Die Mehrklassengesellschaft des Flüchtlingslebens

Bild: Wassilis Aswestopoulos

Eindrücke von der Insel Kos - Schleuser, Helfer und Abzocker

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Unter den Flüchtlingen auf der Mittelmeerinsel Kos herrscht eine Mehrklassengesellschaft. Ganz oben auf der Pyramide stehen die Syrer. Sie werden von den Behörden im Eilverfahren als Asylanten anerkannt. Zudem stammen die meisten von ihnen entweder aus der Oberschicht oder aus der oberen Mittelschicht. Ingenieure, Wirtschaftswissenschaftler, Rechtsanwälte, Ärzte, Apotheker und Philologen finden sich zwar obdachlos, selten aber wirklich mittellos auf der Insel ein.

Es mag seltsam anmuten, in der Hand eines am Straßenrand campierenden Syrers ein iPhone jüngster Generation zu entdecken. Viele haben sogar ihr Tablet über die lange Fluchtroute gerettet. Die Antworten auf vielen Fragen sind denkbar einfach, zeigen aber auch, dass hinter allem eine profitable Systematik steckt.

Die absolute Oberschicht der Syrer kommt nicht per Schlauchboot. Die Super-Reichen des vom Bürgerkrieg geschüttelten Landes chartern sich in Bodrum eine Yacht und setzen standesgemäß über. Sie mieten sich in teuren Hotels ein und kümmern sich nicht wirklich um das Schicksal der übrigen Landsleute. Der Unterschied in der Klassenzugehörigkeit der Flüchtlinge aller Länder vor ihrer Flucht macht sich an allen Ecken und Enden bemerkbar.

Eine abenteuerliche Überfahrt mit Klassenunterschieden

Bemerkenswert ist, dass Afghanen, Pakistani und Afrikaner im westlich von der Stadt Kos gelegenen Gebiet um den Leuchtturm anlegen und meist tief in der Nacht ankommen. Sie benutzen sehr oft nur Ruder, um ihr Schlauchboot voranzutreiben. Zur weiteren Ausstattung zählen Taschenlampen oder elektrische Laternen, die, wie offenbar von den Schleppern beabsichtigt, nach zehn bis dreißig Minuten den Geist aufgeben. Den Bootsinsassen bleibt nicht viel mehr übrig, als verzweifelt auf das Leuchtturmlicht zuzusteuern.

Bild: Wassilis Aswestopoulos

Die Syrer kommen dagegen bevorzugt im Morgengrauen. Die Boote legen im Bereich der Psalidi Beach an. Hier gibt es die Luxushotels mit All Inclusive Service. Für die Syrer bedeutet dies, dass sie am Strand auf sich sonnende Urlauber treffen können.

Sie haben motorisierte, jedoch auch hoffnungslos überladene Schlauchboote. Kein Boot, ob mit Syrern oder anderen Landsleuten gefüllt, kommt auf Kos an, ohne dass mindestens die Hälfte des Innenraums unter Wasser steht. Zudem wird fast immer eine der Luftkammern der Schlauchboote auf ungefähr der Mitte der Wegstrecke, spätestens jedoch in Strandnähe durchlöchert. Damit gelten die Boote als in Seenot befindlich und können von der Küstenwache nicht wieder abgetrieben werden. Die Fahrt dauert per Ruderboot knapp drei Stunden. Bodrum ist von Kos aus leicht erkennbar. In der Nacht sieht man sogar die Lichter der fahrenden Autos, sofern diese Fernlicht einschalten.

Per Motorboot dauert der Trip für die Syrer knapp eine bis anderthalb Stunden. Ein unter normalen Bedingungen fahrendes Fischerboot könnte die ungefähr vier Kilometer dagegen leicht in einer halben bis dreiviertel Stunde bewältigen.

An der Küste haben die Fotografen, abgesehen von den durchnächtigten Arbeitstagen, einen recht simplen Job, wenn es um das Auffinden eines ankommenden syrischen Bootes geht. Die syrischen Boote sind wegen des Lichts des Morgengrauens am Allerleichtesten zu erkennen. Vom Strand aus ist jedes Boot, aber auch das Katz-und-Maus-Spiel der griechischen Küstenwache und der türkischen Schiffe leicht erkennbar.

Oft haben die Türken drei größere Boote im Wasser und auf griechischer Seite steht ihnen ein erheblich kleineres, aber flottes Schnellboot gegenüber. Irgendwann erscheint das winzige Schlauchboot zwischen den türkischen Patrouillenbooten und steuert im Zickzackkurs auf den Strand zu. Dann gilt es für Fotografen und Journalisten, den Strand entlang zu fahren und auf mit Straßenkleidung bekleidete Personen nebst zugehörigem geländegängigem Fahrzeug zu achten. Genau diese Personen geben dem Fahrer des Boots das Zeichen, an welchem Punkt der Küste er anlegen soll.

Bild: Wassilis Aswestopoulos

Die Boote legen an und die Menschen springen ins Wasser. Sie lassen alles zurück, was an die Überfahrt erinnert. Rettungswesten werden achtlos auf den Strand geworfen. Die nasse Kleidung wird gegen trockene Sachen ausgetauscht. Mitgebrachte Kinder werden mit Handtüchern abgetrocknet. Die Syrer streben flugs auf die Strandpromenade und wandern in Richtung Zentrum von Kos Stadt.

Im gleichen Moment tauchen wie Aasgeier Personen auf, welche sich die besten der Schwimmwesten herauspicken. Der Geländewagen wird mit den verwertbaren Materialien des Schlauchboots, oft sogar mit dem leicht beschädigten Boot selbst beladen. Routine im Handeln ist erkennbar.

Dann taucht ein Polizeiwagen auf der Uferstraße auf. Umständlich versuchen die Beamten den Wagen so zu parken, dass er den Verkehr nicht behindert. Sie sind am Ort des Geschehens, wenn die "Aasgeier" ihr Werk vollendet haben. Kommt es einmal zum Zusammentreffen der Sammler und des Lotsen mit der Polizei, dann ist der typische Spruch zu hören: "Das ist aber das letzte Mal, ja? Beim nächsten verhafte ich Euch auf frischer Tat."

Für die Beobachtung eines anlegenden Boots der übrigen Flüchtlinge reicht es, sich in die Nähe des Gebiets des Leuchtturms zu setzen. Fotografen kommen in der tiefen Nacht freilich kaum an gute Bilder, es sei denn sie haben die allerneueste und teuerste Ausrüstung, wie sie zum Beispiel bei Reuters zum Standard zählt.

Die frisch angekommenen Flüchtlinge sind bei Journalisten und Fotografen heiß begehrt. Noch sind die meisten kaum misstrauisch und geben frank und frei Auskunft zu allen möglichen Fragen. Je länger der Aufenthalt dauert, umso feindlicher wird die Einstellung der Flüchtlinge gegenüber der Presse. Mit jedem Tag merken sie, dass sie für nahezu alle anderen Personen auf der Insel entweder ein Ärgernis oder eine Quelle zum Geldverdienen sind.