Der Eine unter den Vielen

Das Autoradio und die stille Auflösung des Massenmedialen

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Anfang der 1970er-Jahre verließ das Radio die Wohnungen und wurde mobil. Automobil. Rund 14 Millionen Fahrzeuge soll es damals gegeben haben, etwa 5 Millonen hatten auch Autoradios. Die Medienausstattung war nun so groß, dass die öffentlich-rechtlichen Hörfunkanstalten beginnen konnten, spezielle Angebote für Autofahrer zu entwickeln. Autofahrerwellen.

Doch das Massenmedium Hörfunk konnte sich nur an Massen richten. Der einzelne Fahrer und seine Fahrziele blieben ihm fremd. Und so begannen die Autofahrerwellen, Technik zur Individualisierung einzusetzen.

Mittelwelle und die ersten Autoradios

Autofahren war lange ein medienfreies Vergnügen und für die Orientierung reichte eine Straßenkarte. Das erste Autoradio in Deutschland wurde 1932 auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin gezeigt: Der Autosuper AS 5 von Blaupunkt wog 15 Kilo, wurde in Handarbeit hergestellt, war extrem teuer und ein riesiger Fremdkörper im Auto. Das Radio mit fünf Elektroröhren wurde mit einer Art Fernbedienung gesteuert: Empfang und Sound waren schlecht, Mittelwelle und Langwelle keine idealen Übertragungstechniken.

Vom AS 5 wurden nur 400 Exemplare gebaut. Motor und Medium mussten noch zueinander finden. Aber dazu bedurfte es einer neuen Übertragungstechnik: Ultrakurzwelle, UKW.

Führung und Ultrakurzwelle

Um die Stellungskriege des 1. Weltkrieges zu verhindern, erhielten deutsche Panzer seit 1934 UKW-Empfänger und -Sender. Sie konnten nun durch Funk geleitet werden und mobil bleiben. Die "Blitzkriege" nach 1939 zeigten sehr rasch, wie wirkungsvoll die "Fernsteuerung" (Friedrich Kittler) über Ultrakurzwelle sein konnte. UKW schuf flexible Verkehrsordnungen.

Nach dem 2. Weltkrieg wurde die Ultrakurzwelle für den Hörfunk freigegeben. Die öffentlich-rechtlichen Sender erhielten nach und nach zusätzlich zweite UKW-Programme.

Die ersten UKW-Autoradios kamen auf den Markt und wenig später auch die Autofahrersendungen "Nimm's Gas weg" (BR) oder "Eile mit Weile" (HR). Doch noch kostete jedes angemeldete Autoradio zwei DM Gebühren im Monat.

Radio oder Karten

Es waren die Staumeldungen des Jahres 1963, die die Politik dazu brachten, Auto und Radio, Individualität und Steuerung dichter miteinander zu verzahnen.

Ende 1963 schlug Verkehrsminister Hans-Christoph Seebohm vor, "eine UKW-Funkwelle zu bestimmen, über die die Polizei die Kraftfahrer auf den Autobahnen rechtzeitig vor Stauungen warnen kann". UKW hatte den Stellungskrieg überwunden, nun sollte es auch den Verkehrsstau verhindern.

Doch zunächst kamen nur die regelmäßigen "Meldungen zur Verkehrslage", die große UKW-Führung war vergessen. Seit 1968 ermöglichten Autoradios mit Cassettenrecordern eigene Hörprogramme. Ein Jahr später gab es auch im Auto Stereo.

Die Zeiten, in denen noch vor Radiohören im Kfz gewarnt wurde, waren endgültig vorbei. Immer mehr immer besser ausgerüstete Klangräume rollten durch die Bundesrepublik.

Autofahrerwellen

Es waren die öffentlich-rechtlichen Radioprogramme, die das Autoradio Ende der 1960er-Jahre neu entdeckten. Das Fernsehen hatte den ARD-Hörfunkprogrammen die Hörer genommen.

Doch im Auto gab es diese Konkurrenz nicht. Hier war nur Akustik möglich. Und so bemühte sich die ARD zunächst, im Frequenzbereich 100-104 eine deutschlandweite Autofahrerwelle zu etablieren. Als die Bemühungen scheiterten, entschied sich der Bayerische Rundfunk 1971 zum Alleingang. "Bayern 3 - Die Servicewelle aus München" startete; wenig später folgten "hr3 - Die Servicewelle aus Frankfurt", SWF3 und - mit veränderten Konzepten - die "Informationswellen" NDR 2 und WDR 2.

Serviceradio galt als hochmodern und wurde rasch enorm erfolgreich. Manche sprachen von "Radio-Renaissance".

Zweckorientiertes Wissen

Die neuen Servicesender B3 oder hr3 wollten "zweckorientiertes Wissen" senden und erweiterten deshalb die Bedeutung von Information "spektakulär" (Stefan Kursawe). 1974 sendete hr 3 täglich 82 Verkehrsmeldungen; in der Rushhour im 15-Minuten-Takt.

Anfang der 1980er-Jahre gab es neben Verkehrshinweisen Notrufe, Suchmeldungen, Segelflugwetterberichte und sogar Zuckerrübenbauern-Frostwarnungen. Sage und schreibe 81 Informationssparten wurden in hochgradig standardisierten und serialisierten Sendungen bedient.

