Von Kalifen und Geheimagenten

In Afghanistan prallen viele Interessen aufeinander. Nun scheinen sie bedroht zu sein - und bringen merkwürdige Allianzen hervor

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Afghanistan ist ein geopolitisches Schlachtfeld, auf dem sich zahlreiche verschiedene Akteure tummeln - seien es nun staatliche oder nicht-staatliche. Neben den Interessen der NATO-Staaten, die nun seit über einem Jahrzehnt am Hindukusch verweilen, prallen im Land vor allem jene der regionalen Mächte aufeinander. Konkret handelt es sich dabei um den Iran, Indien und Pakistan, die ihren Machtbereich ausweiten wollen und deren Geheimdienste und Helfershelfer sich allesamt in Afghanistan finden lassen.

Dass der pakistanische ISI, der vielleicht mysteriöseste Geheimdienst der Welt, sowie der indische Geheimdienst RAW den Stellvertreterkrieg ihrer beiden Staaten vor allem in Afghanistan austragen, ist mittlerweile ein offenes Geheimnis. Abgesehen davon spielt auch China, das es vor allem auf die zahlreichen afghanischen Bodenschätze abgesehen hat, eine signifikante Rolle im Konflikt, indem es zum Beispiel immer wieder als vermeintlicher Mediator zwischen Aufständischen und Regierung auftritt.

Die Interessen all dieser Akteure scheinen nun jedoch gefährdet zu sein. Der Grund hierfür ist das Auftreten von Gruppierungen, die sich zum "Islamischen Staat" (IS) bekennen. Dieser agiert bekanntlich vor allem im Irak und in Syrien. Im afghanisch-pakistanischen Gebiet wird das Vakuum, das der IS in Nahost ausfüllt, hauptsächlich von den Taliban eingenommen. Umso überraschender waren die ersten Meldungen bezüglich diverser IS-Aktivitäten, die Anfang des Jahres erstmals die Runde machten. Nachdem einige der berühmt-berüchtigten schwarzen Flaggen gesichtet wurden, erklärte der afghanische Präsident Ashraf Ghani auf der vergangenen Münchner Sicherheitskonferenz die Existenz des neuen Feindes für offiziell - und wünschte sich damit indirekt eine Fortführung der internationalen Besatzung am Hindukusch.

Für Beobachter war Ghanis Handeln zu voreilig. Beweise für eine Existenz des IS in Afghanistan waren anfangs kaum vorhanden. Mit ein paar Flaggen samt IS-Emblemen vor Kameras posieren, das konnte im Grunde genommen jeder machen. Vielmehr ging man davon aus, dass die afghanische Regierung weiterhin Zugriff auf internationale Hilfsgelder haben will, damit das korrupte System wie gewohnt seinen Lauf nehmen kann. Anfangs wurde sogar der Vorwurf laut, der afghanische Geheimdienst habe den vermeintlichen IS-Ableger selbst geschaffen.

Nachdem die IS-Führung im syrischen Raqqa jedoch reagierte und die "Provinz Khorasan" (Anmerkung: Khorasan ist die islamisch-historische Bezeichnung für ein Gebiet in Zentralasien, was vor allem das heutige Afghanistan umfasst) offiziell anerkannte, wurde die Gefahr ernster genommen - vor allem seitens der Taliban.

Ein Amir zu viel

Die Taliban haben nämlich schon einen Anführer, der den Titel "Amir ul Muminin" (Führer der Gläubigen) trägt. Jenen Titel, den IS-Kalif Abu Bakr al-Baghdadi seit vergangenem Jahr für sich beansprucht. Aus diesem Grund ergab sich eine sofortige Rivalität, die teils auch blutig ausgetragen wurde. Währenddessen wurde jedoch auch deutlich, dass es sich bei vielen afghanischen IS-Symphatisanten um ehemalige Taliban-Kämpfer handelte, die mehr aus Frust agierten. Die Führung im entfernten Syrien hatte hier keinerlei Kontrolle, sondern wollte sich lediglich ein weiteres Mal größer darstellen als sie eigentlich ist.

Nichtsdestotrotz sorgten die schwarzen Flaggen für Unruhe. Immer mehr namhafte Extremisten schworen al-Baghdadi die Treue oder drückten offen ihre Sympathie aus. Unter diesen Personen lässt sich auch Gulbuddin Hekmatyar, Führer der Partei "Hizb-e Islami" ("Islamische Partei"), finden.

Taliban-Kämpfer. Bild: Tribaloost.pk

Hekmatyar gehört zu den berüchtigsten Warlords Afghanistans. Während des Krieges gegen die Sowjet-Besatzung zählten seine Kämpfer zu den schlagfertigsten, weshalb sie tatkräftig vom Westen unterstützt wurden. Während dieser Zeit wurde Hekmatyar in den USA und anderswo, auch in Deutschland, als Held gefeiert und tourte durch zahlreiche Länder. In der Bundesrepublik wurde er unter anderem von CDU-Politikern empfangen. Später, während des afghanischen Bürgerkrieges in den 90er-Jahren, war Hekmatyar Teil der neuen Regierung und gehörte zu jenen, die Kabul in Schutt und Asche legten. Während dieses Zeitraums begingen seine Milizen zahlreiche Massaker an der afghanischen Zivilbevölkerung.

