Ungarn: Militäreinsatz gegen Flüchtlinge?

Neuer umstrittener Gesetzentwurf liegt Parlament vor; chaotische Zustände vor dem Ostbahnhof in Budapest

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Die ungarische Regierungspartei Fidesz legt heute dem Parlament einen Gesetzesentwurf vor, der den Einsatz des Militärs zur Verhinderung von illegalen Grenzübertritten vorsieht. Laut der deutschsprachigen Zeitung Pester Lloyd findet sich darin die Formulierung, dass die Armee "bei Erfordernis Maßnahmen ergreifen kann, die Grenze durch physische Maßnahmen zu schützen und illegale Grenzübertritte zu verhindern".

"Stutzig" macht die Zeitung, dass den Streitkräften mit der Formulierung "physische Maßnahmen" ein Einsatz ermöglicht werde, der über logistische und technische Hilfe, womit der Gesetzesvorschlag offiziell begründet wird, hinausgeht. Die Publikation, bekannt für ihren scharfen kritischen Kurs gegenüber der Regierung Orban, kommentiert die Vorlage als "quasi Kriegsrecht".

Der Begriff "physische Maßnahmen" bedeute den Einsatz von Gewalt, letztlich schicke Orban damit die Armee gegen Flüchtlingsfamilien mit Kindern ins Feld. Der Gesetzesentwurf verstoße gegen die Verfassung, so Pester Lloyd, deren Kommentator "eine Präzedenz für kommende Konflikte im Innern" befürchtet.

Der ungarische Vorstoß verletzt den verfassungsmäßig definierten Auftrag der Landesverteidigung, denn die Flüchtlinge greifen Ungarn ja nicht an. Die Verfassung soll daher geändert werden. Damit aber stellt sich Ungarn außerhalb des Völkerrechts. Soldaten verfügen im Regelfall weder über die Ausbildung, noch über "nicht letale" Mittel, um polizeiliche Aufgaben wahrnehmen zu können. (…) Der Ausschluss des Missbrauchs der Armee als Ersatz- oder Zusatzpolizei hat aber vor allem wichtige konstitutionelle und historische Gründe. Und ist daher - von absoluten Notsituationen abgesehen - verboten.

Angesichts dessen, dass die rechtsradikale Jobbik-Partei dem Gesetzesentwurf positiv gegenüber stehen dürfte, sei eine 2/3-Mehrheit für eine Verfassungsänderung, die einen Notstand durch Masseneinwanderung geltend macht, möglich.

Die Opposition kündigte indessen im Fall einer "Mobilmachung gegen illegale Einwanderer" an, die Regierung vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu verklagen, heißt es. Zitiert wird ein Sprecher von der Demokratischen Koalition, wonach die Koalition aus Fidesz und Jobbik "Krieg gegen Familien führt, die vor Krieg und Terror fliehen". Er unterstellt, dass das Gesetz sogar einen Schießbefehl beinhalte.

Der Fidesz-Fraktionsvize Gulyás wehrt sich gegen den Vorwurf. Die Soldaten sollten "keine tödliche Gewalt an der Grenze ausüben". Er spricht von Wirtschaftsflüchtlingen, die nicht im Interesse Ungarns und Europas seien. Da die EU nicht helfe, müsse Ungarn seine eigenen Regeln schaffen.

"Ventilöffnungen" am Ostbahnhof in Budapest

Tatsächlich waren es aber laut österreichischen und deutschen Berichten hauptsächlich Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten Syrien, Irak und Afghanistan, die gestern und heute von Ungarn aus mit dem Zug über Österreich nach Deutschland kamen. Laut Bundespolizei sollen seit gestern Abend etwa 2.500 Menschen in München und Rosenheim angekommen sein.

Am gestrigen Montag hatte die ungarische Polizei überraschend, wie der österreichische Standard berichtet, auf weitere Kontrollen im Budapester Ostbahnhof verzichtet und "damit tausenden Flüchtlingen ermöglicht, in Zügen Richtung Österreich und Deutschland zu gelangen". Im Wiener Westbahnhof sollen demnach gestern 3.650 Flüchtlinge aus Budapest angekommen sein. Die meisten Flüchtlinge reisen nach Deutschland weiter, heißt es in verschiedenen Berichten, nur wenige würden in Österreich um Asyl ersuchen.

Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof. Bild: F.R.

Heute Morgen wurde der Ostbahnhof in Budapest vorübergehend geschlossen, der Bahnhof sei von Flüchtlingen geräumt worden, die sich nun in Transitzonen aufhalten. Manche von ihnen sind in einen Hungerstreik getreten.

Dass gestern Flüchtlingen am Budapester Ostbahnhof die Weiterreise ermöglicht wurde, weil laut Anwesenden das Chaos nicht mehr zu kontrollieren gewesen sei (die überforderte Polizei nehme "Ventilöffnungen" gegen den Willen der politischen Führung vor, heißt es bei Pester Lloyd - führte zum Streit zwischen ungarischen, österreichischen und deutschen Regierungsvertretern.

Der österreichische Bundeskanzler Faymann wirft den ungarischen Behörden vor, dass sie nicht auf die Dublin- Bestimmungen geachtet habe und die Reisenden nicht entsprechend auf Papiere hin kontrolliert wurden.

Ähnliche Vorwürfe äußerte ein Sprecher des bayerischen Innenministeriums: Ungarn müsse seinen Verpflichtungen zur Registrierung nach dem Dublin-Abkommen nachkommen. "Es kann nicht sein, dass Asylbewerber dort nicht mehr registriert werden." Demgegenüber wurde seitens der ungarischen Regierung Kritik laut, wonach Deutschland den Flüchtlingen Versprechungen mache.

Für kommenden Donnerstag wurde ein Krisentreffen zwischen dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban, dem EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, EU-Ratspräsidenten Donald Tusk und EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz anberaumt.