Die "Fernsteuerung" der Hörer durch Verkehrsmitteilungen war tief in die modernsten Radioprogramme der Jahre eingeschrieben

Polizei und Verkehrsmeldungen

Mit den Autofahrerwellen etablierten sich neue "Spieler" in der Radioszene: Polizei, Behörden, ADAC; dann kamen Beobachtungsflugzeuge und - 1973 in Hessen - rund 500 Besitzer von Autotelefonen als Staumelder hinzu.

Verkehrsmeldungen prägten die neuen Autofahrerwellen - und veränderten das Verhältnis zwischen Information und Radio, zwischen Behörde und Servicejournalismus tiefgreifend: "Die Radiostation", so hielt Josef Othmar Zöllers Jubiläumsband "B3 - die Bayern 3-Story" (Percha 1981) in großer Deutlichkeit fest, "übernimmt Mittlerfunktion - Informationsquelle ist die Polizei".

Das Serviceradio wurde über weite Stecken "Vermittler im Dienst der zuliefernden Instanz" (Kursawe). Und auch die Unterschiede zwischen Meldung und Anweisung existierten in den Verkehrsnachrichten kaum noch. Imperative, appellative Elemente wurden ein selbstverständlichen Bestandteil: "Überholen Sie nicht!", "Fahren Sie links!", "Fahren Sie zügig an der Unfallstelle vorbei!".

Technische Individualisierungen

Die von Blaupunkt, ADAC und ARD 1974 entwickelte "Autofahrer-Rundfunk-Information" (ARI) ermöglichte durch eine zusätzliche, unhörbare UKW-Kennung, dass das Autoradio die Autofahrersender in allen Regionen automatisch erkennen konnte. Sogar wenn das Radio stumm geschaltet war oder Cassette gehört wurde, schaltete sich der Verkehrsfunk von alleine ein wenn Gefahren vorlagen.

Autoradio und Sender "kommunizierten" erstmals miteinander. Und die Fahrer erhielten Frequenzinformationen, die sich auf ihren Aufenthaltsort bezogen. Im Auto war das Radio nun nicht mehr nur Massenmedium. Doch die Individualisierungsmöglichkeiten über Autoradio und UKW waren beschränkt. Über Senderkennungen und kurze Radiotexte kam auch das Nachfolgesystem RDS (Radio Daten System) nicht hinaus.

Induktionsschleifen

Bereits Ende der 1970er-Jahre versuchte man deshalb neue, UKW-ferne Wege zu gehen, um die Prognosen für den einzelnen Fahrer genauer zu machen. Staus etwa, so konnte man in Josef Othmar Zöllers Geschichte von Bayern 3 nachlesen, sind "in erster Linie ein Informationsproblem". Das war kein Terminus aus Radiodiskussionen mehr. Das war ein Begriff aus den zeitgenössischen Technikdebatten und aus den neuen Sicherheitsdiskursen.

1981 erhielten die UKW-Autoradios erstmals Konkurrenz durch neue Fernsteuerungsgeräte. In einem Pilotprojekt in Nordrhein-Westfalen testeten 400 Probefahrer das "Autofahrer-Leit- und Informationssystem" (ALI). Es wurde von Blaupunkt, Volkswagen und TÜV entwickelt und vom "Bundesministerium für Forschung und Technologie" unterstützt. Erstmals lieferten Induktionsschleifen in der Autobahn ihre Daten in ein "ALI-Gerät" und konnten so die Autos präzise führen.

Durch diese neue Navigationstechnik konnte nun tatsächlich individualisiert "geleitet" werden. Im Hintergrund stand kein General mehr wie bei den durch UKW gesteuerten Panzern, im Hintergrund wirkten Daten und ein Zentralcomputer. Das Projekt scheiterte jedoch an den Kosten einer bundesweiten Verkabelung.

Satellitenortung

Erst das Global Positioning System (GPS) - in den 1970er-Jahren in Militärforschung entstanden - behob die Beschränkungen von Radio und Verkabelung. "Travel Star" hieß eine der ersten Kombinationen aus Radio, Navigationsgerät und CD-Player. Sie kam vom Autoradiospezialisten Becker, passte in jeden Radioschacht und kostete 3000 DM. Es schien, als könnten Radio und Navi, UKW und GPS, Massenmedium und individuelle Fernsteuerung zusammenwachsen.

"Heute", analysierte Christian Vogg von der "European Broadcasting Union", "überwiegt in den Autos (mit Ausnahme von Luxuslimousinen) noch die Ausstattung mit UKW-Radios, die mit Metadaten (RDS) angereichert werden." Doch UKW ist eine alte massenmediale Übertragungstechnik - und manches deutet darauf hin, dass die Autos der Zukunft wieder ohne traditionelles Radio und seine selbst zu Staus gewordenen Verkehrsmeldungen fahren werden. Ein Smartphone reicht aus, um das Fahrzeug direkt und - datengetrieben - sehr präzise fernzusteuern und - den Fahrer zu unterhalten.