Panik in der Labour-Partei

Gute Chancen, zum neuen Parteivorsitzenden gewählt zu werden, hat der linke Außenseiter Corbyn, der gegen die Austeritätspolitik antritt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die britische Labour-Partei wählt ihren neuen Parteivorsitzenden, am 12. September wird das Ergebnis bekannt gegeben. Der neue Chef soll die Insel-Sozialdemokraten aus dem Stimmungstief führen, in dem sich die Partei seit der Wahlniederlage gegen die Konservativen im vergangenen Mai befindet. Glaubt man den Umfragen von Meinungsinstituten, dann liegt der linke Kandidat Jeremy Corbyn stabil vorne. Dabei sollte genau so etwas durch eine parteiinterne Wahlrechtsreform ausgeschlossen werden.

Diese wurde 2014 beschlossen. Nicht mehr Parteimitglieder, Ortsverbände und Gewerkschaftsstrukturen sollen bestimmen, wer Chef wird. Stattdessen sollten die Tore für die große Welt da draußen geöffnet werden. Mit einem Unkostenbeitrag von drei Pfund ist man als "Unterstützer" der Partei dabei. Die Vorwahlen der Demokraten und der Republikaner zum Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten standen hier Pate.

Mit dieser Reform wollte der ehemalige Parteichef und Wahlverlierer Ed Miliband zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Zum einen wurden mit dieser "Wahlreform" die letzten demokratischen Strukturen innerhalb der Labour-Partei abgeschafft. "Normale" Mitglieder, Ortsverbände oder Parteitage haben keinerlei Einfluss auf die inhaltliche Ausrichtung. Das beschließen Vorstand und Parteizentrale alleine.

Jeremy Corbyn bringt die Taktik der Parteiführung durcheinander. Bild: Global Justice Now/CC-BY-SA-2.0

Der Einfluss der Gewerkschaften ist endgültig neutralisiert

Diese waren gegen Zahlung eines finanziellen Beitrages bis dahin per Kollektivmitgliedschaft mit Labour verknüpft. Besonders die großen Gewerkschaften haben die Verbindung mit Labour auch durch die Jahre der Regierungen Blair und Brown aufrechterhalten. UNITE, die größte britische Gewerkschaft, war die größte Finanziererin des gescheiterten Wahlkampfes von Ed Miliband.

Einflussreichen Kreisen aus Wirtschaft und Finanz war diese Verbindung seit je her ein Dorn im Auge. So schreibt die britische Boulevardpresse regelmäßig gegen die angebliche Einflussname der Gewerkschaften auf die Labour-Partei an. Mit seiner Wahlrechtsreform wollte Miliband dem entgegenwirken und seine Regierungsfähigkeit vor den Augen der City of London beweisen. Der Einfluss der Gewerkschaften wurde auf den von zahnlosen Lobbyorganisationen zurechtgestutzt. Genützt hat ihm das nichts. Fast alle großen Medien forderten vor den letzten Unterhauswahlen im Mai eine konservativ geführte Regierung.

Für die Gewerkschaften wurde die Verbindung mit Labour in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr zur Einbahnstraße. Ihre zentralen Forderungen nach einem Ende von Einsparungen im öffentlichen Dienst, einem Stopp von Privatisierungen und der Rückverstaatlichung der britischen Eisenbahnen wurden von vergangenen Labour-Regierungen geflissentlich ignoriert. Als die Blair-Regierung 2003 in den Irakkrieg zog, demonstrierten hunderttausende Gewerkschaftsmitglieder dagegen. Die Transportarbeitergewerkschaft RMT, Mitbegründerin der Labour-Partei, findet sich heute außerhalb wieder. Gleichfalls die Feuerwehrgewerkschaft FBU.

Parteiführung wurde Opfer ihrer eigenen Propaganda

Geht es nach der Mehrheit der Labour-Parlamentsfraktion im Londoner Unterhaus, dann ist die zentrale Schlussfolgerung aus der Wahlniederlage diese: Labour habe die Stimmung in der Bevölkerung falsch eingeschätzt. Ein gegen Sparpolitik ausgerichteter Wahlkampf sei mit der britischen Bevölkerung nicht zu gewinnen. Die Partei müsse ihre Politik deshalb stärker an die der Konservativen angleichen. Diese Analyse wird auch von Progress, einem rechtslastigen Thinktank der Labour-Partei geteilt.

