andere Staaten auf der Südhalbkugel, ein Entwicklungsland. Obgleich reich an Bodenschätzen - in Chile lagern bis heute vierzig Prozent des Kupfervorkommens der Erde - war es abhängig von Krediten der Weltbank und der reichen Industrienationen und folglich hoffnungslos überschuldet.

Wie in vielen lateinamerikanischen Ländern üblich, wurden die großen Ländereien und Minen von ausländischen, meist US-amerikanischen (beziehungsweise schon damals multinationalen) Unternehmen betrieben, die kaum Steuern an den chilenischen Staat abführten und die gewonnenen Rohstoffe nicht im Land selbst verarbeiteten, so dass über eine Wertschöpfungskette eine Industrie und Arbeitsplätze hätten entstehen können.

Es ist eine typische und schon oft erzählte Ausbeutungsgeschichte: Einige wenige im Land, die besitzende Schicht, kooperierten mit den ausländischen Investoren und waren insofern Nutznießer dieses Systems. Die Arbeiter und Landlosen waren in gewaltigem Ausmaß die Verlierer. Die Hauptstadt Santiago brach bereits damals unter der Landflucht zusammen, riesige Slums, sogenannte Poblaciónes, entstanden am Stadtrand.

"Aufbruch in eine bessere Zukunft"

Waren damals überhaupt die technischen Mittel in dem lateinamerikanischen Land vorhanden, um CyberSyn in die Wege zu setzen?

Sascha Reh: Die Idee, in einem solchen Land, das noch dazu in nordsüdlicher Ausdehnung 4000 Kilometer lang ist, mehrere Klimazonen und Landschaftstypen umfasst - die Atacama-Wüste ist der trockenste Landstrich auf dem Planeten, die Anden ebenso unwirtlich wie der subpolare Süden Chiles - in einem solchen Land also ein nationales Computernetzwerk installieren zu wollen, das die 400 wichtigsten Fabriken im Land mit einem zentralen Rechner in der Hauptstadt Santiago verbindet, in dem wiederum die gesammelten Produktionsdaten nach einem internen Algorithmus miteinander in Beziehung gesetzt und so optimiert wurden, das daraus ein Feedback an die Fabriken errechnet werden konnte, das zu besserer Auslastung und Erträgen führte - diese Idee war nicht nur abenteuerlich, sondern im Grunde vollkommen abwegig.

Es zeigt aber auch, was für eine Zeit da unter Allende angebrochen war: viele Menschen, besonders die Arbeiter und die Studenten, waren vom Aufbruch in eine bessere Zukunft beseelt.

Wie hat das Projekt konkret ausgesehen?

Sascha Reh: Als Beer und Flores das Projekt dem Kabinett vorstellten, stieß es dort anfangs auf Unverständnis und Misstrauen, hatte aber in Allende seinen entscheidenden Fürsprecher. Der chilenische Präsident war Arzt und, ebenso wie Beer, Humanist. Dessen Managementmodell orientierte sich am menschlichen Nervensystem und war somit für Allende gut vorstellbar. Es verfügte über fünf sogenannte Rekursionsebenen, angefangen vom handlungsführenden motorischen Apparat bis hinauf zum steuernden Gehirn. Beers Idee, die zugleich eine genuin kybernetische ist, war die der Selbststeuerung.

Können Sie uns das kurz erläutern?

Sascha Reh: Das klassische und immer wieder angeführte Beispiel für eine kybernetische Selbststeuerung ist der Thermostat: Die Tatsache, dass er die Raumtemperatur konstant halten kann, ist das Ergebnis von Rückkopplung. Wenn die Sonne scheint und der Raum sich zusätzlich aufheizt, melden Sensoren dies dem Thermostat zurück, und er schließt das Ventil der Heizung. Wenn man sich jetzt noch vorstellt, dass der Thermostat mit einer Wetterstation verbunden ist und Temperaturschwankungen antizipieren kann, dann bekommt man eine Ahnung von Beers Vision: Die Schwankungen der Versorgungssituation in Chile so zu stabilisieren, dass ein dynamisches Gleichgewicht, eine Homöostase, entstand.

Mit welchen Hindernissen hatten die Wissenschaftler zu kämpfen?

Sascha Reh: Ihre technische Ausstattung war unzureichend, durch das Wirtschaftsembargo gegen Allende ging ihnen das Geld aus, und um die Kooperation der Fabrikarbeiter warben sie lange vergeblich. Das Team war ja darauf angewiesen, von den Fabriken regelmäßig detaillierte Auslastungs- und Produktionsdaten gemeldet zu bekommen. Diese sollten nach Beers Vorstellungen in einen Computer eingegeben und direkt aus den Fabriken per Telefonleitung nach Santiago geschickt werden. Die chilenische Wirtschaftsförderungsbehörde CORFO verfügte aber nur über zwei Großrechner, in Chile insgesamt gab es nur vier.

Wie hat man dieses Problem gelöst?

Sascha Reh: Die einzige Möglichkeit, Daten zu verschicken, waren somit Fernschreiber, die in ausreichender Zahl zur Verfügung standen und in den weit verzweigten Fabriken überall im Land aufgestellt wurden. Die Daten, die die Fabriken schickten, sollte der Zentralrechner zueinander in Beziehung setzen und in Form von Veränderungsvorschlägen an die Betriebe zurückgeben. Gewissermaßen war die chilenische Wirtschaft ein Haus mit hunderten von Zimmern, die alle über einen eigenen Thermostaten verfügten. Der Zentralrechner hatte die Aufgabe, im ganzen Haus eine angenehme Raumtemperatur herzustellen.

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