Seit 2001 gilt Hekmatyar offiziell als "Terrorist". Der Grund: Im Gegensatz zu den meisten anderen ehemaligen Mudschaheddin wollte der cholerische Kriegsherr keine gemeinsame Sache mit den Amerikanern im Kampf gegen die Taliban machen. Er erklärte seinen ehemaligen Geldgebern offiziell den Krieg und ist seitdem untergetaucht.

Für die Taliban entwickelten sich die Berichte über IS-Aktivitäten in Afghanistan zum Problem. Die Sorge, dass immer mehr Kämpfer die Seiten wechseln, stieg. Dies liegt vor allem in der Tatsache, dass IS-Kalif al-Baghdadi mehr oder weniger omnipräsent ist, während von Taliban-Chef Mullah Mohammad Omar so gut wie kein Bild existierte, geschweige denn Videoaufnahmen und offizielle Ansprachen. Die Taliban wollten dem entgegenwirken, indem sie die Biografie ihres Anführers in Umlauf brachten sowie zum Ende des Fastenmonats Ramadan eine angebliche Stellungnahme Omars, die zum Frieden aufruft, veröffentlichten.

Vor Kurzem überschlug sich das Geschehen jedoch ein weiteres Mal. Anfangs hieß es seitens anonymer Mitglieder der afghanischen Regierung, Mullah Omar sei schon seit über zwei Jahren tot. Nachdem zahlreiche Medien diese Meldung verbreiteten, meldeten sich paradoxerweise abermals afghanische Regierungsmitglieder und meinten, dass man der Nachricht auf den Grund gehen wolle.

Währenddessen meldeten sich vermeintliche Taliban-Sprecher zu Wort und betonten, dass an der Sache nichts dran sei. Mullah Omar sei am Leben, man wolle lediglich den ansteigenden Erfolg der Taliban stören, hieß es. Letztendlich wurde der Tod Omars jedoch auch von offizieller Taliban-Seite bestätigt.

Der neue Talibanchef Mullah Akhtar Mohammad Mansur. Von den Taliban ausgehändigtes Bild

Fragwürdige Allianzen

Als Nachfolger und neuer "Amir ul Muminin" wurde daraufhin Mullah Akhtar Mohammad Mansur auserwählt. Mansur zählte zu den engsten Vertrauten Omars, während der einstigen Taliban-Regierung war er als Minister für Zivilluftfahrt tätig. Unter den Taliban sorgte das teils für Unstimmigkeiten. So gab Tayyeb Agha, eine der führenden Persönlichkeiten der Gruppierung, kurz darauf seinen Rücktritt bekannt. Agha leitete die diplomatische Anlaufstelle der Taliban in Katar.

Wie tiefgehend die Differenzen zwischen den Taliban sind, lässt sich gegenwärtig schwer abschätzen. Auch die Rolle des IS in Afghanistan bleibt weiterhin fragwürdig. Erst vor Kurzem wurde bekannt, dass die usbekische IMU (Islamic Movement of Uzbekistan), eine radikale Gruppierung, die einst Mullah Omar die Treue schwor, sich dem IS zuwandte und einen Treueeid ablegte, das Ganze jedoch kurz darauf rückgängig machte.

Für die afghanische Regierung sind all diese Aktivitäten Grund genug, um mit ihren autoritären Nachbarstaaten, Usbekistan und Tadschikistan etwa, einen "Kampf gegen den Terror" zu propagieren. Die genannten Staaten, die oftmals vollständig in den Hintergrund der Berichterstattung geraten, nahmen diese Rolle schon kurz nach den Anschlägen des 11. Septembers ein, indem sie den "War on Terror" der USA unterstützten. Dass dieser Terror teils eine Reaktion auf die Politik der postsowjetischen Diktaturen ist, wo regelmäßig Menschen verschwinden und Folter auf der Tagesordnung steht, wird oftmals ignoriert.

Ohnehin haben sich seit Aufkommen des IS nicht nur in Afghanistan die fragwürdigsten Allianzen ergeben. So kämpfen im Irak plötzlich iranische Revolutionsgarden, schiitisch-extremistische Milizen und die US-Luftwaffe auf derselben Seite. Und um den IS in Syrien entgegentreten, hat Ex-CIA-Chef David Petraeus vor Kurzem vorgeschlagen, Kämpfer der Al-Nusra-Front, dem offiziellen Al-Qaida-Ableger in der Region, anzuwerben.

Währenddessen zieht es der Iran in Afghanistan vor, in einem möglichen Kampf mit dem IS auf die Taliban, ihren ehemaligen Erzfeind am Hindukusch, zu setzen. Hierbei sollte man jedoch erwähnen, dass Teheran zu den Taliban ein deutlich besseres Verhältnis pflegt, seit die USA in Afghanistan stationiert sind. Und selbst China meint, sich im Kampf gegen den IS, auf dessen Seite sich unverhältnismäßig viele Uiguren finden lassen, auf irgendeine Seite schlagen zu müssen. Doch im Endeffekt machen all diese Annäherungen und Allianzen ein weiteres Mal deutlich, wie paradox die Politik der genannten Akteure ist und schon immer war. Diese Politik hat nämlich im Endeffekt dazu geführt, dass die genannten Gruppierungen erst überhaupt entstanden sind.