Drei von vier Kandidaten des Wahlkampfes für den Parteichefsessel teilen diese Analyse: Liz Kendal, Yvette Cooper und Andy Burnham. Zufälligerweise sind alle drei auch Progress-Mitglieder. Jeremy Corbyn sieht es jedoch genau andersrum. Er führt seinen Wahlkampf mit einer klaren linkskeynesianistischen und gegen die Sparpolitik gerichteten Linie. Nur knapp vor Torschluss konnte sein Name überhaupt auf dem Wahlzettel erscheinen. Und das nur, weil er eine Reihe von Nominierungen von Abgeordneten bekam, die mit seiner Politik überhaupt nicht übereinstimmen.

Dahinter steckte taktisches Kalkül. Man hat zwar die Gewerkschaften von allen innerparteilichen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. Doch deren Geld möchte man weiter haben. Deshalb sorgte man dafür, dass mit Corbyn ein Kandidat auf dem Wahlzettel steht, der im weitesten Sinne Forderungen aufstellt, die denen der Gewerkschaften entsprechen. Der Parteiapparat ging gleichzeitig von einer großen Chancenlosigkeit Corbyns aus. So sollte die neoliberale Grundausrichtung der Partei bei fortbestehender Finanzierung durch die Gewerkschaften garantiert werden.

Diesem Kalkül liegt eine fehlerhafte Analyse der Prozesse in der britischen Gesellschaft zugrunde. Der Parteiapparat wurde gewissermaßen Opfer seiner eigenen Propaganda. Denn im Gegensatz zu den Schlussfolgerungen der Parlamentsfraktion lehnt eine Mehrheit der britischen Bevölkerung die Sparpolitik der vergangenen Jahre ab. Diese Ablehnung führte zu zahlreichen Großdemonstrationen, einer Studentenrevolte, gewaltsamen Unruhen in zahlreichen Großstädten und einem Generalstreik im öffentlichen Dienst im Jahr 2012. Weil sich große Teile der schottischen Bevölkerung eine Alternative zur herrschenden Politik wünschen, wurde Schottland im vergangenen Jahr fast ein unabhängiger Staat. Weil Labour in Schottland gemeinsame Sache mit den Konservativen machte, ist die Partei dort als politische Kraft ausgelöscht.

Corbyn tritt für ein Ende der Austeritätspolitik ein

Und jetzt profitiert Corbyn von genau dieser Stimmungslage. Zehntausende haben seine Kundgebungen in den vergangenen Wochen besucht. Aufgrund der Corbyn-Kampagne wird die Wahlbeteiligung viel größer werden als erwartet. Hunderttausende Menschen haben drei Pfund gezahlt und sich registriert. Kurz vor Ablauf der Deadline kollabierten die Rechner in der Londoner Parteizentrale. Sie hielten den Ansturm nicht aus.

Interessanterweise scheint ausgerechnet die Corbyn-Kampagne am meisten von der Wahlrechtsreform zu profitieren. Corbyn war der einzige, der offensiv zum Eintritt in die Labour-Partei aufforderte und auf Grundlage seiner Ideen neue Menschen mobilisieren konnte. Die anderen Kandidaten machten von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch.

Corbyn wird gerne als sozialistischer Hardliner dargestellt. Tatsächlich ist sein Programm recht moderat. Kernstück ist die Einrichtung einer staatlichen Investitionsbank, mit der Infrastrukturmaßnahmen finanziert werden sollen. Außerdem fordert Corbyn die Stopfung von Steuerschlupflöchern. Dadurch will er 120 Milliarden Pfund zusätzlich einnehmen.

Corbyn steht für die Verstaatlichung der Eisenbahnen, für eine Ende des britischen Atomwaffenprogrammes, für Reichensteuern und ja, für ein Ende der Austeritätspolitik. Corbyn fordert nicht die Verstaatlichung des Bankensystems oder der größten britischen Unternehmen. Er hat Sympathien für solche Forderungen. Sie sind aber nicht Teil seines Programms.

Corbyn ist kein Karrierepolitiker. Vor seiner Zeit als Abgeordneter war er Gewerkschaftsaktivist. Im Parlament rebellierte er regelmäßig gegen die Anweisungen seiner Partei. Corbyn stimmte gegen den Irakkrieg und schon vor dem Bankencrash 2008 für eine stärkere Regulierung derselben. Im Gegensatz zu den meisten seiner Parlamentskollegen lebt Corbyn einen bescheidenen Lebensstil. Er gilt nicht als großer Rhetoriker. Aber er sagt, was er denkt. Gegen die Trends der modernen Politik ist sein Wahlkampf auf ein Programm und nicht seine Person fokussiert.